Vom 3. bis 7. Mai 2006 fand in Vilnius die internationale Nachwuchstagung zum Thema „Nordosteuropa in Geschichte und Geschichtsschreibung“ statt. Organisiert wurde die Tagung als Kooperationsunternehmen der folgenden Institute: Das Nordost-Institut in Lüneburg (Prof. Dr. Ralph Tuchtenhagen und Dr. Hans-Jürgen Bömelburg), das Herder-Institut in Marburg/Lahn (Dr. Heidi Hein und Dr. Norbert Kersken), das Institut für litauische Geschichte in Vilnius (Prof. Dr. Alyvydas Nikžentaitis und Dr. Darius Staliunas) und die deutsch-litauische Gesellschaft in Berlin. Insgesamt 14 Doktoranden bekamen hier die Gelegenheit, ihre Dissertationsthemen zur Diskussion zu stellen. Der Schwerpunkt dieser Tagung lag klar auf dem Mittelalter und der frühen Neuzeit.
Der erste Tag wurde durch sechs, in der Thematik völlig verschiedene, Vorträge zur mittelalterlichen Geschichte gestaltet. Eingangs hielt Norbert Kersken (Marburg) einen „Impulsvortrag“ über „Kirchen, Orden, Städte, Land, Gemeinschaftsbildung im mittelalterlichen Livland“. Die Herrschaftsbildung funktioniere in (Alt-) Livland nicht etwa über von oben diktierte Bedingungen, sondern über „Konsens und Vertrag zwischen Obrigkeit und bestimmten Gemeinschaften“. Neben dem Erzbistum und den drei Bistümern (samt Domkapiteln) war es der Deutsche Orden, die großen Städte – Riga, Reval und Dorpat – und die Ritterschaft von Harrien und Wierland, die als Gruppen maßgeblichen Einfluss besaßen. Bezeichnenderweise gab es keine Kollegiatsstifte in Livland und nur zwei Zisterzienserklöster (in Dünamünde und Falkenau) auf dem Land. Die Stadt in Livland müsse – nach Otto Gerhard Oexle – auch in Livland als Gruppe von Gruppen betrachtet werden. Besonders der städtische Rat, tradiert durch Lübeck und die Hanse, hat im Gegensatz zu dem Deutschordensstaat in Preußen, eine wichtige Rolle gespielt. Vor diesen innerlivländischen Konflikten hat die patria eine eher geringere Rolle gespielt.
Als nächstes stellte Sébastian Rossignol (Göttingen/Lille) sein Dissertationsprojekt „Die zeitgenössische Wahrnehmung der frühstädtischen Siedlungen im Ostseeraum (9.-11. Jahrhundert) vor. Methodologisch vermeidet er Vermischung mit dem älteren-römischen civitas-Begriff, indem er Städte mit römischer Tradition (Mainz, Köln, Konstanz u.a.) ausklammert. Auf der Tagung hat er besonders historiographisch-hagiographische Quellen herangezogen (Rimbert, Adam von Bremen und Gallus Anonymus), um den Begriff der civitas näher zu untersuchen. Er kam zu dem Schluss, dass man fast chronologisch vorgehen könne – Rimbert habe nur ein krudes Bild einer vorgeschichtlichen Stadt, Adam (indem er diverse Elemente, v.a. kirchliche und verteidigungstechnische, anführt) schon ein wesentlich klareres, während Gallus Anonymus, der schon im frühen 12. Jahrhundert schrieb und aus Nordfrankreich stammte, die polnische Städte relativ präzise beschreiben würde.
Der darauf folgende Beitrag von Linda Kaljundi (Tartu) „Representations of Violence and Affection in the Northern Mission and Crusading. The Emotional History of Europeanisation (Late 10th-early 14th Centuries)“ hat einen allumfassenden und sehr ambitionierten Ansatz. Ausgehend von der Theorie, dass die Wahrnehmung und Repräsentation von Emotionen sich je nach kulturellen und sozialen Hintergrund ändern mag (so schon Febvre 1953), will Frau Kaljundi die Nordeuropäischen Missions- und Kreuzzugsquellen auf diese Fragestellung hin untersuchen und die Resultate anschließend in einen gesamt-europäischen Kontext stellen. Da die Arbeit noch in den Kinderschuhen steckt, konnten soweit noch keine Ergebnisse präsentiert werden.
