Hannah Arendt weitergedacht – Ein Symposium zum 100. Geburtstag der Namensgeberin des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung

Hannah Arendt weitergedacht – Ein Symposium zum 100. Geburtstag der Namensgeberin des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung

Organisatoren
Lothar Fritze; Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.09.2006 - 23.09.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Eik Welker/Sebastian Koch

Aus Anlass des 100. Geburtstages seiner Namensgeberin lud das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler und Philosophen nach Dresden ein, um gemeinsam Aspekte des Werkes Hannah Arendts kritisch zu reflektieren und den wissenschaftlichen Ertrag ihres Denkens für die Gegenwart auszuloten.

Der Organisator der Tagung, der am Hannah-Arendt-Institut wirkende Politikwissenschaftler Lothar Fritze, betonte eingangs die Bedeutung Hannah Arendts für die Totalitarismusforschung. Mit ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ habe sie nicht nur den Weg für den Vergleich verschiedener totalitärer Systeme geebnet, sondern mit ihrer unvoreingenommenen Herangehensweise auch ein Beispiel für die ideologiefreie Betrachtung von Geschichte gegeben.

In seinem Eröffnungsvortrag Hannah Arendts politische Wissenschaft als Wissenschaft von der Welt präsentierte der Politikwissenschaftler Karl-Heinz Breier aus Kiel Hannah Arendt als republikanische Denkerin in der Tradition von Montesquieu, Tocqueville und vor allem Machiavelli. Letzterer habe – so die Interpretation Isaiah Berlins – der seinerzeit vorherrschenden christlichen Moral eine republikanische Moral gegenüber gestellt. Die Republik als ein Verbund freier Bürger, welche sich selbst regieren, brauche für ihren Erhalt und ihre Stabilität nicht den bloß erleidenden, sondern vielmehr den tätigen Menschen. Diesen finde Arendt in der vorchristlichen griechischen Polis – Sinnbild des Politischen als Raum des Erscheinens, in dem sich die Bürger gegenseitig zeigen und miteinander kommunizieren. Das Motiv, die Sichtbarkeit des Politischen wieder erfahrbar zu machen, und der Versuch, das Politische als innerweltlich orientiertes Handeln zu rehabilitieren, zeichnen Breier zufolge Hannah Arendt als republikanische Denkerin aus.

Im ersten von zwei Beiträgen zur Totalitarismustheorie konstatierte Lothar Fritze in seinem Vortrag Dialektik der totalen Herrschaft. Im Anschluss an Hannah Arendt die Inkohärenz des Arendtschen Totalitarismusbegriffs. In seinem eigenen Definitionsversuch stellte er nicht den Terror, sondern die Indoktrination in den Mittelpunkt. In einem Gedankenexperiments beschrieb er die Situation einer perfekten Indoktrination, die eine totale Zustimmung der Gesellschaft zur Systemideologie und zur Herrschaft herbeiführe. Dann aber würden Terror und sogar Herrschaft obsolet. Fritze folgerte: Terror könne _kein charakteristisches Merkmal des Totalitarismus sein. Als solches habe vielmehr die Indoktrination, d.h. die Internalisierung einer Überzeugung durch Propaganda, zu gelten. Totalitäre Herrscher strebten nach Zustimmung mittels einer Bewusstseinstechnologie, welche die Bedingungen rationaler Meinungsbildung zerstöre.

Der Soziologe Achim Siegel unterzog in seinem Beitrag Eine Theorie der Erschöpfung totalitärer Expansionskraft – zur Revision von Hannah Arendts Totalitarismuskonzeption die Vorstellungen Hannah Arendts zum Verlauf totalitärer Herrschaft einer partiellen Revision und Weiterentwicklung. Arendt Konzeption sei nicht in der Lage, die Transformation hin zu nicht-totalitären Systemen aufgrund endogener Ursachen zu erklären. In einem Verlaufsmodell zeigte er Auswege aus der endlos erscheinenden destruktiven Dynamik totalitärer Systeme auf, nach welcher es zur ständigen Ausweitung der Gruppe der Feinde, zur Vergrößerung der Regulierungsdichte und zu Säuberungsaktionen unter den Machthabern komme. Merkmale der Mäßigung, welche sich historisch am Beispiel der Sowjetunion zeigen ließen, sah Siegel zum einen im Wiederaufleben der Zivilgesellschaft nach der Phase der Deklassierung und Versklavung der Bürger, zum anderen in der pragmatischen Anpassung der Ideologie an die Wirklichkeit.

