Erfolgs- und Krisengeschichte des deutschen Sozialstaats im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, DDR und Bundesrepublik im Vergleich

Erfolgs- und Krisengeschichte des deutschen Sozialstaats im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, DDR und Bundesrepublik im Vergleich

Organisatoren
Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2010 - 29.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Gaby Sonnabend / Bernd Braun, Stiftung Reichspräsident- Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

Die Tagung auf Einladung der bundesunmittelbaren Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg im Erfurter Rathaus, die sich nicht (nur) an Fachhistoriker, sondern an ein breites Publikum wandte, eröffneten Henning Scherf, der ehemalige Bürgermeister von Bremen und Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung, sowie Andreas Bausewein, der Oberbürgermeister der thüringischen Landeshauptstadt. Daran anschließend nahm KLAUS SCHÖNHOVEN (Reichenberg) in seinem Einführungsvortrag eine Bestandsaufnahme zu den historischen Fundamenten, der geschichtlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Bedeutung des deutschen Sozialstaats vor. Kennzeichnend für diesen sei der evolutionäre Wandel seiner Strukturen und Aufgabenfelder von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute. Schönhoven ließ die Wegmarken der sozialstaatlichen Entwicklung seit der Bismarckschen Doppelstrategie von politischer Repression und sozialer Reform bis zur Ausdehnung der Sozialstaatlichkeit in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Revue passieren. Die seit 1918/19 ergriffenen sozialstaatlichen Initiativen führten dabei zu einer erheblichen Kostensteigerung. Nach dem Bruch der Großen Koalition 1930 begann mit der Ära der Präsidialkabinette auch die Demontage des Sozialstaats unter dem Vorzeichen einer rigiden Sparpolitik. Schönhoven forderte mehr international vergleichende Studien zur Entwicklung der sozialen Demokratie in der Zwischenkriegszeit und insgesamt eine Ausweitung der Perspektive über den nationalen Horizont hinaus. Schließlich sei die Europäische Union nicht nur eine politische und wirtschaftliche Vereinigung, sondern auch eine soziale.

Die erste Sektion widmete sich mit drei Vorträgen der Sozialstaatlichkeit in der Weimarer Republik. GUNTHER MAI (Erfurt) fächerte in seinem Beitrag den sozialen Grundrechtekatalog der Weimarer Reichsverfassung auf. Darin wurden den klassischen Freiheitsrechten des Einzelnen gegenüber dem Staat die Forderungsrechte des Einzelnen an den Staat zur Seite gestellt. Die Sozialpolitik als Absicherung gegen die Lebensrisiken sei dadurch in den Rang eines Staatszwecks, der „soziale Rechtsstaat“ zum Staatsziel erhoben worden. Die sozialen Grundrechte seien deutlich mehr gewesen als nur „eine Reihe von deklamatorischen Bekenntnissen“. Wenn sie aus dem verfassungstheoretischen Bereich nicht stärker in die Verfassungswirklichkeit transponiert wurden, dann sei dafür zwar einerseits der mangelnde Wille des Gesetzgebers verantwortlich zu machen, andererseits aber auch der stete Zuwachs an Empfängern sozialer Transferleistungen, vor allem durch Krieg und Inflation. Zwischen 1913 und 1924 vervierfachte sich die Zahl der Bedürftigen. Trotzdem sei die Weimarer Republik nicht an den Kosten der Sozialpolitik gescheitert, denn trotz höherer Löhne, Sozialbeiträge und Steuern habe das Deutsche Reich 1928 wieder das Volkseinkommen von 1913 erreicht.

KARL CHRISTIAN FÜHRER (Hamburg) skizzierte zunächst die Ausgangslage des Kaiserreiches, in dem es außer der Armenfürsorge keinerlei Absicherung für Arbeitslose gab, keine Organisationsfreiheit und keine anerkannte Tarifpartnerschaft. Dies änderte sich erst mit der Revolution 1918/19, als der Rat der Volksbeauftragten eine öffentliche Unterstützung für Erwerbslose einführte. Mit der 1927 beschlossenen Arbeitslosenversicherung, einer „überzeugenden und geschlossen konzipierten Lösung“, sei das Schicksal der Arbeitslosen „entindividualisiert“ worden. Ebenfalls bereits im November 1918 erkannten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften im „Stinnes-Legien-Abkommen“ als Tarifpartner an und vollzog sich mit der Einführung des Acht-Stundentages bei vollem Lohnausgleich die wichtigste sozialpolitische Errungenschaft der November-Revolution. Dass die Unternehmer in den Jahren 1923/24 versuchten, die Arbeitszeit wieder massiv zu verlängern, sei aus deren Interessenlage und der Schwäche der Gewerkschaften während der Hyperinflationsphase zu erklären. Bis 1928 sei es den Gewerkschaften gelungen, für mehr als 70 Prozent der Beschäftigten die 48-Stunden-Woche (oder kürzere Arbeitszeiten) zu sichern.