Henrike Bolte (Berlin) sprach zu dem Thema ihrer Dissertation „Ösel – Dorpat – Kurland. Bistumsbesetzungen zwischen Deutschem Orden, päpstlicher Kurie und lokalen Gewalten im ausgehenden Mittelalter“. Da der Untersuchungszeitraum weit gesteckt ist (1378-1561), stellte Frau Bolte eine Fallstudie vor. Anhand des Beispiels von Johann Schutte, der insgesamt dreimal versuchte Bischof von Ösel zu werden – letztlich gelang es ihm beim dritten Mal (Bischof von 1432-1438) -, zeigte Frau Bolte, wie sehr der jeweilige Kandidat von dem Wohlwollen von Papst, Erzbischof, Deutschen Orden und Kapitel abhängig war.
Als nächstes hatte Grischa Vercamer (Berlin) die Gelegenheit sein Dissertationsprojekt „Siedlungs-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte der Komturei Königsberg (13.-16. Jahrhundert)“ vorzustellen. Nach einer kurzen, allgemeinen Einführung und der Vorstellung des für die Studie erarbeiteten Geographical Information System (GIS), einer Verlinkung von Datenbank und digitaler Karte, wählte auch er ob des großen Bearbeitungshorizonts ein Fallbeispiel, nämlich die brisante Zeit von 1309 (der erste Hochmeister in Preußen) bis 1331 (ständige Verbindung des Marschallamtes mit der Komturei Königsberg). Er konnte begründen, dass der Konflikt zwischen dem Hochmeister und dem 1. Obersten Marschall in Preußen (Heinrich von Plotzke) dazu geführt hat, dass das Amt über 10 Jahre nicht besetzt wurde.
Nun wurde sich mit dem Vortrag von Monika Panter (Malbork/Torun) „Geschichte der Musik in Thorn bis 1600“ den schöngeistigen Themen zugewendet – da die Promovendin zugleich auch Musikerin ist, kann sie die Unterschiede der weltlichen und geistlichen Stücke wesentlich besser beurteilen, als ein reiner Geisteswissenschaftler. Sie trug dementsprechend Tonbeispiele vor. Der Deutsche Orden fungierte in Preußen als wichtiger Impulsgeber und Mäzen. Die Arbeit beschäftigt sich auch mit der Herkunft der Musiker (aus Italien, aus Norddeutschland, aus Preußen selbst), die sich oft als umherziehende Musiker verdingten.
Am Freitag begann die Tagung mit dem Beitrag von Mertit Voore (Tartu), die ihr Thema „Vicarious Pilgrimages in the Late Mediaeval Baltic Sea Region“ näher umriss. Das Phänomen der Strafwallfahrt in Vertretung für jemand anderen, der aufgrund von Krankheit, Alter oder Tod nicht mehr reisen konnte, kam im 13. Jahrhundert auf und war sicherlich nicht als Perversion des Spätmittelalters zu betrachten, sondern als breiter Ausdruck der Frömmigkeit in ganz Europa. Die Stadtarchive (Lübeck, Stralsund usw.) bieten hierfür besonders reiches Quellenmaterial.
Dmitrij Zharin (Fanipol), der einzige Vertreter aus Weißrussland, stellte seine eigentlich schon abgeschlossene Arbeit „Der Handel der Hanse in Nordosteuropa im 13.-15. Jahrhundert“ vor. Sein Vortrag war eher von allgemein einführender Art. Er nannte die Hansemitglieder im Osten (Kaunas, Vilnius, Riga, Polosk, Smolensk, Reval, Witebsk) und zeigte die Rezeptionsgeschichte der Hanse in der weißrussischen Geschichtswissenschaft auf: zwar entstanden im 19. Jahrhundert – besonders in Petersburg – einige Quelleneditionen zur Hanse im Nordosten Europas, aber die weißrussischen Historiker haben die Hanse meist zusammenhängend mit den militärischen Konflikten mit dem Deutschen Orden betrachtet. Jedenfalls baut die Arbeit auf einigen unpublizierten Akten aus Minsk auf, die allerdings in der anschließenden Diskussion nicht näher erläutert werden konnten.
Anschließend berichtete der aus Vilnius kommende Archäologe Povilas Blaževičius von seinem Projekt „Spiele im ostbaltischen Raum zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert“. Die archäologische Fundpräsentation (eine Katalogaufnahme) der Spielsachen aus Litauen bildet die Grundlage für weiterführende Fragen nach Herkunft der Spielsachen bzw. die Limitation besonderer Spielsachen (z.B. Schach) auf bestimmte soziale Schichten. In der Diskussion schien es aber, als ob einzig die Schachfiguren mit ihrem Formenreichtum eine Herkunftsbestimmung ermöglichen. Die Frage, ob Kinder im Mittelalter spielten, um auf das Erwachsenenleben vorbereitet zu werden, oder eher um des Spielens selbst willen, kann wohl nicht über die Archäologie, sondern eher über bildliche oder schriftliche Quellen beantwortet werden.
