HT 2021: (Be-)Deutungskämpfe? Provenienzforschung, ihre Teilbereiche und die Geschichtswissenschaft

HT 2021: (Be-)Deutungskämpfe? Provenienzforschung, ihre Teilbereiche und die Geschichtswissenschaft

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Schlegel, Klassik Stiftung Weimar

Am 20. Juli 2021 öffnete das Berliner Humboldt Forum endgültig seine Pforten für die interessierte Öffentlichkeit. Im Vorfeld waren jedoch erhebliche Kontroversen entbrannt, in deren Mittelpunkt der Umzug der Sammlungen außereuropäischer Kunst- und Kulturgüter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in das neu errichtete Berliner Stadtschloss stand. Dabei hatten die Auseinandersetzungen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, als die renommierte Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy 2017 aus dem Wissenschaftlichen Beirat des Humboldt Forums austrat, um ihrer Kritik an der mangelhaften Auseinandersetzung des Projekts insbesondere mit den Sammlungsobjekten aus kolonialen Kontexten Ausdruck zu verleihen. Sie sah in der sorgfältigen Erforschung der Erwerbungszusammenhänge eine Grundvoraussetzung für eine kritische Reflexion mit der eigenen historischen Rolle: „Wer Provenienzforschung mit Restitutionen gleichsetzt, erschwert oder verhindert den freien wissenschaftlichen Umgang mit den historischen Quellen. Zu eng, zu juristisch, zu wenig kulturgeschichtlich betriebene Provenienzforschung ist jedes Mal eine verpasste Chance.“1

Die Sektion „(Be-)Deutungskämpfe? Provenienzforschung, ihre Teilbereiche und die Geschichtswissenschaft“ des Deutschen Historikertags 2021 widmete sich multiperspektivisch dem Problemfeld der Provenienzforschung. Es dürfte sich dabei um die erste Sektion eines Deutschen Historikertags zur Provenienzforschung überhaupt gehandelt haben – was unverständlich wirkt, da die Verzahnung zwischen den Fragestellungen der Provenienzforschung und den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft äußerst eng ist. Doch es hat den Anschein, als nähme die historische Forschung die Problemstellungen der Provenienzforschung bislang allenfalls am Rande auf, obwohl diese doch insbesondere im Bereich der verfolgungsbedingten Entziehungen während des Nationalsozialismus sowie während der SBZ- und DDR-Zeit für die dringend erforderliche Erhellung der historischen Kontexte und mithin für die Grundlagen der Erforschung von Unrechtstatbeständen sorgt. Die These könnte hier also formuliert werden, dass zwar die Provenienzforschung bislang von der Geschichtswissenschaft profitiert, dies umgekehrt aber nicht der Fall ist.

In ihren einleitenden Worten verwiesen die Moderatorinnen KATRIN HAMMERSTEIN (Stuttgart) und MARIE MUSCHALEK (Freiburg im Breisgau) auf das stark angewachsene mediale Interesse an Problemstellungen der Provenienzforschung, insbesondere bei Restitutionen von Erwerbungen aus kolonialen Kontexten wie auch von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern. Sie verstanden ihre Sektion daher als einen ersten Versuch, die Fäden der drei Hauptrichtungen der Provenienzforschung zu Entzugskontexten (Kolonialzeit, NS-Zeit sowie SBZ- und DDR-Zeit) im Rahmen des Deutschen Historikertags zusammenzuführen und so Synergieeffekten für die Vertreterinnen und Vertreter der beteiligten Disziplinen Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Archivwesen einen fruchtbaren Boden zu bereiten.

