K. Heinsohn u.a. (Hrsg.): Belastete Beziehungen

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Titel
Belastete Beziehungen. Studien zur Wirkung von Exil und Remigration auf die Wissenschaften in Deutschland nach 1945


Herausgeber
Heinsohn, Kirsten; Nicolaysen, Rainer
Reihe
Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Wolf, Universität Leipzig

„Belastete[n] Beziehungen“ widmet sich der von Kirsten Heinsohn und Rainer Nicolaysen herausgegebene Sammelband. Gemeint sind Wissenschaftsbeziehungen in Deutschland nach 1945 zwischen Remigranten und sogenannten „Dagebliebenen und Dabeigewesenen“. Es geht dabei weniger um persönliche Beziehungen als vielmehr um die Bedeutung der Wissenschaftsremigration für die jeweiligen Fachdisziplinen. Neben biographischen Gesichtspunkten werden deshalb auch Strukturen und Paradigmen der jeweiligen Disziplin, mithin die Fachgeschichten, in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus schließen sich Heinsohn und Nicolaysen einem transfergeschichtlichen Forschungstrend an, der Exil und Remigration in den Wissenschaften nicht als starre Kategorien betrachtet, sondern nach Zwischenformen und transnationalen Prozessen fragt. Eine solche methodologisch erweiterte Diskursgeschichte haben zuletzt Margrit Seckelmann und Johannes Platz hinsichtlich der Rolle von Remigration für die Staats- und Verwaltungswissenschaft in Deutschland nach 1945 gefordert. Zunehmend äußert sich eine solche erweiterte Perspektive auch in transhistorischen Vergleichen, die neben dem erzwungenen deutschsprachigen Exil während der NS-Zeit andere Phänomene von Flucht, Exil und Rückkehr miteinbeziehen.1

Die Herausgeber:innen legen demnach einen Schwerpunkt auf die Verknüpfung von Exil- und Remigrationsforschung sowie Wissenschaftsgeschichte. Die „prozessorientierte und hybride Betrachtung von Wissensgenerierung“ (S. 13), heißt es in der Einleitung, schließe soziale, politische und kulturelle Bedingungen ein und ermögliche es, die Wissenschaftsremigration insgesamt im Zusammenhang eines „internationalen Wissenstransfer[s]“ (S. 17) zu verorten. Mit der Fokussierung auf transnationale Zusammenhänge von Exil und Remigration soll die verengte nationale Perspektive aufgelöst werden, die sich teilweise in älteren Arbeiten zeige. Dies gelte etwa für die Exilforschung als „Geschichte des Verlustes“ (S. 10), die als solche zwar ihre Legitimität habe, bei der es aber vornehmlich um die Einbußen gehe, die für Wissenschaft und Kultur in Deutschland entstanden seien. Stattdessen gelte es, stärker nach dem transnationalen Wissensaustausch, nach Zwischenformen von Exil und Remigration, nach „Teil-Remigrationen“ (S. 13) zu fragen.

Der Band gliedert sich in drei Teile mit insgesamt 13 Aufsätzen, die größtenteils auf eine 2018 in Hamburg durchgeführte Konferenz zurückgehen. Während der erste Teil den Zusammenhang von Remigration und Wissenschaften unter anderem am Beispiel der Mathematik, der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Naturwissenschaften an der Berliner Universität beleuchtet, nimmt der zweite die Entwicklung der Exilforschung als eine Folge der Remigration in den Blick. Im dritten, mit sieben Beiträgen umfangreichsten Teil geht es schließlich um die „Einflüsse von Remigration auf einzelne Fächer“. Betrachtet werden dort die Literaturwissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik, die Rechtswissenschaft, die Politikwissenschaft und das Gesundheitswesen. Gerade mit den natur- und gesundheitswissenschaftlichen Fächern werden in diesem Band also auch einige mit Bezug auf die Remigration bisher weniger beachtete Disziplinen untersucht.

