Hans Rothfels in Tübingen - Ein Gespräch über die Grundlegung der deutschen Zeitgeschichte

Hans Rothfels in Tübingen - Ein Gespräch über die Grundlegung der deutschen Zeitgeschichte

Organisatoren
Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2006 -
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Von
Julia Eichenberg, SFB 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit; Fernando Esposito, SFB 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit; Frank Reichherzer, SFB 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit.

Hans Rothfels hat wieder Konjunktur. Lange Zeit waren Lebensgeschichte und wissenschaftliches Werk dieses wichtigen Historikers aus der Wahrnehmung der Geschichtswissenschaft verschwunden. Das hat sich geändert. Vor dem Hintergrund zweier Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt1 fand am 30. Januar 2006 im Großen Senat der Eberhard Karls-Universität Tübingen eine Podiumsdiskussion über Hans Rothfels und die Grundlegung der westdeutschen Zeitgeschichte statt. Auf Einladung von Anselm Doering-Manteuffel, Direktor des Seminars für Zeitgeschichte, diskutierten Jan Eckel (Freiburg), Christoph Cornelißen (Kiel), Thomas Etzemüller (Oldenburg), Bernhard Mann (Tübingen) unter der Gesprächsleitung von Mathias Beer (Tübingen).

In seinen einführenden Bemerkungen schilderte Doering-Manteuffel die generationsspezifischen Erfahrungen der "jungen Wilhelminer", zu denen er Rothfels zählte. Ferner wies er auf die Verbindung von Geschichtswissenschaft und Gegenwart hin, die Rothfels als das zentrale Aufgabenfeld des Neuzeithistorikers ansah und zeigte damit die Bedeutung der Geschichtswissenschaft auf, die sie heute für unsere Gesellschaft unabdingbar macht. Aus dem Gegenwartsbezug der Geschichte leitete sich nicht zuletzt die Gründung des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen ab, das 1962 aus dem Zusammenwirken von Rothfels und dem Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg entstand.

Mathias Beer (Tübingen) machte auf die Bedeutung des "Dreiecks Königsberg - Chicago - Tübingen" für die Grundlegung der westdeutschen Zeitgeschichte aufmerksam, die er anhand von Rothfels' programmatischem Aufsatz in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ‚Zeitgeschichte als Aufgabe' erläuterte. Die Aufgaben der Zeitgeschichte, so Rothfels, seien politisch, wissenschaftlich und staatsbürger-bildend. Beer betonte, dass die "Betroffenheit" des Historikers, d.h. seine Zeitgenossenschaft und der Umgang mit dieser, für Rothfels' Definition der Zeitgeschichte eine zentrale Rolle spielte. Rothfels' Biographie könne beispielhaft die Wurzeln der deutschen Zeitgeschichte bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges offenlegen. Es mündeten, so Beer, "historiographisch gesehen, Pregel und Chicago River in den Neckar."

Jan Eckels (Freiburg) Vortrag bildete den Schwerpunkt der Veranstaltung. Er stellte das Wirken nach Rothfels' Rückkehr aus der Emigration in den Mittelpunkt - eine Phase außerordentlicher wissenschaftlicher Produktivität, die der Sechzigjährige in Tübingen entfaltete. Eckel näherte sich Rothfels in drei Schritten, indem er erstens das wissenschaftsorganisatorische Engagement aufzeigte, zweitens sein spezifisches Verständnis von Geschichtsschreibung analysierte und drittens auf die Bedeutung verwies, die Rothfels in der Entwicklung des Fachs nach 1945 einnahm. Eckels pointierter Vortrag machte das staatstragende Selbstverständnis von Rothfels sichtbar und zeigte die integrierende Wirkung des Emigranten für das Fach nach 1945 nachdrücklich. Damit veranschaulichte er den wissenschaftstheoretischen Ansatz einer "intellektuellen Biographie", wie er ihn in seiner Rothfels-Studie ausgeführt hat. Rothfels sah in der Konstellation des Kalten Krieges - dem Gegensatz von westlicher Demokratie und Kommunismus - das Definitionskriterium für die "Epoche" der Zeitgeschichte und dehnte diese zeitlich nach hinten aus, indem er den Ost-West Konflikt mit dem Jahr 1917 beginnen ließ. Auch die Epoche der Französischen Revolution und das Konfessionelle Zeitalter sah Rothfels nach Eckels Deutung durch den antagonistischen Gegensatz ideologischer Lager bestimmt. Eckel wies des weiteren darauf hin, dass solche Art intellektueller Rückprojektion auch Rothfels' historisches Denken und seine Arbeiten in den zwanziger Jahren angesichts der Weltkriegsniederlage und in den Dreißigern vor dem Hintergrund der Nationalitätenproblematik gekennzeichnet hatte.