Am zweiten Tag des Symposiums standen zunächst drei Vorträge aus dem Themenkomplex Moralphilosophie und jüdische Frage auf dem Programm. Den Anfang machte der Philosoph Peter Trawny von der Bergischen Universität Wuppertal mit Erörterungen über Das „Böse“ bei Hannah Arendt. Trawny zeichnete Arendts Interpretationswandel des Begriffes und ihre Rezeption der Konzeptionen von Augustinus (absolut Böses) und Kant (radikal Böses) nach. Die Bestimmung des Bösen bei Augustinus und Kant als unzureichend für die Beschreibung des im Dritten Reich Geschehenen zurückweisend, entwickele Hannah Arendt den Begriff der Banalität des Bösen. Das Banale – welches sich für Arendt exemplarisch in der Figur Eichmanns zeige – zeichne sich vor allem dadurch aus, dass es aus einer Gedankenlosigkeit und einem Urteilsverzicht heraus geschehe, deren Voraussetzungen die Atomisierung der Gesellschaft und der Wegfall der Maßstäbe zur Beurteilung von Gut und Böse im Nationalsozialismus waren. Arendt habe zwei Gefahren moderner Gesellschaften ausgemacht: die Indifferenz gegenüber der Entscheidung, mit wem die Menschen ihr Leben teilen wollen, und die Unfähigkeit zu urteilen.

In ihrem Beitrag Moderner Antisemitismus? Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ bestritt die Dresdner Politikwissenschaftlerin Julia Schulze Wessel, dass der im Eichmann-Buch verwendete Antisemitismus-Begriff Arendts einen Bruch mit ihrer vorherigen Auffassung von Antisemitismus darstelle. Hannah Arendt habe ihre früheren Ausführungen zum Antisemitismus darin vielmehr konsequent weitergeführt. Schulze Wessel zeichnete die Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus – vom antisemitischen Vorurteil zur Weltanschauung bis hin zur nationalsozialistischen Ideologie und zum bürokratisch organisierten Massenmord – als eine Geschichte ständiger Radikalisierung bei gleichzeitigem Verschwinden des Besonderen des Antisemitismus nach. Diese Entwicklung sei gekennzeichnet durch die Loslösung von historischen Erklärungszusammenhängen bis hin zur bloßen Deduktion aus einer in sich geschlossenen und erfahrungsresistenten Ideologie. In der von Eichmann organisierten Verwaltung des Massenmordes sei die Identität der Opfer vollends gleichgültig geworden. Der Antisemitismus entwickelte sich hier zu einem technischen Prozess, welcher nur um seiner selbst willen ausgeführt worden sei und nichts mehr mit den Inhalten und Konflikten des ursprünglichen Antisemitismus gemein gehabt habe.

Der amerikanische Religionswissenschaftler Marc H. Ellis erinnerte in seinem Vortrag Hannah Arendt and the Jewish Question – Revisited an die kontroverse Position, welche Hannah Arendt in Debatten um die sogenannte jüdische Frage eingenommen habe. Arendt habe sich aus einer Außenseiterposition Fragen nach dem Holocaust oder dem Staat Israel kühl analysierend genähert. Ihre eigene Freiheit zu denken sei ihr dabei wichtiger gewesen als die Loyalität gegenüber Israel und der jüdischen Gemeinschaft. Der Preis für diese Rolle des „Paria“ sei der Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft und die Herabwürdigung ihrer Person gewesen. Ellis kritisierte diese Intoleranz gegenüber dem Dissens und die mit der Gefährdung des jüdischen Staates begründete Weigerung, kontroverse Positionen von außen zuzulassen. Denn diese seien auch gegenwärtig notwendig und fruchtbar, um sich mit Problemen der jüdischen Politik auseinander zu setzen. In der heutigen Debatte um das Nebeneinander von Juden und Palästinensern im Nahen Osten sei Hannah Arendts Konzept des Bi-Nationalismus von bleibender Aktualität.

