Über reine Wissenschaftsgeschichte hinausgehend beschäftigt sich die Wissensgeschichte mit den vielfältigen Phänomenen des Wissens und den Konstellationen, Prozessen und Dynamiken von Wissensdiskursen und Wissensaushandlung. Die Konferenz „Wissensräume: Konstruktion und Dynamiken des Wissens in der Antike“ in Kiel, die Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher altertumswissenschaftlicher Disziplinen vereinigte, zeigte die Fruchtbarkeit dieses Forschungsansatzes, der bislang vornehmlich für Mittelalter, Frühe Neuzeit und Moderne Anwendung fand, auch für die Antike auf. Ausgewählte Fallbeispiele von Wissensräumen (wie Poleis, Herrscherhöfe, Heiligtümer und Häuser) beleuchteten die Konstruktion und Transformation von Wissen von der griechischen Archaik bis zur Spätantike. Die Vorträge deckten dabei bewusst ein breites Spektrum an Untersuchungsgegenständen, Quellengattungen und methodischen Zugängen ab.
In seiner Einleitung ordnete ANDREAS SCHWAB (Kiel) die Tagung in jüngere wissensgeschichtliche Ansätze ein, die sich durch einen erweiterten Zugang auf Akteure, Räume und Gegenstände der Wissenskonstruktion auszeichnen. Im Anschluss an Überlegungen von Lorraine Daston, Marian Füssel, Philip Sarasin und Martin Mulsow eruierte Schwab verschiedene mögliche Zugänge einer Wissensgeschichte der Antike. Aus den Bereichen der begriffsgeschichtlichen Forschung, der jüngeren Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann, einer genealogischen Untersuchung von Epistemologien in Anschluss an Michel Foucault und schließlich einer von den Instanzen Autor, Text und Leser ausgehenden wissensbezogenen Interpretation lasse sich eine vielversprechende Heuristik zur Interpretation von Texten gewinnen. Unter Rückgriff auf Sarasins Aufsatz „Was ist Wissensgeschichte?“ (2011) hob Schwab dabei für die der Wissensgeschichte verpflichtete Konferenz vier Fragerichtungen besonders hervor, die die Ordnung und Systematisierung des Wissens, seine Repräsentationsformen und Medialität, seine Akteure und schließlich die historische Entwicklung von Geltungs- und Wahrheitsansprüchen fokussieren.
ATHANASSIOS VERGADOS (Newcastle) nahm im ersten Vortrag mit seiner Untersuchung der etymologischen Praxis in der antiken Lehrdichtung eine Form von Sprachreflexion in den Blick, deren Ergebnisse von der modernen Etymologieforschung in diachroner Hinsicht zumeist nicht bestätigt werden, die aber antiken Autoren zur synchronen Funktionserörterung eines Begriffs oder Worts diente. Dabei geht es weniger um eine allein gültige Herleitung, sondern die Gegenüberstellung und Abwägung verschiedener möglicher semantischer Zugänge. Für Hesiod, Empedokles, Dionysios Periegetes und Oppian zeichnete er die etymologische Methode als rhetorisches Mittel der Dichterkonkurrenz und zur Stützung eigener Wahrheitsansprüche nach.
Mit der Frage nach den Autoritätsansprüchen antiker Texte beschäftigte sich auch ELIZABETH IRWIN (New York). In ihrer eingehenden Untersuchung des Ägyptenlogos von Herodots Historien wies sie auf die pluriformen Quellen, Begriffe und Argumentationsweisen hin, die der Autor wohl mit bewusster Rücksicht auf die Wirkung dieser überfordernden Vielfalt auf seine Leser zusammenstellte und die über die Frage nach der Wahrheit einzelner Aussagen hinaus auch die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit allgemein zu behandeln scheinen.
In ganz anderer Weise wandte sich DOROTHEA ROHDE (Köln) in ihrem Vortrag den spezifisch weiblichen Wissensräumen im klassischen Athen zu. Diese ließen sich nicht alleine mit den Aussagen im Oikonomikos Xenophons und den gängigen Bildprogrammen der Grabstelen begreifen, sondern müssten zu deren Rekonstruktion auch weitere Quellen wie Fluchtafeln, Vasenbilder und die hinter den diskursiv dominanten Vorstellungen von weiblichen Tugenden, Aufenthalts- und Tätigkeitsbereichen statistisch fassbare Notwendigkeit weiblicher Berufstätigkeit für viele Athener Haushalte berücksichtigen. Frauen hatten nicht nur hier Anteil an für sie vermeintlich verschlossene Bereiche und Akteursgruppen von Wissen, auch die vor allem in der Oberschicht präsente Rolle als mögliche Mediatorinnen von Gerüchten zeigen die Durchlässigkeit von geschlechtsspezifischen Räumen und Auswirkungen von Wissen in der Realität auf.
