Cover
Titel
Unter Freunden. Nähe und Distanz in sozialen Netzwerken der Spätantike


Autor(en)
Ruprecht, Seraina
Reihe
Vestigia. Beiträge zur Alten Geschichte (74)
Erschienen
München 2021: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maik Patzelt, Historisches Seminar, Universität Osnabrück

Während in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse an spätantiken Eliten, ihrer Konstitution und ihren sozialen Netzwerken zu verzeichnen ist, ist in der Erforschung ihrer Freundschaftspflege eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten. Überlegungen zur Freundschaft als konstitutives Element dieser Eliten fanden zwar regelmäßig ihren Platz in kleineren Veröffentlichungen. Doch gingen diese Überlegungen selten über die idealisierten Vorstellungen von ethischer Freundschaft und Patronage hinaus oder nahmen zu Gunsten eines Fokus auf Rang und Status einen eher nachrangigen Platz ein. Vielmehr richtete sich der Blick auf die (spät)antiken Freundschaftstheorien und den Wandel, den sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Christentums erfahren hätten. Ein ähnliches Urteil ließe sich daher über die Erforschung christlicher Freundschaften fällen, die zumeist tief in theologischen und damit idealisierenden Debatten gefangen ist.

Umso erfreulicher ist daher der vorliegende Versuch von Seraina Ruprecht, der Freundschaft eine umfassende Untersuchung zu widmen, die nicht nur die Vorstellungen und Konzeptionen, sondern auch die Performanzen von Freundschaft erschließt. Mit diesem erweiterten Zugang fängt sie die Regeln und die Interaktionsformen ein, mit denen Freundschaften bei den spätantiken Eliten und Klerikern gepflegt und fortlaufend verändert wurden. Denn mit dem Performanzbegriff, den Ruprecht aus einem breiten geschichtswissenschaftlichen Forschungsdiskurs erarbeitet, stehen für sie die Momente im Vordergrund, in denen menschliches Handeln und Verhalten situativ Bedeutungszusammenhänge und Realitäten hervorbringen, die im jeweiligen Moment die Zuschreibung von Freundschaft erlaubt. Dabei wendet sich Ruprecht dem römischen Osten zu, dem im Vergleich zum römischen Westen bisweilen weniger Aufmerksamkeit zukam, wenn es darum ging, Freundschaften als Performanzen oder soziale Praktiken zu verstehen.

Die Untersuchung baut hierfür auf drei zentralen Fragen auf. Sie fragt (1) nach dem Konzept von philia, (2) nach der „Performanz“ von Nähe und Distanz, an der sich die „graduelle Abstufung“ einer Freundschaftsbeziehung bemisst, sowie (3) nach dem Einfluss christlicher Lehren und Vorstellungen sowohl auf das Konzept als auch auf die Performanz von Freundschaft.

An diesen Leitfragen orientiert sich der logische Aufbau der Untersuchung, die zwei Autoren bzw. Autorenzirkel im Blick hat – den „paganen“ Redner Libanios (Kap. ii) und die christlichen Autoren Johannes Chrysostomos, Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa (Kap. iii). So erschließt jedes dieser Kapitel zunächst das Konzept von philia, das die jeweiligen Autoren skizzieren (ii 2; iii 2), bevor den Praktiken von Nähe und Distanz nachgegangen wird. Letzteres nimmt die zentralen Institutionen in den Blick, in denen Distanz und Nähe konstituiert und reproduziert werden: die Morgenbegrüßung salutatio (Kap. ii 3) und das Gastmahl convivium ( Kap. iii 3). Auf diesem Wege kann Ruprecht aufzeigen, dass freundschaftliche Beziehungen weder verbindlich noch beständig waren. Sie mussten, anders als es die Debatten zu Freundschaftstheorien erkennen ließen, durch wiederholte Interaktion und Kommunikation – durch einen reziproken Austausch – hergestellt, fortlaufend reproduziert und damit auch fortlaufend nuanciert werden. In diesem Spiel von Nähe und Distanz, so arbeitet Ruprecht deutlich heraus, kam der Öffentlichkeit als kontrollierende Instanz eine besondere Bedeutung zu. Diesen Ausführungen gehen biographische Überlegungen voran, mit denen die Praktiken und Konzepte eines Libanios oder eines Chrysostom anhand ihrer jeweiligen Einbettung in soziale Netzwerke und anhand ihrer jeweiligen sozialen Stellung nachvollzogen werden (ii 1; iii 1).