Christoph Cornelißen (Kiel) würdigte das Lebenswerk von Rothfels, der im fortgeschrittenen Alter einen solchen Neubeginn gewagt, "Leuchtturmaufsätze" zur deutschen Zeitgeschichte verfasst und durch sein universitäres Wirken großen Einfluss auf die deutsche Wissenschaftslandschaft weit über seine eigenen Schüler hinaus entfaltet hatte. Gleichzeitig betonte er aber auch, dass Rothfels zwar zielbewusst seinen Königsberger Denkstil reinterpretierte, jedoch zu keiner Zeit darin selbstkritisch vorging. Cornelißen kritisierte die damit einhergehende Tendenz zu einer retrospektiven Beschönigung.

Einen Blick auf das weitere Umfeld von Rothfels warf Thomas Etzemüller (Oldenburg) mit seinem Kommentar, der sich vor allem auf Werner Conze konzentrierte. Mit Conze gemeinsam habe Rothfels ein "Ordnungsdenken" repräsentiert, welches zentral von den Kategorien einer inneren und äußeren Abgrenzung bestimmt war. Conzes neue Sozialgeschichte seit den 1950er Jahren leitete sich vom social engineering der dreißiger Jahre her und stand in einem unübersehbaren Bezug zur nationalsozialistischen Ostpolitik. Die Anfänge lagen in der Königsberger Zeit der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Hans Rothfels.

Schließlich ergänzte Bernhard Mann (Tübingen), der selbst bei Rothfels promoviert hat, die Diskussion um die Sichtweise des Zeitzeugen. Mann betonte die Bedeutung des universitären Wirkens von Rothfels, wenngleich er bemüht war, sich von der Bezeichnung "Rothfelsianer" zu distanzieren. Hatte bereits Christoph Cornelißen, bei aller Anerkennung für die Arbeit Eckels, eine stärkere Würdigung der menschlichen Leistung von Rothfels angemahnt, so weitete sich diese Kritik bei Bernhard Mann zu einer umfassenden Ablehnung der Dissertation Eckels aus. Das Fehlen der "menschlichen Perspektive" interpretierte Mann als Mangel, ohne den eine wissenschaftliche Biographie nicht bestehen könne. Eckel begründete im Gegenzug seine Vorgehensweise und betonte, dass er eine persönlichere Annäherung an Rothfels weder kritisiere noch den Menschen Rothfels verurteile, sondern sich auf dessen Schriften konzentriert habe und deren Ort im geschichtswissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feld der jeweiligen Epoche analysiere.

Auch wenn die Beiträge der Diskutanten - insbesondere der Gegensatz zwischen geschichtswissenschaftlicher und zeitgenössischer Perspektive - genügend Konfliktpotential sichtbar gemacht hatten, fand dies in der Publikumsdiskussion kaum Entladung. Die Debatte drehte sich hauptsächlich darum, inwiefern Rothfels' Historiographie über die politischen Brüche hinweg staatstragend gewesen sei. Eckels Tenor lautete, dass Wissenschaft im nationalkonservativen Verständnis als Dienst an der Nation verstanden wurde und diese wiederum unabhängig gewesen sei vom aktuellen politischen System.

Die Regungen weiterer ehemaliger Doktoranden von Rothfels häuften sich, und stets wurde ein gewisses Unbehagen an Eckels Darstellung geäußert: Der Mensch Rothfels sei ein anderer gewesen, als jener, der im Buch und im Vortrag des Freiburger Historikers in Erscheinung trete. Das wollte auch Christoph Cornelißen so sehen, indem er darauf hinwies, dass Historiker keine "Mäuse im Labor" seien. Ähnliches sagte Hans Woller, der Eckels imponierende Leistung betonte und sich zugleich fragte, warum die Einschätzung Rothfels' eher negativ ausgefallen sei und er als Person fast konturlos bleibe.

Es zeigte sich, dass die Diskussion vom Zusammentreffen mindestens dreier Historikergenerationen lebte. Jede Generation hatte ein ihr eigenes Bild vom Protagonisten des Fachs gezeichnet, welches zum Teil nur schwer mit jenem der anderen zusammenzubringen war. Gerade dieser Sachverhalt verdeutlichte nochmals, wie sehr die jeweilige Gegenwart das Bild der Vergangenheit prägt. Daher möchte man das Schlusswort des Gastgebers Anselm Doering-Manteuffel tempora mutantur et nos mutamur in illis noch ergänzen: Nicht nur die Zeiten wandeln sich, die Wahrheiten tun es auch.

Anmerkung:
1 Hürter, Johannes; Woller, Hans (Hgg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005; und Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005.


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