J. Timpe u.a. (Hrsg.): Writing the Digital History of Nazi Germany

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Titel
Writing the Digital History of Nazi Germany. Potentialities and Challenges of Digitally Researching and Presenting the History of the Third Reich, World War II, and the Holocaust


Herausgeber
Timpe, Julia; Buda, Frederike
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 229 S.
Preis
€ 81,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Borggräfe, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Wie können die Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus von der Nutzung digitaler Tools und Ansätze profitieren? Und welche Herausforderungen stellen sich für Historiker:innen im Feld des Digitalen? Diesen Leitfragen geht der von Julia Timpe und Frederike Buda herausgegebene Sammelband Writing the Digital History of Nazi Germany nach. Der auch im Open Access verfügbare Band basiert auf einer Tagung an der Jacobs University Bremen im Jahr 2019, die im Kontext eines Projekts zur Erstellung eines digitalen 3D-Modells des U-Boot-Bunkers „Valentin“ ausgerichtet wurde. Der Titel des Bandes ist freilich ein wenig irreführend, denn nur zwei der (neben einer Einleitung) sieben Beiträge behandeln die digitalgestützte Erforschung der NS-Geschichte, während zwei andere Beiträge eine digitale Quellenedition bzw. das Online-Angebot eines Archivs vorstellen und die drei weiteren Beiträge Formen der digitalen Erinnerung zum Gegenstand haben. Hilfreich für diejenigen, die neu in das Themenfeld einsteigen, ist eine kommentierte Liste von Fachliteratur und Online-Ressourcen am Ende des Buches.

Mit dem inhaltlichen Profil stehen der Band und die vorausgegangene Tagung in einer Reihe ähnlicher Veranstaltungen, bei denen Aspekte einer digitalen NS-Geschichte ebenfalls mit Fokus auf die Vermittlung und Erinnerung behandelt wurden.1 In ihrer Einleitung betonen Julia Timpe und Frederike Buda denn auch diese enge Bindung an die Public History als Besonderheit von Forschungen zu Nationalsozialismus und Holocaust. Dies ist zweifellos richtig und wichtig, es wäre jedoch wünschenswert, wenn daneben auch die Diskussion digitaler Forschungsmethoden und -ansätze und hierdurch erzielbarer Erkenntnisgewinne mehr Raum erhielte. Interessant ist das in der Einleitung herausgestellte Tagungsresümee, dass sich in der digitalen Ära das Handwerkszeug von Historiker:innen nicht grundlegend verändere, die Quellenkritik eher eines Updates als einer Neukonzeption bedürfe und viele vermeintlich neue Herausforderungen sich schon zuvor gestellt hätten. Die Herausgeberinnen nehmen damit in der breiteren Fachdiskussion über die Auswirkungen des Digitalen2 eine eher zurückhaltende Position ein. Hierbei ist jedoch vielleicht zu bedenken, dass wir es in der NS-Forschung, anders als in der jüngsten Zeitgeschichte, ganz überwiegend mit digitalisierten Papierquellen und audiovisuellen Zeugnissen zu tun haben, noch nicht mit Quellen, die digital entstanden sind. Zum anderen basieren nur wenige Beiträge des Bandes auf dem Einsatz digitaler Forschungstools, deren Funktionsweise es ja zu verstehen gilt. Bei Projekten, die in anderen Beiträgen vorgestellt werden, speisen Historiker:innen in klassischer Weise erstellte Texte sowie Bilddateien „nur“ in Redaktionssysteme von Online-Vermittlungsangeboten ein.