Dieser Performanz „unter Anwesenden“ wird die Performanz „unter Abwesenden“ gegenübergestellt (ii 4; iii 4). Damit rückt die Studie die spätantike Briefkultur in den Vordergrund, die die Erforschung spätantiker sozialer Netzwerke in der Spätantike dominiert. Auch hier, so Ruprecht, sind Nähe und Distanz nur durch die Öffentlichkeit, zu der sie kommuniziert werden, wirksam. Dies trifft auch auf einen Aspekt der spätantiken Briefkultur zu, der bei einer Untersuchung zur Freundschaftspflege leicht vergessen werden kann: die Performanz von Feindschaft. Über das Format des offenen Briefes kann Ruprecht aufzeigen, wie Feindschaften – insbesondere unter konkurrierenden Klerikern – öffentlichkeitswirksam und verbindlich gepflegt wurden.

Die Gegenüberstellung eines „paganen“ Autors mit christlichen Autoren entlang derselben Kapitelstruktur erlaubt es Ruprecht schließlich, der Frage nach christlichen Einflüssen auf das Konzept und die Performanz von Freundschaft nachzugehen. Indem sie den Differenzen und Gemeinsamkeiten der Freundschaftspflege nachspürt, arbeitet sie heraus, dass in christlichen Kreisen zunehmend konkurrierende Formen der Freundschaft gelebt wurden, da sich weltliche und klerikale Maßstäbe der Freundschaftspflege zusehend überlagerten und mithin unvereinbar gegenüberstanden. Während sich der soziale Austausch mit den weltlichen Eliten trotz aller Polemiken weiterhin nach den Konzepten und Praktiken aristokratischer Freundschaftspflege richtete, kristallisierte sich innerhalb des Klerus eine an dogmatische Bedürfnisse angepasste Form der Freundschaft aus, die zwar als agapé von der philia semantisch getrennt wurde, aber weitestgehend gleichen Mustern folgte. Sie hat weniger einen Wandel als eine Umdeutung erfahren. Bestehende Formen der Freundschaftspflege wurden theologisch neu konturiert und so mit einer neuen Symbolik versehen. Darunter fällt beispielsweise der brüderliche Kuss.

Obwohl die Untersuchung in ihrem Titel nach „sozialen Netzwerken in der Spätantike“ fragt, verzichtet sie auf einen netzwerktheoretischen oder netzwerkanalytischen Ansatz. Stattdessen überwiegen Perspektiven, die wesentlich auf Studien zur Kommunikation im Rom der frühen Kaiserzeit und Spätantike zurückgreifen. Das ist jedoch kein Nachteil. Freunde der historischen Anthropologie werden das Ausbleiben netzwerktheoretischer Ansätze sogar begrüßen. Denn statt eines geschlossenen Modells, das im weiteren Verlauf der Arbeit nur noch episodisch aufgegriffen wird, wird ein offenes Design geboten, das die Performanz mit der historischen Semantik (Koselleck) und mit systemtheoretischen Überlegungen zur Kommunikation (Luhmann) und Vertrauen (Simmel) verwebt und je nach Bedarf weitere Debatten und Methoden aufnimmt.

Allerdings lässt sich die Studie im Zuge dieser Offenheit auch gelegentlich von diesen Debatten und Methoden davontragen. Dies betrifft etwa Unterkapitel zur „sozialen Mobilität“, zum „sozialen Kapital“ oder zum „affektiven Sprachgebrauch“. Solche Ausführungen sind zwar überaus aufschlussreich, aber im Hinblick auf die Untersuchungsfrage nicht immer zwingend. Sie laufen Gefahr, die Aufmerksamkeit der Leser:innen mithin zu weit auf andere Theorien und ihre zentralen Begriffe abzulenken. Auch sorgen Begriffe wie „Inszenierung“ und „soziale Praxis“ dafür, dass der Begriff Performanz hin und wieder an Schärfe einbüßt.

Diese marginalen Anmerkungen schmälern den Erfolg der Untersuchung jedoch in keiner Weise. Mit Ruprechts Studie liegt ein weiterer, wichtiger und gelungener Schritt vor, die Konstitution sozialer Netzwerke der Spätantike von ihren Praktiken – ihren Performanzen – her zu erschließen. Damit ergänzt diese Arbeit nicht nur die jüngsten Beiträge zur freundschaftlichen Netzwerken im spätantiken christlichen Westen. Sie bietet hinreichend Grundlage für weitere Studien, die sich beispielsweise den Themen zuwenden können, die für die Spätantike weitestgehend unterbeleuchtet sind und dank Ruprechts Studie wieder in unsere Erinnerung gerufen wurde. Dies beträfe etwa die salutatio.

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