Die historischen Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung Europas in der Moderne aus transnationaler Perspektive zu betrachten, liegt nahe, da sie wie sonst selten das »Europa der Vaterländer« zu transzendieren schienen.1 Ansätze, jüdische Transnationalität historiographisch zu fassen, sind jedoch selten. Das mag damit zusammenhängen, dass gerade unter dem Signum der europäischen Moderne die jüdische Gemeinschaft gegenüber nichtjüdischen nationalen Ansprüchen in einem Maße zu Parteinahme und Eindeutigkeit gezwungen wurde, das rückblickend transnationale Zugangsweisen zu ihrer Geschichte erschwert.2 Als chancenreich erwies sich in dieser Hinsicht die Öffnung der sowjetischen Archive. Wiewohl oft allein aus staatlicher Sicht die Geschichte der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich dokumentierend, trugen die dort gemachten Funde dazu bei, vorherrschende Deutungen zur Geschichte der bedeutendsten jüdischen Bevölkerungsgruppe in der Neuzeit zu revidieren.
Neben Überblicken zur jüdischen Geschichte im ausgehenden Zarenreich aus der Feder nordamerikanischer Forscher liegt nun mit Verena Dohrns Habilitationsschrift zur Bildungsgeschichte jüdischer Eliten ein Werk vor, das ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Historisierung der jüdischen Aufklärung im Russischen Reich leistet.3 Im Gegensatz zur Ankündigung im Titel behandelt Dohrn im Wesentlichen zwei ausgesuchte Fälle von Elitenbildung unter den Juden im Russischen Reich. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen Lehrkörper wie Absolventen der einzigen beiden höheren jüdischen Lehrinstitute im Zarenreich. Aufklärung des Individuums sowie Integration der Staatsbürger durch Bildung wurden im 19. Jahrhundert nicht nur in Breslau, Budapest, Padua oder Metz - wo die von Dohrn vergleichend herangezogenen Seminare ihre Pforten öffneten - sondern auch im litauischen Vilna (Vilnius) wie im wolhynischen Žitomir vom Programm zur Realität.
Einerseits bedeutete dies die Etablierung einer Konkurrenz zum herkömmlichen Bildungsgang der bislang als Kontrollinstanz sozialer Veränderung innerhalb der jüdischen Bevölkerung diente. Sozialer Aufstieg durch weltliche Bildung war nun außerhalb der engen Bahnen der Gelehrtenlaufbahn möglich. Diese Entwicklung erzwang die Säkularisierung der Prinzipien, die die Zusammengehörigkeit der jüdischen Gemeinschaft begründeten. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und jüdischer Bevölkerung im Zarenreich bedeutete dies, dass das Zarenreich vorsichtig von der lange gepflegten Politik der pauschalen Kooperation mit den traditionellen Eliten der Nichtrussen abrückte. Dass die zarische Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung wenig Stringenz besaß und auf Seiten der maskilim - so die Selbstbezeichnung der jüdischen Aufklärer - nicht nur unkritisch bejubelt wurde, widerspricht diesem Befund nicht.
