Erinnerungskultur als Dimension gesellschaftlichen Zusammenhalts

Erinnerungskultur als Dimension gesellschaftlichen Zusammenhalts

Veranstalter
Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Zentrum für Antisemitismusforschung / TU Berlin
Veranstaltungsort
Technische Universität Berlin, HBS-Gebäude, Hardenbergstraße 16-18
Gefördert durch
BMBF, Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in der Bundesrepublik Deutschland
PLZ
10623
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2021 - 23.11.2021
Deadline
31.10.2021
Von
Mathias Berek, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Hilft Erinnerung gegen Fliehkräfte, oder: Brauchen Gruppen und Gesellschaften die Vergangenheit für ihren Zusammenhalt? Eine Tagung des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) diskutiert diese Fragen anhand der Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft, des kollektiven Erinnerns an Nationalsozialismus, DDR und Wende und mit Blick auf die globale Dimension von kollektivem Gedächtnis.

Erinnerungskultur als Dimension gesellschaftlichen Zusammenhalts

Die Entstehung der Memory Studies Ende des 20. Jahrhunderts ist ein Symptom für das, was vielfach als „Erinnerungsboom“ bezeichnet wird. Die Konjunktur von Erinnerungsforschung und -praktiken wirkt sich unmittelbar auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft aus. Ganz unterschiedliche, teilweise sich diametral gegenüberstehende Konzepte von Zusammenhalt bedienen sich der Erinnerung an Vergangenes nicht nur, sie sind auch selbst Ergebnis dieser Erinnerung. Dementsprechend entzündet sich der Streit zwischen Zusammenhaltsvorstellungen auch immer wieder an der Vergangenheit. Kollektive Erinnerung erweist sich als ein zentrales Konfliktfeld, auf dem gesellschaftliche Teilgruppen um die Deutung von Vergangenheit sowie um Anerkennung und Sichtbarkeit ringen. Zugleich birgt sie das Versprechen auf heilende Wirkungen und Versöhnung.

Exemplarisch lässt sich das Spannungsfeld zwischen Konflikt und Heilungsversprechen an gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland nachzeichnen. Dazu gehört die Auseinandersetzung über das etablierte und staatstragende Bekenntnis zur NS-Erinnerung einerseits und neuerliche Schlussstrichforderungen andererseits. Dazu gehören aber auch jene zwischen Ost und West oder migrantischer und nichtmigrantischer Bevölkerung verlaufenden, von Verletzungen und Ausgrenzungserfahrungen geprägten Risse in dem, was gemeinhin als „kollektives Gedächtnis“ bezeichnet wird. Der Eindruck des gesamtgesellschaftlichen Desinteresses an der „anderen“ Geschichte untergräbt jedes Gefühl von Zusammenhalt bei denen, deren Geschichte(n) nicht dazu zu zählen scheinen. Die Vielfalt von Erinnerungskulturen in der Post-Wende- und Einwanderungsgesellschaft harrt noch ihrer Anerkennung. Das gilt für die Erinnerung an die DDR-Geschichte, die (Nach-)Wende-Zeit ebenso wie für migrantische Herkunfts- und Ankommensgeschichten oder Verfolgungsgeschichten marginalisierter Gruppen. Gleichzeitig lässt sich keins dieser Spannungsfelder allein in nationalen Containern verstehen. Sie sind vielfach mit übergreifenden, globalen Vergangenheitsdeutungen und Erinnerungspraxen verwoben.

Die Tagung des FGZ-Clusters 3: „Historische, globale und regionale Varianz des Zusammenhalts“ widmet sich dieser Bandbreite von Vergangenheitsbezügen bei der (Des-)Integration von Kollektiven und Gesellschaften. Die Panels befassen sich mit der globalen Dimension von kollektivem Gedächtnis, dessen Status Quo in der postmigrantischen Gesellschaft, der Erinnerung an Nationalsozialismus, DDR und Wende. Die Beiträge stammen aus der Geschichtswissenschaft, Sozialpsychologie, Global Studies, Kulturtheorie, Ethnologie und Literaturwissenschaft.

In einer Abendveranstaltung diskutieren Dan Diner, María do Mar Castro Varela und Bénédicte Savoy über erinnerungspolitische Kämpfe um Shoah, Kolonialismus und Bedürfnisse der Gegenwart.

