Erinnerungskonkurrenzen "durcharbeiten"? 6. Werkstatt Geschichtsarbeit und historisch-politisches Lernen zum Nationalsozialismus

Erinnerungskonkurrenzen "durcharbeiten"? 6. Werkstatt Geschichtsarbeit und historisch-politisches Lernen zum Nationalsozialismus

Organisatoren
Bildungswerk der Humanistischen Union, Arbeitskreis NS-Gedenkstätten NRW, Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher (mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung NRW)
Ort
Schwerte/Ruhr
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2003 - 15.11.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Reichling (unter Mitarbeit der ModeratorInnen)

Die Tagung stand weitgehend unter dem Thema konkurrierender Erinnerungen und Geschichtsbilder: Einerseits müssen die Staatsverbrechen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts (auch über Europa hinaus) und vielfältige Opfererfahrungen in ein rationales Verhältnis gesetzt werden - andererseits unterliegen solche Vergleiche und theoretischen Integrationsversuche einem weitgehenden Ideologieverdacht, dem der Relativierung des Völkermords und des Entschuldenwollens. Die Veranstalter - Bildungswerk der Humanistischen Union, Arbeitskreis NS-Gedenkstätten NRW, Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher - glaubten, dass auch und gerade dieses brisante Problem bearbeitet werden müsse in dem mit dieser Tagung regelmäßig angebotenen interdisziplinären Austausch zwischen Forschung, Gedenkstätten, Geschichtswerkstätten, StadthistorikerInnen und -archivarInnen, LehrerInnen, Jugendbildung und politischer Erwachsenenbildung.

Lutz Niethammer (Universität Jena) übernahm es, dieses komplexe Feld einleitend zu skizzieren. Er tat dies anhand einer Reflexion der geschichtskulturellen Prozesse der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, die er als unentwirrbares Geflecht von Bildungsarbeit, politischen Skandalen, Medieninszenierungen und Forschung kennzeichnete: Er erinnerte an die nachholenden Anerkennungsprozesse für die Opfergruppen des Nationalsozialismus, die im deutschen Opfer-Selbstmitleids-Diskurs zunächst ignoriert worden waren, an die Ungleichheit der beiden deutschen Diktaturen, die mit der Totalitarismus-Elle gemessen werden, die widerstreitenden Tendenzen einer Hierarchisierung und Erweiterung des Gedenkens. Ganz unterschiedliche Antifaschismen seien nach 1990 zu einem neuen Grundkonsens zusammengeflossen, der sich nun den Herausforderungen eines Generationenwechsels und der "Osterweiterung" der Geschichtsdebatte ausgesetzt sehe. Die in Osteuropa vorherrschenden nationalen Erzählungen und der von historischer Kritik fast gänzlich freie Raum der früheren Sowjetunion könnten sich wohl nur langsam - durch die zögerlich beginnenden Geschichtswettbewerbe und kleinere Memorial-Initiativen etwa - auf das westliche Differenzierungsniveau hin weiterentwickeln. Die aktuellen Kontroversen über Vertreibungen erklärte Niethammer als Folge eines generationellen Erfahrungsraums nach 1968, in dem die früher so dominanten Thematisierungen schlichtweg unbekannt seien; im Dauerverdacht, jeder Blick auf Nahleiden sei Vorwand für die Verkleinerung "deutscher Schuld", sah er ein Hindernis für komplexe Geschichtsbilder, in denen auch ein relativ "kleines Leid" seinen Platz haben müsse.

Dem gegenwärtigen Geschichtsgeschehen - Debatten um Denkmäler, Gedenkstätten, Skandale etc. - attestierte Niethammer eine "staatsverstärkte Engherzigkeit", die die bislang durch Schulen, Wissenschaft, Bürgerinitiativen, Kultur und Kunst produzierte Vielfalt der Annäherungsweisen gefährde. Um die Menschenrechtsorientierung der Bundesrepublik zu stabilisieren, bedürfe es keiner zivilreligiösen Sinnstiftung; die Suche nach präzisen "Lehren" aus den erfahrenen Katastrophen führe auf den sowjetischen Irrweg zurück. Sein Gegenvorschlag: der Opfer eingedenken und zugleich und weitgehend unabhängig davon versuchen, aus den "Taten" und ihrer "Botschaft" zu lernen.