Im ersten Vortrag der Sektion widmete sich JAN SCHEUNEMANN (Halle an der Saale) den verschiedenen Entziehungskontexten von Kunst- und Kulturgut während der SBZ- und DDR-Zeit. Er unterschied zunächst zwischen Enteignungen auf besatzungspolitischer und besatzungsbehördlicher Grundlage im Zeitraum 1945 bis 1949, für das die Regelungen des im Dezember 1994 in Kraft gesetzten Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes (EALG) zuständig waren und sind, und den Enteignungen zwischen 1949 und 1989, dem DDR-Unrecht, für das das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) in einer Vielzahl von Fällen bis heute noch gültig ist. Anhand dreier Themenkomplexe wurde dabei die Vielfalt von Aspekten bei unrechtmäßigen Entziehungen nach 1945 verdeutlicht: Im Zusammenhang mit der Bodenreform ab September 1945 kam es nicht nur zu Enteignungen von Grundbesitz ehemaliger Gutsherren und Großgrundbesitzer, sondern auch zu Verlusten von Kunst- und Kulturgut in deren Schlössern und Gutshäusern. Dabei sei den sogenannten Schlossbergungen besonderes Augenmerk zu schenken, denn die Maßnahmen hätten dazu geführt, dass Kunst- und Kulturgut vor Plünderung und Zerstörung geschützt wurde, indem es zunächst sichergestellt, danach sammlungsführenden Einrichtungen übergeben und später schließlich offiziell in Volkseigentum überführt wurde. Der zweite thematische Schwerpunkt des Vortrags bezog sich auf die mehrstufige „Aktion Licht“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in der ab Januar 1962 zunächst herrenlose Bankschließfächer und Tresore geöffnet und teils wertvolles Kulturgut sowie Aktenbestände in großer Zahl erbeutet worden seien. Danach seien die zum Teil wertvollen Kunst- und Kulturgüter der Tresorverwaltung beim Ministerium für Finanzen der DDR übergeben und durch diese gewinnbringend veräußert worden. In diesem Zusammenhang habe die durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg geförderte Studie von Thomas Widera zur „Aktion Licht“ feststellen müssen, dass die zugehörigen und für die Provenienzforschung relevanten Dokumente der MfS-Aktion vernichtet worden seien, nichtsdestotrotz aber die teils sehr engen Verbindungen zwischen Kulturgutentzug und Kunsthandel in der DDR verdeutlichen können.2 Der dritte Themenkomplex des Vortrags bezog auf den Staatlichen Kunsthandel der DDR, im Rahmen dessen seit Dezember 1955 landesweit sogenannte Einkäufer agiert hätten, die in der DDR-Bevölkerung Kunst- und Kulturgüter aufkauften und dem Staatlichen Kunsthandel zuleiteten. Dabei seien auch Händler aus dem westlichen Ausland begleitet und der Kontakt zu Sammlern in der DDR vermittelt worden. Auch hier hätten vielfach enge Verbindungen zum MfS bestanden. Die Gründung der Kunst und Antiquitäten GmbH 1973, einem Außenhandelsunternehmen der DDR zur Devisenerwirtschaftung durch den Verkauf von Kunst- und Kulturgütern, habe eine weitere Stufe im Geflecht zwischen gezieltem Entzug und dessen Verwertung von Kunst- und Kulturgut durch die DDR-Behörden markiert. Dabei seien Antiquitätenhändler und private Sammler unter dem Vorwurf von Steuervergehen – insgesamt seien über 200 solcher Steuerverfahren gegen Sammler aktenkundig – gezielt kriminalisiert, unter Druck gesetzt und schließlich enteignet worden. Auch wenn Untersuchungen zu Kulturgutentzügen in der SBZ- und DDR-Zeit vielfach begrenzt und kompliziert seien, so lautete das Fazit des Beitrags, lohne sich eine Intensivierung dieser Provenienzforschungen; dabei sei den „langen Linien“ der beschriebenen Entzugsvorgänge mit ihren oftmals ineinandergreifenden Enteignungs- und Verwertungsmechanismen nachzugehen. Insbesondere sei vor diesem Hintergrund den deutsch-deutschen Verflechtungen künftig stärker als bisher Aufmerksamkeit zu schenken.