DIRK SCHUMANN (Göttingen) untersuchte zur Beantwortung der Frage, ob der Sozialstaat sich in der Krise bewährt habe oder zerstört worden sei, den finanziellen Handlungsspielraum des Staates. Die Zwänge auf den Reichshaushalt scheinen im Lichte der neuesten Forschung eher größer als kleiner gewesen zu sein. In einem zweiten Schritt beleuchtete Schumann die sozialpolitischen Maßnahmen der Regierungen Brüning, Papen und Schleicher. Die Bewahrung des Sozialstaats sei kein herausragendes Motiv der Politik Brünings gewesen, der eine aktive Beschäftigungspolitik abgelehnt habe. Unter Papen sei ein Rückbau des Systems der sozialen Sicherung erfolgt, wohingegen Schleicher bemüht gewesen sei, einige dieser Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. Der letzte Weimarer Kanzler legte ein Arbeitsbeschaffungsprogramm auf, von dem allerdings erst Hitler profitierte. In einem dritten Teil untersuchte Schumann die Auswirkungen der sozialpolitischen Maßnahmen auf die Betroffenen selbst. Der Sozialstaat habe die Krise überstanden, aber auf seinen Funktionskern reduziert und um den Preis von sozialer Exklusion, Stigmatisierung und Delegitimierung. Der NS-Staat habe als sozialpolitischer Interventionsstaat agiert, doch hätten erworbene Leistungsansprüche nicht mehr ohne Ansehen der Person gegolten. Wie der Gesamtstaat, so hörte auch der Sozialstaat unter der NS-Herrschaft auf, ein Rechtsstaat zu sein.

Im Mittelpunkt der zweiten Sektion standen die Strukturmerkmale der sozialstaatlichen Entwicklung in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Die Nachkriegsjahre waren laut MICHAEL RUCK (Flensburg) von zwei wohlfahrtsstaatlichen Expansionswellen geprägt. Die erste fand mit der Rentenreform von 1957 ihren Abschluss, die zweite setzte 1966/67 ein, um Anfang der 1970er-Jahre ihren Höhepunkt zu erreichen. Doch auch in der dazwischenliegenden Übergangsphase habe es sozialpolitische Weichenstellungen gegeben, die langfristig wirksam gewesen seien. Bei den großen Parteien habe Konsens über die Ausweitung der Leistungsangebote geherrscht, lediglich deren quantitative Differenzierung sei strittig gewesen. Am Beispiel der gescheiterten Krankenversicherungsreform der Jahre 1958 bis 1964 veranschaulichte Ruck, dass die sozialpolitischen Aktivitäten der Regierung Adenauer hoch fragmentiert waren und über kein erkennbares Rahmenkonzept verfügten. Mit Blick auf die Bundestagswahl wurden nur diejenigen sozialpolitischen Vorhaben umgesetzt, die strategisch wichtigen Wählergruppen kurzfristig zusätzliche Leistungen versprachen. Als Fazit seiner Ausführungen zog Ruck eine durchgehende Linie von der gescheiterten Konsolidierung des sozialpolitischen Leistungsangebots gegen Ende der Nachkriegszeit bis zum Versuch, die sozialstaatliche Expansionsdynamik nach der Jahrtausendwende nachhaltig zu begrenzen.

PETER HÜBNER (Potsdam) versuchte, in seinem Beitrag vor allem zwei Fragen zu beantworten: „Wie stand es um die sozialpolitische Handlungsfähigkeit der SED unter Ulbricht?“ und „War die DDR in der Ära Ulbricht ein Sozialstaat?“ Obwohl in den 1950er-Jahren der Begriff „Sozialstaat“ in der DDR so gut wie nicht verwendet wurde, gab es natürlich sozialpolitische Maßnahmen, die vor allem auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit des einzelnen Werktätigen ausgerichtet waren. Maßstab für die Steigerung des sozialpolitischen Fortschritts sei für Ulbricht immer die Produktivität der Wirtschaft gewesen, ein Trend, der sich mit Einführung des „Neuen ökonomischen Systems“ (NÖS) im Jahr 1963 noch verstärkt habe. Die Sozialpolitik der DDR in diesem Zeitraum habe sich nicht an Gestaltungsutopien ausgerichtet, sondern an den knappen ökonomischen Ressourcen und dem diesbezüglichen Vorgehen des westdeutschen Konkurrenzmodells. Hübners Fazit: „Die DDR der Ulbricht-Zeit war ein auf sozialistischer Planwirtschaft gründender und autoritär gesteuerter Sozialstaat“.