Im Zentrum dieser Tagung standen schon traditionell längere methoden- und praxisorientierte Workshops zu den Arbeitsfeldern und Themen der beteiligten Gruppen. In dem Workshop zum Thema "Flucht und Vertreibung im öffentlichen Gedächtnis" wurden die betreffenden Erinnerungsdiskurse in der Nachkriegszeit zunächst am Beispiel des Kreismuseums Wewelsburg rekonstruiert. Der Referent Wulff E. Brebeck schilderte am örtlichen Detail, wie und in welcher Zeitfolge der verschiedenen Gruppen von Opfern gedacht wurde. Die Historie des Ortes umfasst ehemalige KZ-Häftlinge, Soldaten, Flüchtlinge und Vertriebene. Standen zunächst Flüchtlinge und Vertriebene sowie Soldaten im Fokus der Erinnerung, denen auch Mahnmale und Ausstellungsräume zugedacht wurden, so konnte erst durch die Inszenierung von Skandalen in den 70er Jahren für die Verfolgten und Opfer der NS-Herrschaft öffentliche Aufmerksamkeit geschaffen werden. K. Erik Franzen vom Collegium Carolinum (München) stellte die verschiedenen Phasen der Rezeption des Themas Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik und der DDR dar, resümierte die Diskurse und Forschungen in den mittelosteuropäischen Nachbarländern und skizzierte die gegenwärtige Debatte zu einem Zentrum gegen Vertreibungen, das in Berlin geplant ist. In der Diskussion herrschte eher Skepsis gegenüber dieser Planung und es wurde auf die Berechtigung einer gewissen Sensibilität in Polen und Tschechien verwiesen. Andererseits wurde kritisch auf die Umstände verwiesen, dass es sich hier um Diskussionen über ein Phantom handele, da es noch keine konkreten Entwürfe für dieses Zentrum gebe und außerdem in allen Lagern eine national bornierte Sicht vorherrsche.

Ein Reflexionsworkshop "Familienerzählungen über den Nationalsozialismus und ihre Bedeutung für Geschichtslernen von Jugendlichen und Erwachsenen" befasste sich mit Zielen, Wegen und Ergebnissen des Projekts "Tradierung von Geschichtsbewusstsein". Das 1997-2000 im Psychologischen Institut an der Universität Hannover angesiedelte Projekt hat durch die Veröffentlichung von H. Welzer, S. Moller und K. Tschuggnall "Opa war kein Nazi" starke mediale Aufmerksamkeit erhalten. Die Mitautorin dieser Studie, Sabine Moller, zeigte einen Videofilm, der die Mehrgenerationen-Interviews anregte und machte anhand von Textbeispielen die Art und Weise der Familienerzählungen nachvollziehbar. Im Vordergrund stand die Frage, was von der Großelterngeneration erzählt wird und wie es von den Nachgeborenen im Sinne einer unanstößigen Familiengeschichte gedeutet und weiter gegeben wird. Mit wissenschaftlichem Wissen (dem sog. "Lexikon") hätten die Überlieferungen wenig zu tun, vielmehr seien sie als privates, gegen Wissen geradezu resistentes "Album" zu verstehen.

Die anwesenden PädagogInnen, Gedenkstätten- und MuseumsmitarbeiterInnen trugen mit eigenen Erfahrungsbeständen und mit Überlegungen, welche Bedeutung die Befunde des Projekts für die jeweilige Praxis haben, zum Reflexionsanspruch des Workshops bei. Ein Diskussionsstrang war der pädagogische Umgang mit unterschiedlichsten Zeitzeugen: Es zeigte sich eine Bereitschaft, die privaten Erinnerungen von "Opa und Oma" als Bestandteil bundesdeutscher Diskurse - wobei die ostdeutschen Familien ein spezifisches Kollektiv bilden - wahrzunehmen und sie nicht (nur) als störend in Bezug auf das geschichtliche Wissen zu begreifen. Den Beziehungen zwischen "Album" und "Lexikon" fehlen allerdings noch didaktische Perspektiven. Im letzten Teil stellte Frau Moller erste Hypothesen aus dem auf West- und Osteuropa ausgerichteten Folgeprojekt "Vergleichende Tradierungsforschung" vor.