Im ersten Teil des Bandes behandeln zwei Beiträge Projekte, die Quellen digital zugänglich machen. Sonja Dickow-Rotter und Daniel Burckhardt präsentieren die digitale Quellenedition Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Die Edition stellt etwa 130 aufwendig aufbereitete Quellen bereit. Zusätzlich bietet die Website unter anderem Online-Ausstellungen. Ebenso interessant wie anspruchsvoll ist das Ziel, wissenschaftliche Standards des digitalen Edierens und der Langzeitarchivierung mit der auch in anderen Beiträgen angesprochenen Notwendigkeit einer attraktiven Webpräsentation in Einklang zu bringen. Christiane Charlotte Weber stellt in ihrem Beitrag das Onlinearchiv und den e-Guide der Arolsen Archives vor.3 In den letzten Jahren hat die Einrichtung den Großteil ihres riesigen Archivs online veröffentlicht, um es ungeachtet des defizitären Erschließungsstands breit zugänglich zu machen. Zusätzlich wurde mit dem e-Guide ein Tool aufgebaut, um die in sehr großer Zahl verstreut überlieferten Karteikarten über KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter:innen und Displaced Persons zu erklären. Weber stellt Vorteile der Onlinestellung von Archivbeständen heraus, betont aber auch die Notwendigkeit ihrer Kontextualisierung, da Onlinearchive mehr Nutzer:innen mit heterogenen Vorkenntnissen erreichen.

Die folgenden zwei Beiträge beschäftigen sich im engeren Sinne mit digitaler Geschichtsschreibung. Sebastian Bondzio zeigt anhand einer Analyse der Sanktions- und Bestrafungspraxis der Osnabrücker Gestapo auf Basis ihrer vollständig maschinenlesbar gemachten Kartei eindrucksvoll auf, wie durch die Digitalisierung von Quellen und darauf aufbauende Datenanalysen aus massenhaft vorliegender serieller Verwaltungsüberlieferung neue historische Erkenntnisse gewonnen werden können. Dies betrifft das große Bild von der staatspolizeilichen Praxis, für das er unter anderem ihre bisher nur schwach beleuchtete Beteiligung an der Disziplinierung der „Volksgemeinschaft“ und ihre (nicht immer führende) Einbindung in breitere Netzwerke herausstellt. Es gilt aber auch für viele Details im Vorgehen gegen unterschiedliche Gruppen – etwa die in der Forschung bisher kaum thematisierte Praxis der Verhängung von Geldstrafen gegen ausländische Zwangsarbeiter:innen.

Mark Dang-Anh und Stefan Scholl arbeiten in einem anschaulichen Beitrag zur Untersuchung des Sprachgebrauchs im Nationalsozialismus ebenfalls mit Datenanalysen großer Quellenbestände. Ihre Demonstration diskursanalytischer Verfahren zeigt, wie weit digitale Methoden in der Linguistik im Vergleich zur Geschichtswissenschaft entwickelt sind. Sie erklären, wie mit etablierten digitalen Analyseverfahren aus einem großen Quellenkorpus eine engere Auswahl getroffen werden kann, um diese Quellen dann qualitativ zu untersuchen. Daneben erläutern sie den softwaregestützten Aufbau eines Quellenkorpus durch das manuelle Tagging gescannter Dokumente. Insbesondere hieran wird deutlich, mit welch großem Arbeitsaufwand digitale Forschungen verbunden sein können.

Im dritten Teil des Bandes geht es um Wege der digitalen Vermittlung der NS-Verfolgungsgeschichte. Die beiden Herausgeber:innen beschreiben mit weiteren Projektbeteiligten ihre Arbeiten zur Erstellung eines 3D-Modells des U-Boot-Bunkers „Valentin“. In Teilen des riesigen Betongebäudes ist seit 2015 der Denkort Bunker Valentin untergebracht. Da andere Teile des Komplexes nicht zugänglich sind, soll perspektivisch ein virtueller Besuch ermöglicht werden. Der Beitrag zeigt auf, welche technischen Schwierigkeiten das interdisziplinäre Team aus Robotik-Forscher:innen und Historiker:innen bei der Vermessung von einsturzgefährdeten oder unter Wasser liegenden Gebäudeteilen zu bewältigen hatte und wie aufwendig die Datenaufbereitung verlief. Während das 3D-Modell für die Vermittlungsarbeit sicher große Potentiale besitzt, blieb der Erkenntnisgewinn zur Geschichte des Ortes offenbar überschaubar.

