Welchen Mehrwert haben Streit und das Nachdenken über Streit in feministischen Bewegungen? Unter diese Leitfrage stellten die Veranstalterinnen in Kooperation mit der Landezentrale für politische Bildung Baden-Württemberg die Tagung „Streit unter ‚Schwestern‘“ – Feministische Konflikte, Debatten und Lösungen von 1800 bis heute. Mit der dreitägigen Konferenz beging der Verein von Frauen & Geschichte Baden-Württemberg e.V. im Haus auf der Alb in Bad Urach zugleich sein 30jähriges Jubiläum.
In der Begrüßung durch die Veranstalterinnen am Freitagabend erläuterten sie in drei Schritten ihre Tagungskonzeption, zu deren möglichst vielfältiger Teilnahme sie mit ihrem Call for Papers aufgerufen hatten. Erstens erläuterten sie, dass Streit feministische Bewegungen schon immer begleitete, im Großen wie im Kleinen. Streit sei immanenter Bestandteil feministischer Arbeit. Dabei ginge es stets um auch emotional geführte Konflikte um beispielsweise Zugehörigkeiten, Zielsetzungen und Strategien. Zweitens definierten die Veranstalterinnen ihr Streitverständnis als ein konstruktives. Streit sei ein durchaus komplexer Austausch mindestens zweier Parteien, der schließlich auf Beziehung setze, um Verbindendes und Trennendes herauszuarbeiten. Und drittens sollte die Veranstaltung dazu dienen, über Streit nachzudenken, d.h. sich streitbar wie selbstreflexiv mit Fragen nach Ausgrenzungen und Bündnispotenzialen zu beschäftigen. In der anschließenden Anfangsdiskussion wurde zusammengetragen, mit welchen Erwartungen und Fragen die Teilnehmer:innen der Veranstaltung entgegenblickten. Die genannten Stichworte, darunter Betroffenheit, Radikalität und Repräsentation machten deutlich: Es geht beim Thema feministisches Streiten auch und gerade um Verhandlungen und Umgangsweisen mit Erfahrungen, die mit Enttäuschungen, Vulnerabilitäten, Hoffnungen und Solidaritäten zusammenhängen. Es standen spannende Themen und Diskussionen bevor – und vielleicht sogar Streit.
Den Auftakt am Samstagmorgen machten MAREIKE TRAWNIK (Marburg) sowie SUSANNE MAURER (Marburg/Tübingen), die sich im ersten Panel zu „Streit schon von Anfang an?“ mit verschiedenen Aspekten von Konfliktlinien in der frühen Frauenbewegung beschäftigten. Trawnik zeigte anhand dreier „Louises“, die im Vormärz 1848/49 als Revolutionärinnen in Erscheinung traten, auf, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen von Beginn an im Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter lagen. Trawnik verwies mithilfe der Biografien zu Louise Otto, Louise Aston und Louise Dittmar auf Gegenpole historischer Frauenbewegungen: proletarisch oder bürgerlich, Gleichheits- oder Differenzfeminismus, Sozialreform oder Sozialismus. Susanne Maurer stellte im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegungen um 1900 die Frage, wer zu welcher Zeit als „radikal“ galt. Anhand britischer Frauenrechtlerinnen sowie Hedwig Dohm stellte Maurer heraus, dass Radikalität immer auch kontextspezifische Wahrnehmungs- und Definitionssache sei. „Wer riskiert was?“, warf sie als Frage in den Raum. Mit den Suffragetten als Beispiel machte Maurer deutlich, dass die Frage nach Radikalität eine standortbezogene sei. Als Gegenfigur zur Radikalität wurde Hedwig Dohm eingeführt, die gemeinhin als gemäßigter gegolten, sich aber auch immer wieder Vereindeutigenden entzogen habe. Die Anregungen der beiden ersten Vortragenden verwiesen auf historische Konfliktlinien, die nach wie vor aktuell sind.