Auf zwei unterschiedliche Projektansätze richtete sich der Fokus im Workshop "Was bewirken Gedenkstättenfahrten? Konzepte und Erfahrungen", den Alfons Kenkmann (Universität Leipzig) moderierte. Stefan Berger von der Gesamtschule im westfälischen Waltrop skizzierte das langjährig erprobte Programm eines Fachpraktikums in der polnischen Stadt Lublin und der nahe gelegenen Gedenkstätte Majdanek. Auf dem Gelände der Gedenkstätte nutzen die Waltroper Schülerinnen und Schüler regelmäßig Ressourcen des Archivs, um sich anhand von Objekten oder Aktenauszügen mit Opfer- und Täterbiographien auseinander zu setzen. Die Studientage erfordern intensive Vorbereitung und Begleitung, darüber hinaus auf Seiten der Betreuer umfassende Kenntnis örtlicher Gegebenheiten und der Quellenlage. Ausdrücklich unterstrich Stefan Berger die Vielfalt der Recherchemöglichkeiten und die weit gehende Transparenz, die das Team der Gedenkstätte Majdanek gerne für interessierte Klassen schaffe. Unabdingbar sei es, bei einem Rundgang differenzierend über Lageralltag und Hierarchien innerhalb der KZ zu sprechen, habe es doch nicht allein aktive Täter und passive Opfer gegeben; es gelte daher, auch Selbstbehauptung, Widerstand und Solidarität unter den Häftlingen adäquat zu thematisieren.

Vor Ort, im vertrauten Lebensumfeld von Jugendlichen, setzt das Münsteraner Exkursionsangebot "Aus der Geschichte lernen?!" an. Ehe die Teilnehmenden der Gedenkstätte Bergen-Belsen (oder alternativ Buchenwald) begegnen, werden sie zunächst einen Tag lang außerschulisch von Pädagogen, Zeitzeugen und Gleichaltrigen auf den Besuch vorbereitet. Beispielsweise in Form einer Spurensuche, in Rollenspielen und einer Ausgrenzungssituation, die Kleingruppen quasi "unsichtbar" und urplötzlich am eigenen Leibe erleben. Den Architekten des bundesweit ausgeschriebenen Seminarprojektes - darunter die Katholisch-Soziale Akademie Franz Hitze Haus und der Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster - ist primär daran gelegen, Konzentrationslager nicht als "einsame Inseln" des politisch motivierten Verbrechens darzustellen. Vielmehr möchten sie historisch begreifbar werden lassen, wie etwa auch Polizei- und Verwaltungshandeln oder Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungskreise in den Städten und Dörfern Deutschlands zu Entrechtung, Verfolgung und schließlich zur Vernichtungspolitik führen konnten. In der Diskussion betonte Stefan Querl, Mitarbeiter des Geschichtsortes Villa ten Hompel, besonders die Zielvorgabe, in den Seminaren Brückenschläge vom Historischen ins Heute vorzunehmen und stets eine Mischung aus kognitiven wie emotionalen Zugängen anzustreben. So ließen sich oft auch Bildungsferne, Desinteressierte oder gar "demokratisch Distanzierte" aus allen Schulformen erreichen. Im Zentrum stehe, Jugendliche mit ihren Fragen an die Geschichte ernst zu nehmen, auch wenn diese kritisch oder politisch äußerst provozierend seien.

Ein Workshop "Gedenktag-Gestaltung in Schulen und Kommunen" setzte an bei der Verlegenheit, die in der Bundesrepublik etablierten oder kürzlich anberaumten Gedenktage (vor allem den 9. November und den 27. Januar) nicht in erstarrten Ritualen zu begehen, sondern auch solchen Gelegenheiten des offiziellen Gedenkens Lernchancen abzugewinnen. Hilde Jakobs (von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf) analysierte das Spannungsverhältnis zwischen politischer Aufwertung solcher Veranstaltungen und pädagogischem Anspruch - je mehr exponierte Funktionsträger dem Tag die Reverenz erweisen, um so ermüdender die "Protokollfragen". Am Beispiel Düsseldorf schilderte sie, wie es allmählich gelang, durch engagierte Schul- und Jugendgruppen attraktive Beiträge vorzubereiten und einzubringen und ihnen Raum und Aufmerksamkeit zu sichern: szenische Gestaltung von Biographien, Gedenkgänge, Ausstellungen mit Grafiken, Fotos und Gedichten, Videofilme... Ihr Plädoyer lautete: den Blick von den zentralen Gedenktagen hin zu anderen Daten erweitern, auch und gerade auf lokal spezifische Anlässe. Zusätzlich präsentierte sie einen Videobeitrag über das Projekt "Ortungen", in dem Düsseldorfer Schauplätze der NS-Verfolgungsgeschichte, die gegenwärtig durch Überbauung zu verschwinden drohen, erkundet und untersucht wurden. Klaus Dietermann, Lehrer und Aktivist des Aktiven Museums Südwestfalen, und Zipora Duncan, Lehrerin aus Dorsten, fügten dem weitere Erfahrungen hinzu aus der Arbeit mit Grund- und HauptschülerInnen und den kommunalen Öffentlichkeiten. Die Teilnehmer des Workshops diskutierten auf dieser Basis u.a. über die Anteile von Kognition und Empathie, die aktualisierende Ausdeutung von NS-Erfahrungen in pädagogischen Prozessen und die Voraussetzungen erfolgreicher Gedenktags-Gestaltung (Kooperation und Vernetzung, regionalbezogene Quellenpools, Einübung forschenden Lernens).