Die anschließende Sektion zur Politischen Philosophie Arendts wurde von dem Trierer Politikwissenschaftler Winfried Thaa eröffnet. Sein Vortrag Repräsentation oder politisches Handeln befasste sich mit dem gegen Arendt geäußerten Vorwurf, sie verkläre die antike Form der Polis zu Ungunsten der modernen repräsentativen Demokratie. Demgegenüber vertrat Thaa die Auffassung, Arendts Kritik am Repräsentationsprinzip komme keineswegs einer Ablehnung der repräsentativen Demokratieform an sich gleich, sondern zeige lediglich Fehlentwicklungen auf. In Arendts Buch „Über die Revolution“ bilde Repräsentation erst die positive Voraussetzung von Politik, indem die verschiedenen und diffusen Meinungen gebündelt und einander gegenübergestellt würden. Repräsentation in Form von Differenzrepräsentation sei hier nicht – wie von Rousseau behauptet – freiheitseinschränkend, sondern könne im Gegenteil durch das Eröffnen von Handlungsmöglichkeiten neue Freiheitsräume schaffen. Fehlentwicklungen des Repräsentationsprinzips entdecke Arendt darin, dass der einzelne Bürger nicht mehr selbst politisch handele, sondern seine Macht als Privatmann an die herrschende Elite abgebe, so dass die Beziehung von Herrscher und Beherrschten in der Demokratie reproduziert werde. Ein Gegenmittel sehe Arendt mit Montesquieu und Tocqueville in der Ausbildung republikanischer Tugenden (Selbstverwaltung, Vereinswesen), zugleich aber auch im Rätemodell.

Gerhard Besier rekonstruierte in seinem Referat Arendts Bestimmung der Freiheit als eine politische (vita activa) im Gegensatz zum christlichen Verständnis (vita contemplativa). Die Fähigkeit, jederzeit eine Entwicklung abbrechen und einen Neuanfang setzen zu können, habe Hannah Arendt in der Amerikanischen Revolution beinahe idealtypisch verwirklicht gesehen. Um dem Verlust von Freiheit entgegenzuwirken und das Politische in der Gegenwart zu bewahren, habe es Hannah Arendt für wichtig gehalten, an das ursprüngliche Herstellen der Freiheit im Gründungsakt der amerikanischen Demokratie zu erinnern. Dieses Erinnern bezeichnete Besier – im Gegensatz zu transzendenten Mythen – als immanenten Gründungsmythos, welcher die Sicherung der Freiheit in der Gegenwart gewährleisten solle. Die geschichtliche Legende der amerikanischen Revolution fungiere als Kernstück einer kollektiven Erinnerung der Freien.

Den Abschluss zur politischen Philosophie Hannah Arendts bildete der Vortrag des Giessener Philosophen Werner Beckers (Hannah Arendt und das Paradox der Menschenrechte). Becker beschrieb Arendts politisches Verständnis der Menschenrechte. Diese seien keine ahistorische Eigenschaft, welche der Mensch an sich von vornherein trägt, sondern könnten nur in einem rechtlich verfassten Kollektiv Gültigkeit erlangen, in dem die Mitglieder der Gemeinschaft sich erst kraft ihrer eigenen Entscheidung gegenseitig Rechte garantieren. Zum Problem, wie eine Legitimationsinstanz für Menschenrechte angesichts der Auflösung von Staatlichkeit und Globalisierungsprozessen aussehen könnte, erörterte Becker einige Lösungsvorschläge und bot schließlich eine eigene Rechtfertigung der Unantastbarkeit der Menschenrechte, welche ohne Gott und ohne einen Weltstaat als Legitimationsinstanz auskomme. Demnach sollte die Geltung der Grundrechte an den Begriff der Person gebunden sein, womit jedes Individuum diese von Geburt an als sein Eigentum verliehen erhalte.

