Unter dem Titel „Alchemieforschung im Labor und in der Bibliothek“ bot das Forschungszentrum Gotha (Universität Erfurt) der Alchemieforschung abermals Gelegenheit zum breiten Erfahrungsaustausch. Bereits im Titel kam zum Ausdruck, dass sich die Veranstaltung sowohl an Archiv- und Bibliotheks-, als auch an Laborforschende richtete. Erfreulicherweise wuchs auch in diesem Jahr der Kreis der Interessierten weiter an.
CLAUDIA WEISS (Halle) beleuchtete in ihrem Vortrag Austausch und Rezeption theosophisch-alchemischen Wissens zwischen dem Halleschen Waisenhaus, als Stätte des institutionalisierten sog. Halleschen Pietismus, Friedrich Breckling (1629–1711) und dem Sulzbacher Pfalzgrafenhof im frühen 18. Jahrhundert. Da sich das Interesse der Beteiligten nicht auf die spekulative Alchemie beschränkte, lag ein besonderer Fokus auch auf laborpraktischen Kenntnissen. Insbesondere für die großangelegte Medikamentenproduktion des Halleschen Waisenhauses spielte die Wissensgenerierung in Bezug auf alchemische Praktiken und Erfahrungen in der Laborarbeit eine essentielle Rolle. Zu theosophisch-alchemischen Themen fand ein intensiver brieflicher Austausch zwischen Breckling als wichtigem Wegbereiter des Pietismus bzw. vehementem Kritiker innerhalb der lutherischen Kirche und mehreren Protagonisten am Halleschen Waisenhaus, insbesondere dem Waisenhaus-Gründer und -Direktor August Hermann Francke (1663–1727), statt. Dabei wurde alchemisches sowie kabbalistisches Wissen rezipiert, welches auf das Schaffen des Sulzbacher Kreises zurückging. Eine Einordung dieser Ergebnisse erfolgte mit den Begriffen des gemeinsamen "Referenzraums" sowie des spezifischen "Resonanzraums" des Wissens.
JÜRGEN HOLLWEG (Bayreuth) berichtete über den fürstlich brandenburgischen Bergmeister Franz Kretschmer (ca. 1545–nach 1603), der Mitglied in einem weitverzweigten Briefnetzwerk von Alchemikern am Ende des 16. Jahrhunderts war. Sein Lebenslauf ist bisher wenig erforscht und wurde anhand von vereinzelten Quellen dargestellt. Ab 1590 war er bis zu seinem Tod als Bergmeister und Bergbeauftragter in Diensten von Markgraf Georg Friedrich I. von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach. Im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens wurden Briefe an ihn sichergestellt, die sich mit der Goldmacherei beschäftigten, und die er von anderen Alchemikern empfangen hatte. Diese Briefe verdeutlichen, dass man nicht nur an den Fürstenhöfen eine Metalltransmutation versuchte, sondern die Begehrlichkeit nach Gold alle Bevölkerungsschichten erfasst hatte. Die Briefe wurden transkribiert und in einer kommentierten Edition vom Historischen Verein für Oberfranken herausgegeben. Eine detaillierte Auswertung des Alchemikernetzwerks und der Versuche zur Metalltransmutation wurden unter dem Titel „Goldmacher Geschichte(n). Das Netzwerk des fürstlich brandenburgischen Bergmeisters Franz Kretschmer“ publiziert.
Die alchemischen Bücher und Handschriften im Nachlass des Komponisten und Viola-Virtuosen Carl Stamitz (1745–1801) stellte JÜRGEN STREIN (Buchen) vor. Als Stamitz 1801 in Jena starb, hinterließ er einen unmündigen Sohn und eine große Zahl von Gläubigern. Zur Befriedigung ihrer Ansprüche und zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Sohnes ließ die Universität Jena ein Verzeichnis des Nachlasses von Stamitz anfertigen, der Grundlage für einen Versteigerungskatalog war. Aufbauend auf den Erwähnungen bei F. Kaiser1 ordnete Strein Stamitz’ Bibliothek nach Themen und Autoren. Er stellte fest, dass Stamitz vor allem Literatur zur alchemischen Praxis mit dem Ziel der Goldherstellung besaß – darauf deuten auch die versteigerten Realien, „Mineralien, chymische Educte und Producte, auch Apparate“, hin. Ähnlich prominent waren nur noch Texte einer spekulativen Theoalchemie vertreten. „Chemie“ als exakte Wissenschaft scheint weder im geistigen Horizont noch in der Laborpraxis bei Carl Stamitz eine Rolle gespielt zu haben. Vielmehr schien der praktizierende Alchemiker Stamitz die gesamte alchemisch-hermetische Literatur – von Paracelsus (mit zehn Bänden, fünf davon aus dem 16. Jahrhundert, vertreten) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – gleichermaßen wertgeschätzt zu haben. Da die Alchemie noch nicht das Interesse der historisch orientierten Wissenschaft gewonnen hatte, wurden die alchemischen Bücher bei der Versteigerung als wertlos verschleudert. Eine Umschau in den Katalogen der Bibliotheken mit Altbeständen zeigt, dass sie wohl nicht in deren Bestände eingegangen sind.