Mitchell G. Ash betont im ersten Beitrag die Wechselwirkungen zwischen der nicht nur infolge des Nationalsozialismus veränderten Wissenschaftslandschaft in Deutschland und den ins Exil geflüchteten und dort ebenfalls gewandelten Wissenschaftler:innen. Ash ergänzt die Perspektive auf die mehrfach gebrochenen Wissenschaftlerbiografien um systematische Überlegungen zum Wissenschaftswandel, den er nicht als einseitigen Transfer begreift und bei dem die Rolle der Remigration nur eine Variabel unter anderen sei, die es in einer Langzeitperspektive zu kontextualisieren gelte. Während Ash seine grundsätzlichen Überlegungen in sechs programmatischen Thesen zum möglichen Zusammenhang von Wissenschaftswandel und Remigration darlegt, geht es Marita Krauss um die Entstehung transnationaler Wissenschaftseliten im Zuge der erzwungenen Migration, die sie am Beispiel der Mathematik verdeutlicht. Zwar zeige sich an „Einzelschicksalen“ das „Verbrecherische jeder Vertreibung“ (S. 49) – so Krauss in einer merkwürdig relativistischen Wendung, die gerade den Kern des nationalsozialistischen Verbrechens übergeht –, aber im Zuge der „Erfolgsgeschichte der internationalen Wissenschaft“ (ebd.) seien neue Forschungsfelder entstanden, die Internationalisierung und der Wandel in den Disziplinen habe sich beschleunigt. Mit Blick auf die nach 1945 zeitweise in Deutschland wirkenden Wissenschaftler:innen, auf Gastprofessuren und Remigranten-Netzwerke plädiert Krauss dafür, nicht so sehr nach der erfolgten oder gescheiterten Reintegration der Remigranten in die deutsche Wissenschaftslandschaft zu fragen, sondern vielmehr nach ihrer Vorreiterrolle für eine transnationale hybride Wissenschaftskultur.

Andere Beiträge thematisieren dezidiert die Wirkungsmöglichkeiten remigrierter Wissenschaftler:innen. Annette Vogt beispielsweise untersucht, inwiefern die Berliner Universität (ab 1948 Humboldt-Universität zu Berlin) von 1946 bis 1961 vertriebene Wissenschaftler:innen zurückberufen und es dort so etwas wie einen erfolgreichen „‚Elitenaustausch‘“ (S. 81) gegeben habe. Aufgrund der geringen Zahl der Zurückgekehrten verneint sie dies. Dies gelte insbesondere für Naturwissenschaftler:innen, da für sie häufig die Sprachbarriere im Exil niedriger gewesen sei; zum Teil seien sie im Krieg aber auch an classified research beteiligt gewesen, oder die politisch angespannte Lage im besetzten Deutschland habe sie abgeschreckt. Einige der ab 1946 insgesamt mindestens 39 Remigranten der Berliner Universität, darunter sieben Wissenschaftlerinnen (etwa die Kristallphysikerin Katharina Boll-Dornberger), hätten allerdings bleibende Spuren in Forschung und Lehre hinterlassen.

Im zweiten Teil gehen Doerte Bischoff und Sebastian Schirrmeister auf die Entstehungsgeschichte der Exilforschung ein, bei der die Remigration eine zentrale Rolle gespielt habe. Sie betonen die „Produktivität von Transferprozessen“ (S. 116) bei der Etablierung des Forschungsfeldes, das disziplinär nicht leicht einzuordnen sei. Gerade die Anfänge dieses Forschungsfeldes in der Germanistik und der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Exilliteratur, bei der insbesondere solche Exilanten prägend waren, die an der deutschen humanistischen Tradition festhielten, verdeutlichen die Widersprüchlichkeit solcher Prozesse.

Irmela von der Lühe hält im dritten Teil für die Literaturwissenschaft fest, dass die wenigen zurückgekehrten Germanisten sich „kaum als Repräsentanten eines transnationalen Wissensaustauschs verstehen [lassen]“ (S. 194). Von Einzelpersonen gingen zwar wichtige Impulse für methodische und disziplinäre Neuausrichtungen aus, die Wahrnehmung und Rezeption erfolgte allerdings meist sehr rudimentär und verspätet, wie sie eindrucksvoll am Beispiel Käte Hamburgers und Richard Alewyns zeigt. Gleichzeitig ließen sich mit der Fortführung geistes- und ideengeschichtlicher Traditionen aus der Zeit vor 1933 restaurative Momente beobachten, wenngleich diese Traditionszusammenhänge durch die Erfahrung des Exils und des „‚verfremdeten Blick[s]‘“ (S. 182) überdacht und überarbeitet worden seien. Ebensolche restaurativ-konservativen Kontinuitätsbemühungen verdeutlicht Barbara Picht in ihrem Beitrag mit dem Verweis auf Hans Rothfels in den Geschichtswissenschaften – trug Rothfels doch nach der Remigration nicht „Perspektiven und Erfahrungen des Exils in die Bundesrepublik, sondern zur innerdeutschen Selbstverständigung nach dem Ende der NS-Herrschaft bei“ (S. 208).