Am Abend versammelten sich die Referenten und weitere zahlreiche Gäste zu einem Festvortrag im Dresdner Stadtmuseum. In Anwesenheit der Sächsischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Dr. Eva-Maria Stange, sprach der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik zum Thema Im Herzen der Finsternis. Hannah Arendts Versuch, den Holocaust durch den Kolonialismus zu erklären.

Der dritte und letzte Tag des Symposiums (Theoretische Herausforderungen und politische Anknüpfungspunkte) diente dem Ziel, Hannah Arendts Werk weiterzudenken und für gegenwärtige Fragen fruchtbar zu machen. Der Stuttgarter Philosoph Michael Weingarten (Europa politisch denken. Versuch im Anschluss an Hannah Arendt) entwickelte von Arendt inspirierte Lösungsansätze für die Probleme der EU. So hob er die Rezeption der politischen Philosophie Spinozas und Althusius’ hervor. Diesen Werken habe Arendt den Gedanken einer Begründung von Gemeinwesen mit offenem Charakter entnommen, welche eine Alternative zur vorherrschenden Reichsidee bildeten. Weingarten plädierte für ein neues Nachdenken über die künftige Gestalt Europas unter Einbeziehung von Gründungsmythen, welche ein offenes „Europa der Vielen“ – im Gegensatz zur abgeschotteten „Festung Europa“ – zuließen.

Der Freiburger Soziologe Friedrich Pohlmann zog mit seinem Referat Wird Hannah Arendts Werk überschätzt? eine kritische Bilanz des Gesamtwerkes. Da man Arendt im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr in ideologisch aufgeladenen Konflikten verteidigen müsse und die immanente Interpretation ihres Werkes weitgehend abgeschlossen sei, könne man sich nun der Frage zuwenden, was von ihrem Denken bleibe, und eine Bewertung nach Kriterien sachlicher Richtigkeit und Originalität vornehmen. Neben den begrifflichen Unschärfen in den philosophisch-anthropologischen Grundannahmen ihrer Tätigkeitstheorie und ihrem sympathischen, aber romantisch-wirklichkeitsfremden Politikbegriff kritisierte Pohlmann vor allem sachliche Mängel und Widersprüche in Arendts Totalitarismuskonzeption. Über Arendts Werk hinausgehend sah er Desiderate der Forschung vor allem in der Untersuchung der Entstehung und der Entwicklungsdynamik von Nationalsozialismus und Bolschewismus im Kontext der beiden Weltkriege. Zu der Frage, was von Arendt bleibe, nannte Pohlmann vor allem die Kategorien, welche sie für die Analyse des Totalitarismus bereitgestellt habe (Ideologie, Terror, objektive Feinde). Vor allem das später eingefügte Schlusskapitel „Ideologie und Terror“ könne als ein heute immer noch gültiger Text bezeichnet werden.

Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Alfons Söllner zeichnete im Abschlussvortrag des Symposiums die Entwicklung von Arendts Denken entlang ihrer drei Hauptwerke im Kontext ihrer Lebenserfahrungen und der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach. Der „ideengeschichtliche Tigersprung“ zurück in die Antike in „Vita Activa“ stehe im Zusammenhang mit ihrer Übersiedlung nach Amerika und einer Abkehr von Europa. Aus der Beschäftigung mit der Politik der Antike leitete sie ihren verkürzten, rein geistesgeschichtlich geprägten Politikbegriff ab. In „Über die Revolution“, welches Söllner als politisches Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten deutete, habe Arendt nach einer Form gesucht, in welcher sich der Politikbegriff im Strudel der modernen Welt verwirklichen lasse. In der amerikanischen Revolution sah sie ein Ideal des Politischen, aus welchem sich eine Tradition formen lasse, die Politik in Freiheit ermögliche.

Es ist beabsichtigt, die überarbeiteten Beiträge in einem Sammelband zu publizieren.