In ihrem Vortrag beschäftigte sich TINA ASMUSSEN (Bochum) mit der Alchemie im Berg- und Hüttenwesen der Frühneuzeit im mitteleuropäischen Raum und untersuchte diese im Zusammenhang mit den sozio-kulturellen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen seit dem späten Mittelalter. Asmussen verortete die alchemischen Praktiken in einer Montanindustrie, die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend von Krisen geprägt war. Metalle wurden als göttlicher Schatz verstanden, der durch menschliche Arbeit und alchemische Verfahren veredelt werden konnte. Als konkretes Beispiel führte sie die Zementkupferproduktion in den oberungarischen Montanregionen (Smolník, Špania Dolina, Banská Bystrica) an. Das Zementationsverfahren, eine chemische Reaktion zwischen Eisen und Kupfersulfat, wurde vom 15. bis 18. Jahrhundert als Beweis für die Möglichkeit der Transmutation betrachtet und in zahlreichen Publikationen diskutiert. Am Beispiel der Zementkupferproduktion, ihrer Umweltauswirkungen sowie der aus dem Kupfer gefertigten Schalen und Goldschmiedearbeiten hob Asmussen die Verbindung zwischen alchemischen, industriellen und kunsthandwerklichen Prozessen der Frühneuzeit hervor. Dabei betonte sie das Potenzial einer environmental alchemy, welche die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch, Materie und Umwelt beleuchtet.2
ANJA WEBER (Freiberg) stellte die Rolle von Siegelerden im Wandel der Zeit dar. Siegelerden wurden seit dem Altertum für pharmazeutische Zwecke gewonnen und genutzt. Besonders die Erden der Ägäischen Inseln Lemnos (heute Limnos), Chios, Samos und Kimolos fanden schon bei Hippokrates, Avicenna und Galen Erwähnung. Bis zur Frühen Neuzeit war die Popularität des „Wunderheilmittels“ weit über den Mittelmeerraum hinausgewachsen und Siegelerden gehörten damit zur Standardausstattung von Apotheken. Sie wurden als Pressling mit einem Siegel, welches womöglich als Echtheitszertifikat diente, oder lose als weißer und roter Bolus vertrieben. Über drei Generationen (1670–1807) hinweg trug die Apotheker-Familie Linck in Leipzig ein Naturalienkabinett zusammen, welches als „Sammlung Linck“ noch heute im Museum Naturalienkabinett Waldenburg in Sachsen zu sehen ist und unter anderem noch über 100 Siegelerden unterschiedlichster Herkunft enthält. Die Siegelerden-Sammlung auf Schloss Heidecksburg zählt weit über 600 Siegelerden. Hinweise auf Bolus und Terra Sigillata finden sich weiterhin in alchemischen Rezepten. In einem laufenden Projekt sollen mineralogische Untersuchungen dieser Objekte nicht nur weitere Fragen eröffnen, sondern auch deren naturwissenschaftliche Charakterisierung ermöglichen.
RAINER WERTHMANN (Kassel) stellte den Athanor des Heinrich Khunrath vor. Heinrich Khunrath veröffentlichte 1599 und 1603 eine Schrift über einen kleinen Laborofen, den er Athanor nannte und der bei ihm käuflich erworben werden konnte. Beschrieben wurden seine Vorteile und wozu er verwendet werden konnte, nicht aber alle technischen Details. Er war transportabel und arbeitete im Unterschied zu den üblichen kohlebetriebenen Laboröfen weitgehend konstant und wartungsfrei über Wochen, daneben so sauber, dass er in Wohnräumen betrieben werden konnte. Der Brennstoff war Ethanol, was aber in dem Büchlein nicht genannt wurde. 1611, sechs Jahre nach Khunraths Tod, schilderte Daniel Sennert in seiner „Institutionum Medicinae Libri V“ den Ofen so eingehend, dass man ihn aus diesen Angaben hätte nachbauen können. In den folgenden Jahren wurde der Ofen immer wieder in Büchern und Handschriften abgebildet, teils mit technischer Beschreibung, teils als künstlerisches Motiv auf Illustrationen und Titelblättern. Er kann als Vorläufer von Spiritusbrennern betrachtet werden, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert in chemischen Laboratorien verwendet wurden.