In ihrem Beitrag betonte KRISTIN WEBER-SINN (Berlin), dass die postkoloniale Provenienzforschung als ein Teil komplexer und umfänglicher Dekolonialisierungsprozesse zu verstehen sei. Sie verwies auf die wesentlichen Unterschiede zwischen der postkolonialen Provenienzforschung einerseits und der Provenienzforschung zu Entziehungsvorgängen im Nationalsozialismus sowie in der SBZ und DDR anderseits: Vielfach fehlten zu Erwerbungen aus kolonialen Kontexten Quellenüberlieferungen, weshalb auch die Rekonstruktion von Provenienzketten praktisch unmöglich werde. Zudem unterschieden sich die Konzepte bezüglich Eigentum und Besitz in den Herkunftsgesellschaften einerseits und in Europa andererseits teils erheblich, wobei ohnehin häufig ein stark eurozentrisch geprägter Blick zu kritisieren sei. Als Leitfragen der postkolonialen Provenienzforschung sei zu formulieren: In welchen Beziehungen standen die angenommenen/ermittelten Vorbesitzerinnen und -besitzer zu den betreffenden Objekten? Wie konstituieren sich in den betreffenden Gesellschaften überhaupt Objekte? Welche Bedeutung und Funktion besaßen diese Objekte? Galten sie zum Aneignungszeitpunkt überhaupt als veräußerlich? Das Beispiel der Kooperation zwischen den Ethnologischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem National Museum of Tanzania (Dar es Salaam) Humboldt Lab Tanzania und Tansania-Deutschland: Geteilte Objektgeschichten?3 verdeutlichte, wie wichtig in diesem Zusammenhang die enge Zusammenarbeit mit Forschungspartnern aus den Herkunftsgesellschaften sei. Dabei seien diese keine reinen Informationsgeber, stattdessen gelte hier insbesondere, dass erst der Respekt angesichts jeweils unterschiedlicher Wissensordnungen und -traditionen zu einem Miteinander auf Augenhöhe führe. Auch jeweils unterschiedliche finanzielle Voraussetzungen führten dabei unweigerlich zu unterschiedlichen Machtbeziehungen der Gesprächspartner, was stets im Blick zu behalten sei.

Der Vortrag von ULRIKE SASS (Bonn) widmete sich dem Phänomen der komplexen und stark verzweigten Kunsthändlernetzwerke während des Nationalsozialismus sowie deren personeller Kontinuitäten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Referentin verdeutlichte anhand des Fallbeispiels des Kunsthändlers Wilhelm Grosshennig (1893–1983), dass die Ergebnisse der Provenienz- und Kunsthandelsforschung einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung größerer historischer Zusammenhänge darstellen können. Grosshennig, Leiter und ab 1930 Mitinhaber der Chemnitzer Galerie Gerstenberger, war nicht nur maßgeblich involviert in großangelegte Veräußerungen von Werken, die unter den Nationalsozialisten als sogenannte Entartete Kunst diffamiert waren und nun nach ihrer Entfernung aus deutschen Museen abgestoßen werden sollten. Er agierte zudem in den folgenden Jahren auch als „Einkäufer“ für den Sonderauftrag Linz, dessen Ziel die Einrichtung eines von Hitler geplanten „Führermuseums“ mit auf vielfältigen Wegen käuflich erworbenem und beschlagnahmten Kunst- und Kulturgut war. Nach dem Krieg eröffnete Grosshennig eine eigene Galerie in Düsseldorf; der Vortrag verdeutlichte, wie es dem Kunsthändler nicht nur gelang, seine engen beruflichen und persönlichen Netzwerke der Zeit vor 1945 aufrecht zu erhalten und auszubauen. Grosshennig sei es zugleich gelungen, mithilfe gezielter Selbstinszenierung wirksame Exkulpationsstrategien angesichts seiner eigenen Rolle im Kunsthandel während des Nationalsozialismus zu verwirklichen.

KATRIN HAMMERSTEIN stellte in ihrem Beitrag ein umfangreiches Quellenerschließungsprojekt des Landesarchivs Baden-Württemberg vor. Dabei seien fünf verschiedene Archivstandorte beteiligt, deren Einzelprojekte seit 2015 laufen und vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg gefördert werden. Wesentliches Ziel des Grundlagenforschungsprojekts sei es, der Provenienzforschung zu NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut relevante Archivquellen durch spezielle Findmittel und gezielte inhaltliche Erschließung zugänglich zu machen. Dies betreffe vor allem die Bestände etwa von NS-Behörden, der Finanzämter und Oberfinanzdirektionen oder der baden-württembergischen Wiedergutmachungsbehörden nach dem Zweiten Weltkrieg.4 Aber auch weitere umfangreiche Aktenbestände würden im Gesamtprojekt einer Tiefenerschließung unterzogen. Dabei würden etwa Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten der Nachkriegszeit auf für die Provenienzforschung relevante Informationen geprüft und detailliert verzeichnet. Dabei werde gezielt Hinweisen auf Kunst- und Kulturgut in den Akten nachgegangen; das schließe Gemälde, Skulpturen, Porzellanobjekte, Bronze, Silber- und Goldgegenstände, Antiquitäten sowie sonstige Kunstgegenstände ein, aber auch Musikinstrumente oder Bücher und Schriftgut. Auch Listen von beschlagnahmtem Umzugsgut oder Versteigerungsprotokolle der Gerichtsvollzieher, Finanzbeamten, Kunst- und Auktionshäuser würden verzeichnet. An die inhaltliche Erfassung schließe sich die Erarbeitung eines gemeinsamen Onlineinventars aller fünf beteiligten Standorte an, das im Verlauf des Jahres 2022 fertiggestellt werden solle. Die Referentin verwies ausdrücklich auf den Nutzen dieser Initiative für die historische Forschung, vor allem hinsichtlich der durch das NS-Regime Verfolgten und Geschädigten, aber auch angesichts der Beteiligung der NS-Volksgemeinschaft an der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung sowie weiterer Verfolgtengruppen während des Nationalsozialismus.