Ralph Tuchtenhagen (Hamburg) gab den einleitenden Vortrag für die Neuzeitsektion. Der Titel „Soziale und kulturelle Aspekte des frühneuzeitlichen Ostseeraums“ war Programm und so erfolgte eine ‚Tour de raison’ durch die neuzeitliche Geschichte der Ostseeanrainerstaaten. Besonders wurde die These der Ostsee als das „mare clausum“ der protestantischen Länder, sowie die These, dass die kleine Eiszeit den demographischen Faktor in der frühen Neuzeit erheblich beeinflusst und somit erheblich zu den Konflikten (von Klaus Zernack das Zeitalter der nordischen Kriege genannt) im Ostseeraum beigetragen hat, behandelt.
Die nächste Doktorandin, Anna Ziemlewska (Torun), trug zum Thema „Riga im polnisch-litauischen Staat (1581-1621)“ vor. Diese Phase der Stadtgeschichte wurde bisher recht stiefmütterlich behandelt und stellt daher ein Forschungsdesiderat dar. Frau Ziemlewska betrachtet die Stadtgeschichte im Spiegel der Außenpolitik – besonders zur polnisch-litauischen Adelsrepublik. Die deutsche Geschichtswissenschaft betrachtete Riga in dieser Phase als freie Reichsstadt, während die polnische Geschichtswissenschaft Riga seit 1561 (Unterwerfung von dem letzten Landmeister von Livland und dem Erzbischof von Riga) als polnische Stadt sah. Der Vertrag mit Stephan Báthory führte zu besonders religiös motivierten Konflikten in der Stadt (Kalendarunruhen waren nur Ausdruck der allgemeinen Ablehnung der Jesuiten in der Stadt).
Stefan Donecker (Florenz) zeigte in seinem Vortrag „Ursprung und Wanderungen der „undeutschen“ Livländer im Geschichtsverständnis“, dass die intellektuelle Umwelt auf eine „vermeintliche Völkerwanderungswelle im 16./17. Jahrhundert“ reagierte, indem sie die Herkunft dieser Völker zu ergründen versuchten. Verschiedene Migrationsmodelle liefen hier nebeneinander (Herkunft aus Italien, aus dem Nahen Osten von den Juden oder von germanischen Völkern) und trugen zur Legitimation der Livländer bei. In der anschließenden Diskussion wurde berechtigterweise angemerkt, dass die Herkunftsdeutung nichts spezifisch Neuzeitliches sei, sondern schon in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zur Legitimation der jeweiligen Völker diente.
Izabela Bogdan (Posen) trug aus ihrer Arbeit zur „Gelegenheitskomposition in Königsberg“ vor. Das 16. Jahrhundert war in Königsberg durch Komponisten wie Johannes Stobaeus und Johannes Eccard geprägt. Sie verfassten zu bestimmten Anlässen (Hochzeit, Begräbnissen u.ä.) sogenannte Gelegenheitsmusiken. Als Teilergebnis ihrer weit vorangeschrittenen Dissertation kann der Nachweis gesehen werden, dass die Polychoralität, die aus Italien kommend an polnischen Höfen rezipiert wurde, nun auch für Königsberg bewiesen ist.
Am letzten Konferenztag startete Rita Urbaitytė (Kaunas) mit einem Vortrag über „The formation of the system of mass communication in the Great Duchy of Lithuania in the first half of 18th century“. Aufgrund von besonderen Quellen in Warschau (die bisher unerforschte Sammlung der handgeschriebenen Zeitungen der Radziwills aus dem 18. Jahrhundert – insgesamt ca. 5200 Stücke) kann sie umfassende Fragen an das Material stellen: Welche Informationen gelangten aus dem Westen nach Litauen? Über welche Wege gelangten die Zeitungen zu ihrem Bestimmungsort? Wie veränderte die Lektüre die Attitüde der litauischen Adelsgesellschaft?