MANFRED G. SCHMIDT (Heidelberg) zählte die wirtschaftliche Trendwende Mitte der 1970er-Jahre zu den vielfältigen Ursachen für die Krise des Sozialstaates, die reduziertes Wirtschaftswachstum und höhere Arbeitslosenquoten zur Folge hatte. Dies habe zu einem „Kampf um den Sozialetat“ zwischen Sozial- und Finanzpolitikern geführt. Die Ausgangsbedingungen für die Sanierung des Sozialstaats sieht Schmidt als ungünstig an: Der arbeitsrechtliche Schutz und die Mitbestimmung seien überdurchschnittlich groß, die Sozialbeiträge wirkten sich wie eine hohe Zusatzsteuer auf den Faktor Arbeit aus. Die Hochlohnpolitik sowie die extensive Frühverrentung intensivierten das Problem zusätzlich. Zudem sei eine auffällige Lücke zwischen der gut abgesicherten Alterssicherung und der schwächer entwickelten Sozialpolitik für jüngere Zielgruppen entstanden. Schmidt attestierte der Politik die Befähigung zu Sanierungsmaßnahmen, die – wenn auch zeitverzögert – seit der Ära Helmut Schmidt durchgeführt worden seien. Dennoch sei der Sanierungsbedarf weiterhin groß, zumal sich die Finanzierung des Sozialetats nicht verbessert habe. Erfolge wie auch Grenzen der politischen Steuerung in der deutschen Sozialpolitik sah Schmidt resümierend im Zusammenwirken von sozioökonomischen Rahmenbedingungen, Problemdruck, politischen Institutionen, Parteien und Regierungszusammensetzung sowie Rückwirkungen internationaler Effekte.

BEATRIX BOUVIER (Bonn) knüpfte in ihrem Beitrag an das Referat von Peter Hübner an und betonte, dass mit dem Übergang von Ulbricht zu Honecker auch ein Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik der DDR stattgefunden habe. Diese habe nun absolute Priorität genossen. Die Sozialpolitik sollte systemstabilisierend wirken, gerade auch im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, war aber zunehmend systemdestabilisierend, da sie die Wirtschaftskraft der DDR überforderte. Als Resultat sei es bereits seit den 1970er-Jahren zu einer latenten Legitimationskrise gekommen. Das Zutrauen in die Problemlösungskompetenz der SED-Führung sei kontinuierlich geschwunden. Das Versprechen, die Wohnungsnot bis 1990 zu lösen – das Kernstück der Honeckerschen Sozialpolitik – sei mit den Instrumenten forcierte Neubauten auf der einen Seite bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Altbauten auf der anderen Seite nicht einzulösen gewesen. Systemloyalität, so Bouvier, konnte über Sozialpolitik nicht dauerhaft erkauft werden. Die DDR sei zudem kein Sozialstaat gewesen, da ihr die rechtsstaatliche Komponente gefehlt habe.

CHRISTOPH BOYER (Salzburg), der als Kommentator der vier Vorgängerbeiträge vorgesehen war, verzichtete auf die klassische Definition seiner Aufgabe – mit der einen Ausnahme, dass er die Diskussion, ob die DDR nun ein Sozialstaat sei oder nicht, als überflüssig charakterisierte ("Froschmäusekrieg"). Stattdessen erweiterte er die Fragestellung, indem er für die Zeit des Eisernen Vorhangs das westeuropäische Sozialstaatsmodell mit dem osteuropäischen verglich. Dabei stellte er bei wichtigen Unterschieden im Detail auch augenfällige Gemeinsamkeiten und Parallelentwicklungen fest, etwa die Folgen für beide Systeme durch die dritte industrielle Revolution und die beginnende Globalisierung. So führte etwa die ehrgeizige Sozialpolitik in beiden deutschen Staaten ab den 1970er-Jahren zu einer stetig steigenden Staatsverschuldung bzw. im Fall der DDR zur Westverschuldung.