UWE HARTMANN (Magdeburg) verwies in seinem Kommentar zur Sektion auf Heinrich August Winklers unlängst erschienene Essaysammlung Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte5 und die darin enthaltenen Überlegungen zum sogenannten Hohenzollernstreit und die Eigentumsansprüche des ehemaligen Herrscherhauses. Dies mache einmal mehr die Schnittstellen zwischen der historischen Forschung und der lange als bloße Teildisziplin der Kunstgeschichte geltenden Provenienzforschung deutlich. Zudem lasse sich die Mahnung der hier eingangs erwähnten Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy problemlos auf aktuelle Deutungsdebatten anwenden: So sei stets nachzufragen und zu prüfen, wer gerade spräche und aus welcher Position heraus dies erfolge. Es ist kaum verwunderlich, dass sich die abschließende Diskussion der Sektion auf ebendiese Frage nach den Perspektiven konzentrierte und anhand eindrücklicher Fallbeispiele der Bedeutung von Kulturgut im Spannungsfeld von Marktwert einerseits und individuellem Stellenwert andererseits nachzuspüren versuchte.

Kann also die eingangs formulierte zentrale Frage nach dem Verhältnis von Provenienzforschung und Geschichtswissenschaft beantwortet werden und ist hierzu bereits ein substanzielles Fazit zu ziehen? Abschließend ist das nach dieser im Rahmen des Deutschen Historikertags ersten konzentrierten Auseinandersetzung kaum möglich. Jedoch ist deutlich geworden: Die Provenienzforschung zu unrechtmäßig erworbenen Kulturgütern trägt wesentlich dazu bei, dass die (kultur-)historische Forschung hinsichtlich möglicher (Be-)Deutungsperspektiven erweitert wird und sich damit künftige gemeinsame Interessenfelder eröffnen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Katrin Hammerstein (Stuttgart) / Marie Muschalek (Freiburg i. Breisgau)

Jan Scheunemann (Halle an der Saale): Bodenreform – Aktion "Licht" – Enteignung privater Kunstsammler. Kulturgutentziehungen in der SBZ und DDR

Kristin Weber-Sinn (Berlin): Perspektiven einer postkolonialen Provenienzforschung – Kooperation, Dekolonisierung und die Persistenz kolonialer Wissensordnungen

Ulrike Saß (Bonn): Unter Freunden. Der Kunsthändler Wilhelm Grosshennig und sein Netzwerk

Katrin Hammerstein (Stuttgart): Grundlagenforschung (nicht nur) für die Provenienzforschung. Anmerkungen zu einem Quellenerschließungsprojekt des Landesarchivs Baden-Württemberg

Uwe Hartmann (Magdeburg): Kommentar

Anmerkungen:
1 Bénédicte Savoy, Was unsere Museen nicht erzählen, in: Le Monde diplomatique 23,8 (2017), S. 3.
2 Thomas Widera, Die MfS-Aktion „Licht“ 1962. Entnahme von Kunst- und Kulturgut aus Banktresoren, in: Museumsblätter – Mitteilungen des Museumsverbandes Brandenburg, Heft 35 (Dezember 2019), S. 44–47, https://www.museen-brandenburg.de/fileadmin/Museumsblaetter/MB_35_web.pdf (10.12.2021).
3https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/ethnologisches-museum/sammeln-forschen/forschung/tansania-deutschland-geteilte-objektgeschichten/ (10.12.2021).
4 Im Zuge des Projekts werden diverse Findmittel entwickelt, so etwa das sachthematische Inventar Kunstraub und „Arisierung“ 1933-1945: https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/inventar/startbild.php?inventar=arisierung (10.12.2021).
5 Heinrich August Winkler, Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte. München 2021.


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