Außerdem stand am zweiten Veranstaltungstag eine Exkursion nach Lüdenscheid auf dem Programm: Im "Institut für Geschichte und Biographie" der FernUniversität Hagen diskutierten die TeilnehmerInnen mit Dr. Alexander von Plato und Almut Leh über das Profil des Instituts, die Möglichkeiten seines Oral-History-Archivs und die Praxis von Forschungs- und Vermittlungsprojekten am Beispiel der Geschichte des "Speziallagers" Sachsenhausen. Grundlinien und -probleme der mündlichen Geschichtsschreibung kamen dabei ebenso zur Sprache wie die Frage, ob dieser Ansatz im wissenschaftlich-geschichtspolitischen Feld noch eine innovative Zukunft habe.

Eine Projektebörse mit Kurzdarstellungen von Institutionen, Projekten und Produkten gehört ebenfalls zu den (kurzweiligen) Routinen der Werkstatt-Tagungen. In diesem Jahr wurde u.a. über die Neukonzeption der Gedenkstätte Wewelsburg (u.a. als Gesamtdarstellung der SS-Geschichte) und über die geplante Wanderausstellung der Münsteraner Villa ten Hompel "Wieder-gut-gemacht?" berichtet, über ein "euregionales" Geschichtsnetzwerk im deutsch-belgisch-niederländischen Grenzraum und die voraussichtliche Zukunft der NS-Ordensburg Vogelsang im geplanten Nationalpark Eifel. Weitere Themen: "Was kann ein Stadtarchiv zur lokalen Geschichtsarbeit beitragen?", die "Lesekiste" des Aktiven Museums Südwestfalen, das Projekt "Ortungen" aus Düsseldorf (s.o.), die Neukonzeption der ab Januar 2004 zugänglichen Dauerausstellung "Jüdische Lebenswege in Westfalen" des Jüdischen Museums Westfalen (Dorsten) sowie eine typisierende Bestandsaufnahme von Erinnerungsorten in Sachsen, die deren "Lernförderlichkeit", die Internationalität dieser Orte und die Chancen kultureller Beiträge zur Auseinandersetzung in den Blick nimmt.

Der abschließende Vortrag von Gerd Hankel (Hamburger Institut für Sozialforschung) schlug noch einmal die Brücke zu den globalen Diskursen über Verbrechen und ihre "Lehren": Am fernen Beispiel Ruanda, wo der Referent als Berater im Aufarbeitungsprozess des Völkermords von 1994 tätig ist und das zunächst in seinen geschichtlichen Voraussetzungen vorgestellt werden musste, diskutierte Hankel die Ansätze und Dilemmata des "Gedenkens" und einer rechtsförmigen "Bewältigung" in dieser gespaltenen Gesellschaft. Der Rückgriff auf traditionelle Formen der Dorfgerichtsbarkeit sollte das (auch quantitative) Problem von 200.000 Beschuldigten lösen helfen, erweist sich aber als langsamer und der Komplexität der Verbrechen kaum gewachsener Mechanismus: Da auch die politischen Bewältigungsversuche unzureichend bleiben, schloss der Referent für die Zukunft eine Wiederkehr von Gewaltausbrüchen nicht aus.

Etwa 60 Vertreter der "Geschichtslandschaft" Nordrhein-Westfalens und darüber hinaus beteiligten sich aktiv am hier angebotenen Mix aus theoretischer Reflexion, Methoden-Anregung und Austausch. Es bestätigte sich erneut; dass Geschichtskultur immer auch Kommunikationskultur ist und ohne ein oft umwegiges, mit wenig Tabus auskommendes und regel- und methodenbewusstes "Kleinarbeiten" der großen Feuilleton-Kontroversen in den verschiedensten Teilöffentlichkeiten nicht auskommt.

Kontakt

Bildungswerk der Humanistischen Union NRW
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Tel. 0201 - 22 79 82
Fax 0201 - 23 55 05,
Mail: buero@hu-bildungswerk.de


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