Anknüpfend an diese ersten Streitpunkte beschäftigten sich JANA GÜNTHER (Darmstadt) und VINCENT STREICHHAHN (Schönhausen, Elbe) sowie RABEA OTTO (Kassel) in Panel zwei mit „‚Klassischen‘ Streitigkeiten“, d.h. mit den Fallstricken zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch, Klasse und Geschlecht. Günther und Streichhahn, die ihr gemeinsames Arbeiten als feministische Praxis begreifen, referierten über bedeutsame Akteurinnen der proletarischen Frauenbewegung. Mithilfe der Perspektiven des otherings und der kollektiven Identitäten verwiesen sie nicht nur auf die Heterogenität der Frauenbewegung, sondern auch auf den Umstand, dass die proletarischen Strömungen mittlerweile „in den Fußnoten verschwinden“. Trotz der Bedeutsamkeit der proletarischen Stimmen wie beispielsweise Adeline Berger oder Clara Zetkin würden diese zunehmend von der bürgerlichen Frauenbewegung abgegrenzt und ihnen wurde eine untergeordnete Rolle in der Geschichtsschreibung zu teil. Günther und Streichhahn stellten diesbezüglich die spannende These auf, dass der Bruch vor allem mit der Wende und der Ablehnung des Sozialismus einhergegangen sei. Otto gab Einblick in ihre Studien zur Aktion Unabhängiger Frauen in Wien (AUF) und ihren Verflechtungen und Bündnissen mit anderen Akteur:innen. So bot die AUF in ihrer Zeitschrift Forum für andere Gruppen und es gab gemeinsame Aktionen. Die AUF verstand sich auch als kapitalismuskritisch und kritisierte die Unterdrückung von (Homo)sexualität. In der Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen wie der Schwulenbewegung und der Neuen Linken tauchten jedoch zunehmend Konflikte auf, die unter anderem auf den männlichen Sprech- und Verhaltensweisen der Bündnispartner basierten. Ob eine Pluralisierung der AUF und ihrer Themen sie stärkte oder ihr eher schadete, diese Frage trug sich auch in die anschließende Diskussion. Insbesondere die Bedeutsamkeit feministischer Räume und Praxen, wie beispielsweise Zeitschriften, wurde im gemeinsamen Diskurs hervorgehoben.
Nach der Mittagspause, im dritten Panel unter dem Titel „Streit über Kernfragen“, widmeten sich MARIE KALTENBACH (Freiburg/Tübingen) und CORDULA TRUNK (Innsbruck) dem Konflikt um feministische Subjekte und Betroffenheiten. Kaltenbach beschäftigte sich mit feministischen Zugehörigkeiten, die seit den 1970er-Jahren mit dem Begriff der Betroffenheit verwoben sind. Am Beispiel von Kate Millett und ihrer Auseinandersetzung mit Prostitution/Sexarbeit wurde mit Kaltenbachs Vortrag deutlich, dass Betroffenheit keine Kategorie ohne Widersprüche ist. Kaltenbach plädierte dafür, auch die Bedingungen, unter denen Betroffenheit entstehen, immer wieder zu reflektieren. In der anschließenden Diskussion wurden Streitpunkte der feministischen Bewegungen deutlich: Über die Bedeutung von Betroffenheit wurde ebenso diskutiert wie über die Frage nach der Verwendung von Begrifflichkeiten und damit verbundenen Perspektivnahmen. Trunk gab anschließend einen Überblick über die Konflikte um das feministische Subjekt seit den 1970er-Jahren. Diesbezüglich richtungsweisende Debatten und Diskurse skizzierte sie am Beispiel von unter anderem Selbsterfahrungsgruppen und Konflikten um Theorien zu Sex/Gender/Queer/Feminismus. Trunk betonte die Bedeutung von feministischen Geschichten als Konfliktgeschichten und die Akzeptanz von Widersprüchen innerhalb der Bewegungen. In der anschließenden Diskussion wurden und blieben Fragen nach beispielsweise generationellen Zugehörigkeiten sowie etwaigen strategischen Bündnissen oder auch definitorischen Notwendigkeiten eines kollektiven feministischen Subjekts virulent.