In seinem Abschlussvortrag unternahm STEPHAN LESSENICH (Jena) eine soziologische Bestimmung des Sozialstaates als Solidarkomplex, der durch universalisierte Solidaritätszusammenhänge, Berechtigungen und Verpflichtungen sowie nationale und ökonomische Merkmale gekennzeichnet sei. Die Solidargemeinschaft grenze sich dabei nach außen ab und verfüge im Inneren über ein abgestuftes System von Statusansprüchen. Lessenich beschrieb die historische Entwicklung des Sozialstaates in der Nachkriegszeit vom „keynesianischen Wohlfahrtsstaat“ über dessen Desintegration und Krise hin zur Suche nach einem neuen Mechanismus. Seit den 1990er-Jahren sei eine Abkehr von der „Versorgungsmentalität“ erfolgt, eine „neosoziale Wende“, die Eigenverantwortung als Sozialverantwortung definiere. Dies führe zu einer Individualisierung und Remoralisierung sozialer Ungleichheit, da jeder für seinen Vorsorgeerfolg selbst verantwortlich gemacht werde. Für die Zukunft forderte Lessenich mehr Solidarität im heterogenen, demokratischen Sozialstaat.

Über die Zukunft des Sozialstaates debattierten abschließend, moderiert von Hanno Müller (Thüringer Allgemeine, Erfurt), Stephan Lessenich, der Historiker Gerhard A. Ritter (Berlin) und der Betriebsratsvorsitzende von Opel Eisenach, Harald Lieske. Während die Diskutanten Ritter und Lessenich sich über die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Umfang und Gestaltung des Sozialstaats nicht einigen konnten, äußerte sich Harald Lieske vor allem zu praktischen Fragen der Umstrukturierung eines Unternehmens in der Krise.

Konferenzübersicht:

Eröffnung und Begrüßung:
Henning Scherf, Vorsitzender Kuratorium der Stiftung
Andreas Bausewein, Oberbürgermeister Erfurt

Einführungsvortrag:
Klaus Schönhoven (Reichenberg): Die Weimarer Republik als soziale Demokratie: Durchbruch eines Ordnungsprinzips

Sektion I: Erwartungen und Enttäuschungen: Die Sozialstaatlichkeit in der ersten deutschen Republik
Leitung der Sektion: Wolfram Pyta (Stuttgart)

Gunther Mai (Erfurt):Verpflichtung auf den sozialen Volksstaat: Verfassungspolitische Weichenstellungen und ihre Verwirklichung in den Anfangsjahren Weimars

Karl Christian Führer (Hamburg): Arbeitsbeziehungen - Achtstundentag - Arbeitslosenversicherung: Ausbau und Rückbau von Fundamenten der sozialen Demokratie in den 1920er-Jahren

Dirk Schumann (Göttingen): Bewährung in der Krise oder völlige Zerstörung? Die Erosion des Sozialstaates in der Endphase der Weimarer Republik und der Übergang in die Diktatur

Sektion II: Pfadtreue und Systemkonkurrenz. Strukturmerkmale der sozialstaatlichen Entwicklung in den beiden deutschen Staaten nach 1945
Leitung der Sektion: Rainer Eckert (Leipzig)

Michael Ruck (Flensburg): Expansion um jeden Preis? Sozialreformen unter dem Vorzeichen von Wirtschaftswunder und Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik

Peter Hübner (Potsdam): Fürsorge und Bevormundung: Sozialpolitische Herrschaftssicherung des SED-Regimes in der Regierungszeit von Ulbricht

Manfred G. Schmidt (Heidelberg): Sozialstaat mit Sanierungsbedarf: Grenzen des Wachstums nach der Boomphase in der Bundesrepublik

Beatrix Bouvier (Bonn): Der erschöpfte Versorgungsstaat: Das Scheitern der „sozialistischen Sozialpolitik“ während der Ära Honecker in der DDR

Christoph Boyer (Salzburg): Kommentierung

Abschlussvortrag: Stephan Lessenich (Jena):Neuordnung des Sozialen? Nationale und globale Herausforderungen des Sozialstaates in der Gegenwart

Podiumsdiskussion: Gerhard A. Ritter (Berlin); Harald Lieske (Betriebsratsvorsitzender der Opel AG; Eisenach), Stephan Lessenich (Jena): Neue Spielregeln nach der weltweiten Krise? Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie in der Zukunft


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