In einem neuen Format stellten Netzwerkmitglieder ihre kürzlich erschienene Bücher vor. ALEXANDER KRAFT (Eichwalde) gab einen Einblick in den Inhalt des Ende 2023 vom Salier Verlag in Eisfeld publizierten Buches „Zwei Herzöge im Goldrausch“. Auf der Basis einer sehr dichten archivalischen Überlieferung in den Thüringer Staatsarchiven Meiningen und Gotha wurde erstmals die etwa 20 Jahre andauernde intensive Beschäftigung der ersten beiden Herzöge von Sachsen-Meiningen mit der Alchemie geschildert. Bernhard I. und sein Sohn Ernst Ludwig I. nahmen zahlreiche auswärtige Alchemisten unter Vertrag und führten zum Teil mehrjährige alchemische Experimente durch. Eines der von ihnen durchgeführten Langzeitexperimente war das im Rahmen des Netzwerkes Alchemie nachgestellte Erdsalzrezept nach Sendivogius und Alstein. In diesem, wie in den meisten anderen Versuchen ging es um die Herstellung des Steins der Weisen zur Umwandlung unedler Metalle in Gold, was allerdings nie gelang. Das Buch ist eine Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins (HFG).
THOMAS MOENIUS (Inzlingen) stellte das in der Reihe Frühe Neuzeit (Verlag de Gruyter) erschienene Buch „Alchemie, Exotismus und Fürstenhof – Briefe und Dokumente zu Johann Otto von Helbig (1654–1698)“ vor. Helbig führte ein bewegtes und abwechslungsreiches Leben, das ihn im Auftrag der Vereinigten Ostindischen Companie (VOC) zunächst als Arzt nach Batavia, später dann als Alchemiker an unterschiedliche Fürstenhöfe führte. Eine Vielzahl weitverstreuter Briefe und Dokumente von ihm selbst, aber auch von Zeitgenossen über ihn wurden zusammengetragen und systematisch zusammengestellt. Das Buch erlaubt damit nicht nur eine Einordnung der Person Johann Otto von Helbigs, sondern liefert auch eine kommentierte Bibliographie seiner in Druck erschienenen Werke sowie eine umfangreiche Edition von bisher nicht bekannten Briefen und Dokumenten.
Zusammenfassend können wir konstatieren, dass auch der 11. Workshop der Veranstaltungsreihe „Alchemie in der Frühen Neuzeit“ des Netzwerkes Alchemie am Forschungszentrum sehr gut gelungen ist. Die Beiträge der Tagung waren erneut von hoher wissenschaftlicher Qualität. Das Netzwerk Alchemie konnte durch die Teilnahme weiterer Forschender auf diesem Gebiet erneut enger geknüpft werden. Eine Fortführung der Veranstaltungsreihe ist deshalb für 2025 geplant.3 Diese Folgeveranstaltung soll diesmal an der TU Freiberg stattfinden.
Konferenzübersicht:
Einführende Bemerkungen
Martin Mulsow (Erfurt/Gotha) / Thomas Moenius (Inzlingen)
Allgemeine Alchemie
Claudia Weiß / Holger Zaunstöck (Halle), Ein theosophisch-alchemischer Referenzraum um 1700? Hallesches Waisenhaus, Sulzbacher Hof und Friedrich Breckling
Jürgen Hollweg (Bayreuth), Goldmacher Geschichte(n). Das Netzwerk des fürstlich brandenburgischen Bergmeisters Franz Kretschmer
Jürgen Strein (Buchen), Der Komponist am Kapellöfchen – Der alchemische Nachlass des Kapellmeisters Carl Stamnitz (1745–1801)
Praxisnahe Alchemie
Tina Asmussen (Bochum), Untergründiges Schmelzwerk: Alchemie im frühneuzeitlichen Berg- und Hüttenwesen
Anja Weber (Freiberg), Terra Sigillata – die Rolle von Siegelerden im Wandel der Zeit
Rainer Werthmann (Kassel), Der Athanor des Heinrich Khunrath
Vorstellung neu erschienener Bücher
Alexander Kraft (Eichwalde), Zwei Herzöge im Goldrausch – Die Alchemie am Fürstenhof von Sachsen-Meiningen von 1680 bis 1724, Salier Verlag Eisfeld 2023
Jürgen Strein (Buchen), Thomas Moenius (Inzlingen): Alchemie, Exotismus und Fürstenhof - Briefe und Dokumente zu Johann Otto von Helbig (1654–1698), Frühe Neuzeit Band 256, De Gruyter Berlin 2024
Ausblick
Anmerkungen:
1 Friedrich Karl Kaiser, Carl Stamitz (1745–1801), Marburg 1962 [Diss.]; Friedrich Karl Kaiser, Carl Stamitz, in: Friedrich Blume (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 12, Kassel 1965, Spalte 1.157.
2 Donna Bilak / George Vrtis, Environmental Alchemy. Mercury-Gold Amalgamation Mining and the Transformation of the Earth, in: Ambix 70 (2023), S. 31–53.
3 Bei Interesse wenden Sie sich bitte an Martin Mulsow: martin.mulsow@uni-erfurt.de.