LAURA HARTMANN (Marburg) und PIA MARZELL (Jena) fragten schließlich im letzten Tagespanel unter „Streitkulturen – intersektional“ nach der Verschränkung von race und gender. Hartmann gab einen Einblick in die Perspektiven von Audre Lorde, eine der einflussreichsten Aktivistinnen des 20. Jahrhunderts. Lorde habe Wut und Differenzen als Ausgangspunkte für die Möglichkeiten von Solidarität und sisterhood genommen. Dabei stellte Hartmann die Frage, wer sich für wen einsetzt, wo Ausschluss und wo Bündnisse entstehen. Insbesondere in der weißen Frauenbewegung wurden und würden Unterschiede zwischen Feminist:innen oft negiert, was Positionen jenseits der „mythischen Norm“ unsichtbar mache. Hartmann verstand es in ihrem Vortrag, sowohl auf diese Missstände zu verweisen, aber auch Hoffnung zu machen, dass Unterschiede als Potential genutzt werden könnten. Teilnehmende adressierten in der Diskussion ihre Schwierigkeiten, Wut auszuhalten. Andere wiederum mahnten an, dass Wut über Missstände vermehrt ausbliebe. Während einerseits auf fehlende Bündnisse hingewiesen wurde, zeigten sich doch auch Beispiele für neuen feministischen Widerstand. Marzell gab schließlich Einblicke in ihre Forschung. Sie sprach über Rassismus, dessen Auswirkungen und Verstrickungen in westdeutschen Neuen Frauenbewegungen der 1980er-Jahre, am Beispiel der Diskussionen um das Aufenthaltsrecht und des Arbeitsförderungsgesetzes für Gastarbeiterinnen. Zentral war am Schluss die Frage, wer welchen Raum als möglichen Ort für Diskussionen nutzen könne. Auch im Entschluss, Bündnisse zu fassen, muss die Frage nach Positionen gestellt werden. Jenseits von Differenzen unter Feminist:innen, die es ernst zu nehmen gelte, profitiere dennoch gerade der Antifeminismus von den internen Spaltungen.
Den Sonntagmorgen eröffneten JESSICA BOCK (Leipzig) und ANTONIA WEGNER (Freiburg) mit ihren Vorträgen zu Konflikten im Panel „Streit um und an Wendenpunkte(n)“. Bock erörterte anhand der Begegnungen zwischen Ost- und Westfrauen nach der Wende die sich daraus ergebenden Konfliktlinien. So gab es Annäherungsversuche, aber auch starke Differenzen. Anhand zweier Bücher aus der Zeit wurden beispielsweise die unterschiedlichen Lebenskonzepte deutlich. So sei Mutterschaft in der DDR untrennbar mit feministischer Bewegung und Arbeit verbunden gewesen, während im Westen Mutterschaft in der Frauenbewegung eher abgelehnt worden sei. Inzwischen, so Bock, scheine der Streit zwischen Ost- und Westfeminismus eingeschlafen zu sein. Sie plädierte für eine erneute Aufnahme der Diskussionen und Differenzen, um insbesondere auch die Frauenbewegungen der DDR nicht unsichtbar zu machen. Diskutiert wurden anschließend Kontroversen um feministische Umgangsweisen mit den politischen Umbrüchen seit den 1990er-Jahren. Wegner stellte ihre Recherchen zur UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking vor, auch als Ausgangspunkt für die ambivalente Karriere des Begriffs gender. Anhand des Beispiels von Vatikanbotschafterin Mary Ann Glendon und ihren feministisch gerahmten Ansätzen innerhalb der katholischen Kirche, warf Wegner die Frage auf, inwiefern die Weltfrauenkonferenz auch als Wegmarke für den nachfolgend aufkommenden Antigenderismus verstanden werden könnte. Die Teilnehmer:innen diskutierten anschließend über das Verhältnis von Feminist:innen zu traditionell mächtigen, binäre Geschlechterhierachien festschreibenden Institutionen und die Frage nach Möglichkeiten, aber auch strategischen Notwendigkeiten feministischer Solidaritäten.