Jannik Sachweh reflektiert in seinem Beitrag aus der Perspektive des Praktikers über die Erstellung einer digitalen interaktiven Karte für die Dauerausstellung im Strafgefängnis Wolfenbüttel. Seine Ausführungen zum Mapping des regionalen Gefängnissystems, des Arbeitseinsatzes der Häftlinge sowie der Verbindungen der Strafanstalt zu einer anderen Einrichtung kreisen um die Frage, wie Inhalte einer digitalen Karte definiert werden können, ohne die Geschichte durch notwendige Reduzierungen zu verzerren oder die Nutzer:innen durch zu viele Informationen zu überfordern.

Christian Günthers abschließender Beitrag sticht insofern heraus, als er kein Projekt beschreibt, sondern sich mit dem Blick von außen mit dem Einsatz von Virtual Reality in Gedenkstätten und der digitalen Transformation dieser Orte auseinandersetzt. Günther gelingt es, die aktuelle Diskussion rund um Virtual Reality als Herausforderung für die Gedenkstätten als authentische Orte übersichtlich zu beschreiben. Daneben findet er deutliche Worte für den Stand der Digitalisierung der Gedenkstätten, die er als umfassende Aufgabe beschreibt, von der Außenkommunikation bis zur Arbeitskultur. Vermutlich hat er recht damit, dass Gedenkstätten attraktivere digitale Formate entwickeln müssen, um virtuell zu bestehen. Die Umsetzung wird gleichwohl schwierig, angesichts der breiteren (auch nicht digitalen) Aufgaben der Gedenkstätten und ihrer begrenzten Ressourcen.

Der Band hat eine große thematische Breite und gibt einen Eindruck von vielen Bereichen, in denen derzeit an einer digitalen Geschichte des Nationalsozialismus gearbeitet wird. Was die Beiträge dabei eher implizit zeigen, ist der große Arbeits- und Ressourcenaufwand, den die meisten Digitalprojekte benötigen. Die beiden Beiträge, die sich im engeren Sinne mit dem Schreiben einer digitalen NS-Geschichte befassen, machen daneben auch deutlich, dass sich die Arbeit von Historiker:innen in einem Punkt doch stark verändert bzw. ändern muss: Wer digitale Tools und Methoden erfolgreich für Forschungen nutzen will, kommt um tiefere Kenntnisse von Datenstrukturen und Fähigkeiten im Umgang mit Daten nicht umhin.4 Daneben zeigt sich anhand verschiedener Beiträge, dass es letztlich sowohl auf das Erkenntnis- bzw. Vermittlungsinteresse wie auf die Quellen und deren Erschließungsstand ankommt, ob der Einsatz digitaler Tools und Methoden lohnt oder nicht.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Programme und Berichte zu „Holocaust Studies in the Digital Age“ in Amsterdam 2019, https://www.ehri-project.eu/open-invitation-ehri-academic-conference-holocaust-studies-digital-age; „Nationalsozialismus digital“ in Wien 2019, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127276; „Zeithistorische Portale und digitale Sammlungen“ in Wuppertal 2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127785; „Connected Histories. Memories and Narratives of the Holocaust in Digital Space“ in Wien 2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-129591 (20.10.2022).
2 Vgl. Frank M. Bischoff / Kiran Klaus Patel, Was auf dem Spiel steht. Über den Preis des Schweigens zwischen Geschichtswissenschaft und Archiven im digitalen Zeitalter, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 145–156, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5822 (20.10.2022).
3 Aus Transparenzgründen sei darauf hingewiesen, dass der Autor dieser Rezension an der Realisierung dieser Projekte selbst beteiligt war.
4 Siehe auch Andreas Fickers, Update für die Hermeneutik. Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur digitalen Forensik?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 157–168, hier S. 166–168, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5823 (20.10.2022).

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