In den Einzelstudien wird wiederholt nach der Bedeutung und Rolle der Remigranten in einer Langzeitperspektive gefragt. Abgesehen von gelegentlichen Vergleichen mit der Situation in der DDR wird dabei die bundesrepublikanische Fachgeschichte priorisiert. Auch Oliver Römer schaut auf Westdeutschland. Er macht mit Bezug auf die Nachkriegssoziologie die wissenschaftsgeschichtlich akzentuierte Remigrationsforschung dahingehend fruchtbar, dass er die Ablagerungen von Konflikten zwischen den Remigranten und den „Dagebliebenen“ in den wissenschaftlichen Arbeiten selbst sucht. Diese Richtungskämpfe wurden, so seine These am Beispiel von Helmuth Schelsky und René König, in den wissenschaftlichen Debatten „verklausuliert“ (S. 229f.). Derart hätten sie sich, ohne dass es ein Bewusstsein in der Fachgeschichtsschreibung dafür gebe, in die Disziplin als solche eingeschrieben. Dies erkläre – entgegen der Vorstellung, die westdeutsche Soziologie habe sich erst nach 1945 unter dem Einfluss des Exils gegründet – die Kontinuitäten nationalsozialistischer Sozialwissenschaft und bundesrepublikanischer Soziologie.

Das Verdienst des Sammelbandes besteht in der facettenreichen Darstellung sowohl geistes-, sozial- als auch naturwissenschaftlicher Fachgeschichte, wobei noch systematisch zu fragen wäre, wie sich die Prozesse in den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen voneinander unterscheiden. Der Band verdeutlicht überdies die Notwendigkeit, Erfahrungen und biographie- sowie werkgeschichtliche Entwicklungen der Remigranten in ihren jeweiligen Exilländern stärker in die wissenschaftsgeschichtlichen Analysen mit einzubeziehen und damit über die Grenzen nationaler Fachgeschichte hinwegzudenken. Die Beiträge vermitteln vielfach die Widersprüche in der Geschichte der Disziplinen nach 1945, ebenso wie die Gleichzeitigkeit von Restauration und Modernisierung. Daher bleibt die Frage, ob dem zentralen Bruch, den die Judenverfolgung und -ermordung sowie Emigration und Exil infolge des Nationalsozialismus sowohl auf biographischer als auch auf wissenschaftsgeschichtlicher Ebene bedeutete, mit der einleitend und im ersten Teil programmatisch formulierten Perspektive einer transnationalen Erfolgsgeschichte beizukommen ist. Eine solche kritische Reflexion auf die Kategorien, unter denen Exil und Remigration betrachtet werden, bedeutet keineswegs ein Zurückgleiten in Narrative des „nationalen Verlusts“, wie sie in diesem Band zurecht verabschiedet werden.2

Anmerkungen:
1 Margrit Seckelmann / Johannes Platz (Hrsg.), Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer, Bielefeld 2017. Zur transhistorischen Perspektive vgl. Doerte Bischoff / Susanne Komfort-Hein (Hrsg.), Literatur und Exil. Neue Perspektiven, Berlin 2013.
2 Dass die Ablehnung einer solchen an Fortschrittskategorien ausgerichteten Exil- und Remigrationsforschung nicht mit einer verengten nationalen Perspektive einhergehen muss, zeigt sich beispielsweise bei David Kettler, The Liquidation of Exile. Studies in the Intellectual Emigration of the 1930s, London 2011. Ähnliche Kritik an einer Hypostasierung des Exils als Modernisierungsbeschleuniger findet sich auch bei Eckart Goebel / Sigrid Weigel (Hrsg.), „Escape to Life“. German Intellectuals in New York: A Compendium on Exile After 1933, Berlin 2012.