In ihrer Keynote Lecture wandte sich LIBA TAUB (Cambridge) dem Symposium in seiner Besonderheit als zugleich Ort und Modus der Wissensproduktion zu. Nicht nur die platonischen Dialoge, sondern auch literarische Verarbeitungen des Symposiums wie Athenaios Gastmahl der Gelehrten weisen auf die hohe Stellung hin, die dem gesellschaftlichen Austausch und der kommunikativen Methode besonders in den griechischen Räumen des Wissens beigemessen wurden. Taub rief vor allem am Beispiel von Plutarchs Rückgriff auf das Symposium als Aushandlungsort von Wissen ins Gedächtnis, welche große Stellung wissenschaftlichen Gegenständen, Praktiken und Diskursen in diesen literarischen Darstellungen zukam.
Den zweiten Tag der Konferenz eröffnete ASTRID VAN OYEN (Nijmegen) mit einem Vortrag über die wissensstrukturierende Funktion von Objekten im häuslichen Kontext Pompejis. Der archäologische Befund weist für die Lagerung zwar eine recht kleine Zahl von verwendeten Objekten (Amphoren, Truhen), aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Nutzweisen aus. Dies wertete van Oyen als Widerspruch zur These des „entanglement“ als dem in gegenseitiger Dependenz bestehenden Verhältnis zwischen Menschen und Objekten; die Evidenz antiker Lagerordnungen scheint weniger eine Zuordnung von bestimmten Gegenständen zu funktionalen Räumen als eine für den einzelnen Haushalt idiosynkratische Zuordnung von Objekten zu Räumen, mithin also eine Vielzahl von möglichen „mental maps“ des antiken Haushalts nahezulegen, die sich auch zwischen seinen verschiedenen Bewohnern, etwa dem pater familias und seinen Sklaven, unterscheiden konnten.
Mit der literarischen Stilisierung der eigenen Position im Wissensraum in Horaz‘ Briefen im Vergleich zu seinen Satiren setzte sich GERNOT MÜLLER (Bonn) auseinander. Durch die zur Schau gestellte Distanz zu Rom markiere der Autor seine Überlegenheit und schaffe eine eigene Rechtfertigung seines epistolographischen Unternehmens, die gestützt auf ein kynisches Modell der Distanzierung von der Gesellschaft die Autorität der eigenen Meinung zu begründen versteht.
BABETT EDELMANN-SINGER (Berlin) beschäftigte sich am Beispiel des Jüdischen Krieges und seiner Tradierung in unterschiedlichen Wissensräumen mit der Frage, wie die Siege der flavischen Kaiser als zeithistorisches Wissen tradiert und durch verschiedene Gruppen angeeignet wurden. Vieles deutet daraufhin, dass die Beschreibung des Krieges und des Triumphzuges in Rom durch Flavius Josephus sich eng an das Selbstbild der Kaiser und die Erwartungen eines römischen Publikums anlehnte; besonders das templum pacis bildet dabei eine Verkörperung der flavischen Reichsvorstellungen. Josephusʼ Eingliederung der jüdischen Schätze, die im Triumphzug präsentiert wurden, in diesen konkreten Raum lässt sich jedoch zugleich als eine Form der „taktischen Aneignung“ begreifen, wie sie etwa auch in der Übernahme römischer Begriffe in die christlich-jüdische Tradition durch Paulus geschieht und die nicht-privilegierten Personen die Akzeptanz von Machtstrukturen ermöglichte. So gibt es Anhaltspunkte, dass Juden im 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. das templum pacis aufsuchten und ihn literarisch wie real als widerständigen Wissensraum zum Zweck der eigenen Positionierung nutzten.
In die spätantike Literatur, genauer den griechischen Roman, stieß BILL FURLEY (Heidelberg) mit seinem Vortrag über das Wissen des ägyptischen Priesters Kalasiris in Heliodors Aithiopika vor. Diese für die Erzähltechnik und den Fortlauf der Handlung zentrale Figur wirke weniger wie ein ägyptischer Priester als ein platonischer Philosoph, der zwar Wissen in den verschiedensten Bereichen wie der Weissagung, der Magie und der Homerexegese beanspruche, dabei aber doch mitunter stärker die Defizite oder falschen Wahrheitsansprüche seiner Methode oder dieser Disziplinen als solche aufscheinen lasse. Es handelt sich damit bei Kalasiris wohl um eine literarische Parodie, mit der Heliodor den Typus des spätantiken „Holy Man“ aufs Korn nahm.