Den zweiten Vortrag an diesem Tag hatte Kriniste Ante (Riga) zu dem Thema „Conversions in Courland’s Province in the second Half of the 19th Century. Legislation and Practise“. Seit 1795 war das Kurland russisch und daher war die protestantische und katholische Gemeinde dort unter Druck (viele polnische Priester wurden durch die russische Polizei überwacht). Konversion war generell möglich, jedoch war es verboten – einmal zum russisch-orthodoxen Glaubensbekenntnis gewechselt – zu rekonvertieren. Die Motivation zur Konversion steht im Mittelpunkt der Arbeit. Meist entschieden die Familienverhältnisse über das jeweilige Glaubensbekenntnis.
Die nächste Vortragende, Rasa Parpuca (Riga), schnitt das heikle Thema „Das Problem der baltischen Kulturgüter im Kontext der Umsiedlung der Deutschbalten“ an. Viele der Güter, die die Deutschbalten bei ihrer Umsiedlung aus dem Baltikum nach Polen mitnahmen (aus Lettland ca. 13 000 Exponate), verblieben nach 1945 in Polen und befinden sich heute in polnischen Museen oder Bibliotheken. Es soll zunächst ein Inventarisierungskatalog erstellt werden, der festhält, wo die jeweiligen Exponate sich heute befinden, um anschließend die Einbindung in nationale und übernationale Prozesse (Stichwort: Gehören die Güter nach Lettland zurück, obgleich die Deutschbalten dort nicht mehr leben?) zu leisten.
Der letzte Vortrag „Herrenhäuser ohne Herren? Geschichtsorte im ostelbischem Raum 1945-1990“ wurde von Herle Forbrich (Berlin) erbracht. Im Zentrum ihres Dissertationsvorhabens steht die These, dass die Herrenhäuser im brandenburgischen Raum - nach der ersten, ideologisch motivierten, Vertreibung der ehemaligen Besitzer nach 1945 – einen Umnutzungsprozess durchliefen, der sie meist fest in die jeweilige dörfliche oder kleinstädtische Gemeinschaft einpflanzte. Es entstanden Kindergärten, Kulturzentren, LPG-Gebäude u.ä. Die Arbeit will diese Phase, die nach 1990 mit der Privatisierung vieler Herrenhäuser endete, in einem neutralen Licht neu betrachten und interpretieren. In der Disskussion kamen aber Zweifel auf, ob man bei Herrenhäusern von Geschichtsorten reden dürfe?
Damit endete die Konferenz. Die Organisatoren sorgten ihrerseits für eine produktive, teils provokative, aber entspannte Arbeitsatmosphäre und standen jederzeit für Einzelgespräche über spezielle Forschungsfragen zu Verfügung. Nicht zuletzt soll der Tagungsort hervorgehoben werden: Viele Teilnehmer bekamen erstmals die Chance, ihr Arbeitsgebiet vor Ort etwas näher kennen zu lernen. In der abschließenden Diskussion wurde aber zu Recht kritisiert, dass bei solchen Tagungen auch die wissenschaftlichen Institute (Archive, Bibliotheken etc.) in Vilnius vorgestellt werden könnten, da die meisten Nachwuchswissenschaftler kein Litauisch sprechen.
Zuletzt soll noch die Internationalität der Tagung hervorgehoben werden. Die Organisatoren haben offensichtlich auf eine Ausgewogenheit der Nachwuchswissenschafter vor allem aus den Ländern Estland, Lettland, Litauen, Polen und Deutschland geachtet, wobei leider aus dem Kaliningrader Gebiet und auch aus den Skandinavischen Ländern keine Vertreter kamen. Der rege und unbeschwerte Austausch unter den Teilnehmern der genannten Länder (Deutsch, Englisch und in geringerem Maße Polnisch waren dabei die linguae francae) ist sicher als zweiter (und nicht unbedeutender) Erfolg der Tagung zu sehen, da die Forschungslandschaft im Nordosten Europas durch die Kleinteiligkeit der Ostseeanrainerstaaten, durch die wechselhafte Geschichte der Großregion und die teils verwirrende Archivsituation (was lagert wo?) für den Einzelnen schlecht überschaubar ist. Zumindest für diese Tagung kann dann konstatiert werden, dass es sich generell eher um den Ostseeraum handelte, als um den Nordosten Europas. Es wäre aber zu überlegen, ob man diese Orientierung nicht für die künftigen Tagungen sogar beibehält, da dieser Ostseeraum doch in allen Perioden durch gemeinsame, zusammenhängende Bezüge hervortritt, während das nicht so sehr für den Nordosten Europas gilt. 1
Anmerkung:
1 Zumal Polen und Balten den erst 1977 von Klaus Zernack initiierten Terminus nicht verwenden, hierzu: Roth, Harald u.a. (Hgg.), Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Köln 1999, S. 73-80.