Die Tagung findet als Präsenzveranstaltung unter Einhaltung der geltenden Hygieneregeln in Berlin statt. Die Platzzahl ist begrenzt, die Teilnahme ist kostenlos. Die Räumlichkeiten sind barrierefrei. Um Anmeldung bis 31.10. für die Präsenztagung wird gebeten: j.wilson@campus.tu-berlin.de

Die Abendveranstaltung findet im Hybridformat statt und wird als Webinar gestreamt. Der Zugangslink wird im Vorfeld unter der u.g. Adresse bekannt gegeben.

Programm

22. November
12.15 - 13 Uhr Einführungsvortrag
„Zusammenhalt durch oder trotz Erinnerung? Über die schwierige Beziehung zweier unklarer Begriffe“ (Mathias Berek, Berlin)
Moderation: Matthias Middell (Leipzig)

13.10-15.20 Uhr Panel I: Erinnerung Global
Moderation: Mathias Berek (Berlin)

Die Globalisierungsschübe der letzten Dekaden haben sich auch auf den Bereich der Erinnerung ausgewirkt. Immer weniger und immer seltener scheinen Erinnerungen allein in nationalen Containern verstehbar zu sein. Vielmehr transzendieren sie nationalstaatliche Grenzen oder stehen zumindest in einem Spannungsverhältnis zu diesen. Das heißt aber auch, dass sie sich in jeweils spezifischen räumlichen Settings situieren und diese gleichzeitig mitgestalten und hervorbringen. Kollektives Erinnern spielt sich also in einem dynamischen Feld ab, in dem unterschiedliche, gewissermaßen postnationale erinnerungskulturelle Kontexte aufeinander Bezug nehmen, die sich wiederum auf nationale Erinnerungspolitiken auswirken. Das Panel wird die skizzierten Entwicklungen anhand sowohl eines Überblicks als auch von Fallbeispielen veranschaulichen. 
- „Kollektives Gedächtnis, Erinnerungspolitik und Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“ (Matthias Middell / Therese Mager, Leipzig)
- „Apologizing Like the Germans? Dealing With the Violent Past in Today’s China“ (Man Zhang, Leipzig)
- „Kritische Materialsichtung. Das Vietnam War Crimes Tribunal 1966/67 im Archiv multidirektionalen Erinnerns“ (Anna Pollmann, Konstanz)

15.50-18.00 Uhr Panel II: Erinnerung an DDR und Wende
Moderation: Sina Arnold (Berlin)

30 Jahre nach der Wende zeichnen sich vielschichtige und vielstimmige Formen der Erinnerung ab, die das in den Jahrzehnten zuvor etablierte Narrativ ‘Friedliche Revolution/Wiedervereinigung’ herausfordern. Dabei rücken Rassismus, rechte Gewalt (‘Baseballschlägerjahre’) und migrantische, jüdische und PoC-Perspektiven zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zudem werden die insbesondere im Zuge von Privatisierungspolitik und damit zusammenhängender Arbeitslosigkeit gemachten Ohnmachts- und Abwertungserfahrungen verstärkt thematisiert. Schließlich entsteht eine neurechte Geschichtspolitik, die nicht nur den Status des Holocaust-Gedenkens in der Berliner Republik angreift, sondern auch die Tradition der Bürgerrechtsbewegung im Rahmen des Kampfes für eine völkische Ordnung in Anspruch zu nehmen versucht. Das Panel wird einige der skizzierten, durchaus widersprüchlichen Entwicklungslinien nachzeichnen und aufeinander beziehen.
- „‚Bischofferode ist überall‘: Zur Erinnerung an die Arbeitskämpfe der Wende- und Postwendezeit“ (Felix Axster, Berlin)
- „Wir sind das Volk. DDR-Erinnerung und neurechte Geschichtspolitik“ (Anja Thiele, Jena)
- „‚Wir waren nicht existent‘: Mauerfall und Postwendezeit aus der Perspektive von einstigen DDR-Vertragsarbeiter*innen“ (Ines Grau, Konstanz)

19-21 Uhr Roundtable: Zwischen Singularität und Verflechtungsgeschichte. Erinnerungspolitische Kämpfe um Shoah, Kolonialismus und Bedürfnisse der Gegenwart
In Kooperation mit der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in der Bundesrepublik Deutschland