Ebenfalls in der Spätantike gründete TIM WHITMARSHS (Cambridge) Auseinandersetzung mit der Verarbeitung der paganen Mythologie in Nonnosʼ Dionysiaka. Aus Konstantinopel, dem „Neuen Rom“ seiner Gegenwart, heraus verarbeitete der (christliche) Epiker die heidnischen Sagen um die Gründung von Theben, die er etwa Ovid und Statius entnehmen konnte, die aber auch bereits in Gregor von Nazianz‘ Rezeption der Bakchen des Euripides unter christlichen Vorzeichen gedeutet wurden, als eine Schablone der eigenen Weltdeutung. Dabei behandelt er die pagane Vergangenheit und ihre Traditionen nicht mehr als eine Gegenerzählung, sondern als zu imitierendes Objekt des eigenen poetischen Unternehmens, das sich als „simulacrum der alten Welt“ präsentiert. Hier offenbart sich ein neues, distanziertes und „ethnographisch“ zu nennendes Verständnis der alten, paganen Götter und Heroen.
Mit der Kriegsschriftstellerei der Kaiserzeit und ihrer wissensgeschichtlichen Funktion beschäftigte sich THERESIA RAUM (Berlin). Polyainos‘ Strategika, in denen etwa Elefanten eine prominente, aber vollkommen anachronistische Bedeutung einnehmen, und die militärwissenschaftlichen Notizen und Unterweisungen Arrians scheinen weniger konkretes Handwerkszeug als ein Mittel zur diskursiven Erörterung des Stellenwerts und der persönlichen Qualitäten militärischer Expertise zu bieten.
In seinem summierenden Abschluss hob GLENN MOST (Chicago / Berlin) die Transformation der Wissenschaftsgeschichte zu einer reflektierten und diversifizierten Wissensgeschichte als maßgebliche und paradigmatische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hervor. Gerade in den Altertumswissenschaften sieht er aber noch viel Forschungspotential und einen gewissen Nachholbedarf, da die griechische Wissenschaft als unmittelbare Vorgängerin moderner Wissenschaft gelte; noch immer richte sich der Blick in platonisch-aristotelischer Tradition stärker auf die episteme als auf die techne verschiedener Wissenschaftskulturen. Bei der interdisziplinären Ausrichtung der Tagung auf Wissensräume verbinden die Vorträge gemeinsame Schwerpunkte, in denen sich die Perspektiverweiterung der Wissensgeschichte als fruchtbar erweise: 1. Dynamische Prozesse des Wissens treten an die Stelle fester Doktrinen, 2. Die personale Dimension von Wissen, die sich in konkurrierenden Wissensbeständen und -ansprüchen manifestiere und 3. Der Blick auf angestrebte wie auch tatsächlich eingetretene Effekte von Wissen. Zukünftig könnten die der Konferenz zugrundeliegenden Fragen in weiteren Disziplinen wie Musik oder Medizin erweitert und mit Vergleichsmaterial aus anderen Kulturen (Asien, Südamerika) kontrastiert werden.
Konferenzübersicht:
Andreas Schwab (Kiel): Introduction
Athanassios Vergados (Newcastle upon Tyne): Etymologie und Wissenskonstruktion
Elizabeth Irwin (New York): The ‘Sources’ of the Nile: Encountering and Communicating ‘Knowledge’ in Herodotus’ Egyptian Narrative
Dorothea Rohde (Köln): Jenseits von Weben, Kindererziehung und Haushaltsführung. Weibliche Wissensräume im klassischen Athen
Liba Taub (Cambridge): Keynote: Science at the Symposium
Astrid van Oyen (Nijmegen): Making Things Forget: The Distributed Knowledge Landscape of Roman Domestic Storage
Gernot Müller (Bonn): From Town to Countryside. Concepts of Space in Horace’s Satires and Epistles
Susanna Fischer (München): Geographisches Wissen in der römischen Kaiserzeit
Babett Edelmann-Singer (Berlin): Wessen Wissen? Zur Konstruktion, Aneignung und Überlieferung konkurrierender Wissensbestände im kaiserzeitlichen Rom
Bill Furley (Heidelberg) Knowledge, Pretence and Lies: the Aspects of σοφία of Kalasiris, the Wise Priest, in Heliodorus
Tim Whitmarsh (Cambridge): Late Antique Epic and the Ethnography of Paganism
Theresia Raum (Berlin): The Elephant in the Book – Militärisches Fachwissen in der römischen Kaiserzeit
Glenn Most (Chicago / Berlin): Comments
Babett Edelmann-Singer (Berlin) / Andreas Schwab (Kiel): Closing Remarks