Den Impuls für die Abschlussdiskussion setzte FELIZITAS SAGEBIEL (Wuppertal) in Form von zehn Thesen hinsichtlich feministischer Streitigkeiten, ihre Anlässe, Austragungsarten und Auswirkungen. Die Abschlussdiskussion brachte noch einmal prägnant Konfliktlinien und Gemeinsamkeiten zusammen. Große Relevanz wurde feministischer Erinnerungskultur zugesprochen, die historische Konflikte, Kompromisse und Lösungen bei gleichzeitiger Vielfalt und Offenheit gegenüber Themen und Repräsentant:innen aktueller feministischer Anliegen beinhalte. Relevanz wurde auch dem – mitunter streitbaren – Sprechen über Streit zugesprochen, das Interesse und Offenheit an Gegenpositionen voraussetze. Auch und gerade angesichts des nationalen wie internationalen Erstarkens von antifeministischen Bestrebungen wurden Impulse gesetzt, wie: Feministische Mitstreiter:innen sehen, ihnen zuhören und sie empowern, Platz machen und Repräsentationen fördern, Bewusstsein für reziproke Solidaritäten schaffen oder auch Offenheit für neue Bündnismöglichkeiten herstellen. Damit endete eine generationenübergreifende, spannende Tagung, die mit viel neuem Input, alten und neuen Fragezeichnen und Möglichkeiten der Veränderung zurückließ.
Konferenzübersicht:
Bea Dörr / Vorbereitungsteam Frauen & Geschichte (Mannheim / Urach): Was bringt es über Streit zu streiten? Begrüßung und Einführung, Austausch und Diskussion
Panel 1: Streit von Anfang an?
Mareike Trawnik (Marburg): Dreimal Louise. Konfliktlinien in der frühen deutschen Frauenbewegung
Susanne Maurer (Marburg/Tübingen): (Zu) Radikal um 1900? Die Suffragettes als Stein des Anstoßes
Panel 2: ‚Klassische‘ Streitigkeiten. Frau und/oder Arbeiterin?
Jana Günther (Darmstadt) und Vincent Streichhahn (Schönhausen (Elbe)): „Othering“ des Proletarischen in der Frauenbewegung
Rabea Otto (Kassel): Verbündet, verflochten, verstritten? Die Aktion Unabhängiger Frauen (Wien) in den 1970ern
Panel 3: Streit über Kernfragen
Marie Kaltenbach (Freiburg/Tübingen): Betroffenheit – Funktionsanalyse eines Begriffs der feministischen Bewegung
Cordula Trunk (Innsbruck): A never ending story? Streit um das feministische Subjekt
Panel 4: Streitkulturen – intersektional
Laura Hartmann (Marburg): Das Potenzial von Wut und Differenzen für feministische Solidarität und „sisterhood“
Pia Marzell (Jena): Intersektionalität erlernen? Konflikte um Rassismus in der Neuen Frauenbewegung der 1980er Jahre
Panel 5: Streit um und an Wendepunkte(n)
Jessica Bock (Leipzig): Stiefschwestern? Ost- und westdeutsche Frauenbewegungen zu Beginn der 1990er Jahre zwischen Konflikt und Verständigung
Antonia Wegner (Freiburg): Streit um ‚gender‘ auf der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 als Wegmarke für Gleichstellungspolitik und Antifeminismus
Abschlussdiskussion mit Impuls
Felizitas Sagebiel (Wuppertal): Impuls. Schwesternstreit Anlässe, Austragungsarten und Auswirkungen