Es diskutieren: Dan Diner (Hebräische Universität Jerusalem / Universität Leipzig), María do Mar Castro Varela (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Bénédicte Savoy (Technische Universität Berlin)
Moderation: Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung / Technische Universität Berlin, FGZ)

Seit einiger Zeit lässt sich eine Konjunktur geschichtspolitischer Debatten in Deutschland beobachten, die manche:n Kommentator:in veranlasst, von einer Neuauflage des Historikerstreits der 1980er Jahre zu sprechen. Dabei steht zum einen die Frage im Raum, in welchem Verhältnis der Holocaust zu den kolonialen Verbrechen und Genoziden seit der Neuzeit steht. Zum anderen wird diskutiert, ob das Holocaust-Gedenken als zentraler Bestandteil der Erinnerungskultur der Berliner Republik und als Mittel zur Reformulierung einer deutschen Identität im Zeichen von Auschwitz ausschließende Effekte hat: Wer gehört zur Erinnerungsgemeinschaft dazu und wer nicht, wer wird bei offiziellen Gedenkveran­staltun­gen adressiert und wer nicht, was bedeutet Erinnern in der Migrationsgesellschaft und in welcher Beziehung steht es zu Restitution und Entschädigung?

23. November
10.15-12.30 Uhr Panel III: Erinnerung an den Nationalsozialismus
Moderation: Anna Pollmann (Konstanz)

Die Geschichte Deutschlands seit 1945 lässt sich auch als Geschichte der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen über das NS-Gedenken erzählen. Lange Zeit waren Abwehrhaltungen dominant, die sich vor allem in dem viel beschworenen Schweigen, aber oftmals auch in apologetischen oder relativierenden Tendenzen ausdrückten. Inzwischen allerdings gehört die Anerkennung der aus Auschwitz resultierenden Verantwortung zur Staatsräson. Deutschland gilt weithin als eine Art ‚Erinnerungsweltmeister‘ und erhält gerade auch aus dem Ausland viel Anerkennung für die offizielle Erinnerungskultur. Gleichwohl haben Antisemitismus und NS-Verklärungen Konjunktur, wie nicht zuletzt die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung deutlich machen, und ist ein Schuldabwehr-Antisemitismus in großen Teilen der Bevölkerung fest verankert. Das Panel wird diese gegenläufigen Entwicklungen thematisieren und nach ihren Zusammenhängen fragen.
- „Kontinuitäten des Antisemitismus in Post-NS-Deutschland“ (Julia Schuler, Leipzig)
- „Experimentalpsychologische Forschung zu Täterrollen“ (Immo Fritsche / Annedore Hoppe, Leipzig)
- „Verzerrte Perspektiven auf die Zeit des Nationalsozialismus?“ (Michael Papendick, Bielefeld)

13.30-15 Uhr Panel IV: Erinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft
Moderation: Felix Axster (Berlin)

Obwohl Migration und Einwanderung Deutschland schon lange prägen, hat erst um die Jahrtausendwende ein Wandel im offiziellen Selbstbild stattgefunden. Demnach wird die deutsche Gesellschaft zunehmend als plurale, globalisierte und postmigrantische Gesellschaft verstanden und wahrgenommen – auch wenn dieser Wandel umkämpft ist und völkische Kräfte ihn rückgängig zu machen versuchen. Entsprechend sind auch Erinnerungskultur und -politik einem Wandel unterworfen. Denn es gilt, die vielschichtigen Erinnerungen und historischen Bezüge der ‚Gesellschaft der Vielen‘ zu integrieren. Verschiedene Konfliktfelder zeichnen sich ab, aber auch methodische Vorschläge und Orientierungsversuche, die von der Möglichkeit produktiver Bezugnahmen und Verknüpfungen ausgehen. Das Panel wird beiden Perspektiven – Konflikt und Potenzial – Raum geben.
- „Marginalisierte Multidirektionalität: Erinnerungskonkurrenz und Ermöglichungsbedingungen in der politisch-historischen Bildungsarbeit“ (Sina Arnold, Berlin)
- „Die Schwierigkeit, Rassismus zu erinnern“ (Maria Alexopoulou, Berlin)

15.00-15:30 Uhr Zusammenfassung und Ausblick

Kontakt

berek@tu-berlin.de

https://www.fgz-risc.de/veranstaltungen/details/erinnerungskultur-als-dimension-gesellschaftlichen-zusammenhalts