Nach einer ausführlichen Einführung in Überlieferung und Historiographie der jüdischen Aufklärung im Russischen Reich sowie einer problemorientierten Skizze ihrer Geschichte nähert sich Verena Dohrn ihrem Gegenstand aus drei Richtungen: institutionengeschichtlich, diskursgeschichtlich sowie sozialhistorisch. Es zeichnet ihre Studie aus, dass alle drei Perspektiven nebeneinander Bestand haben und ergänzend angelegt sind. Der institutionengeschichtliche Teil stellt Genese und Profil der Rabbinerseminare in Vilna und Žitomir vor. Damit werden die topographischen und mentalen Lebensräume der historischen Akteure veranschaulicht, was sich für die Kontextualisierung der Informationen der folgenden Kapitel als hilfreich erweist. Verena Dohrn begreift die beiden Seminare als Sozialisationsinstanzen. Dabei betont sie den Transfercharakter dieser Institutionen, die einerseits jüdische Reformschulen, andererseits staatliche Elitebildungsanstalten gewesen seien. Dass man staatlicherseits andere Erwartungen in Bezug auf die Schulen und ihre Absolventen hegte als von Seiten der jüdischen Aufklärer zeigte sich auch an den prägenden pädagogischen Diskursen. Das Curriculum setzte sich aus Fächern zusammen, die die europäische Bildung ihrer Zeit vermittelten: Mathematik, Geschichte, Geographie, deutsche sowie russische Sprache und Literatur. Andererseits lehrte man Tora, Talmud, Homiletik und Liturgie. Die Innovation bestand dabei in der Art und Weise des Umgangs mit der Traditionsliteratur, deren Texte einer historisch-kritischen Betrachtung unterzogen wurden.
Am Beispiel der von Lehrern und Schülern benutzten Sprachen und ihrer Funktionen diskutiert Verena Dohrn die Ambivalenz der Seminarpraxis. Einerseits war Russisch die verordnete Unterrichtssprache. Doch faktisch übernahm zunächst das Deutsche die Funktion des Mediums der Aufklärung. Das stellte allerdings manchen Lehrer und Schüler vor Schwierigkeiten, obwohl Deutsch in Osteuropa geradezu als Idiom der jüdischen Aufklärung gelten konnte. Überdies konkurrierte das Russische mit dem Polnischen, der historischen Landessprache in den einst polnischen Reichsgebieten sowie dem Hebräischen, der traditionellen Sprache von Religion und Recht. Erste Umgangssprache zwischen Schülern und jüdischen Lehrern war jedoch Jiddisch. Während das Jiddische in Vilna durch das Russische verdrängt wurde, vermochte es sich in Žitomir zu behaupten. Das geschilderte Schulbuchprogramm sowie die rege Übersetzungstätigkeit der jüdischen Aufklärer in Vilna und Žitomir belegen Verena Dohrns These von der Grundlegung für die Erneuerung der jüdischen Sprachgemeinschaft und damit der jüdischen Nation durch die Modernisierung und Profanisierung des Hebräischen sowie der Kultivierung des Jiddischen. Das abschließende sozialhistorische Kapitel verfolgt den Weg der Seminaristen als Kronrabbiner, Lehrer, Zensoren bzw. staatlich examinierte Experten für jüdische Fragen, aber auch als Freiberufler, wie Rechtsanwälte und Ärzte. Es betont den Übergangscharakter der in den Seminaren ausgebildeten Generation, die sich auf dem Weg aus dem Traditionalismus der Kleinstädte der westlichen Grenzgebiete des Russischen Reiches in die Metropolen und ihre universale Wertewelt befand. Die Einrichtung der Rabbinerseminare hatte die Voraussetzungen für die Qualifikation der Kronrabbiner bzw. Lehrer an Kronschulen schaffen sollen. Doch ihre Absolventen waren in den jüdischen Gemeinden keineswegs beliebt. Die Zahl der durch sie besetzten Rabbinerposten blieb bis zum Ende des Zarenreiches gering. Hier zeigten sich die Grenzen des Projekts der Elitenbildung. Und doch gelang mit der Etablierung der Rabbinerseminare und späteren Lehrerausbildungsinstitute in Vilna (bis 1914) und Žitomir (bis 1885) ein entscheidender Schritt zur Institutionalisierung der jüdischen Aufklärung im Russischen Reich.
Verena Dohrns Darstellung kommt ohne Theoriebalast aus und lässt sich wegen der Präzision im Detail und der Anschaulichkeit der benutzten Quellen, die oft autobiographischer Natur sind, sehr gut lesen. Zu kritisieren bleibt, dass mit der Behauptung, die Rabbinerseminare im Russischen Reich seien Produkt einer kolonialen Situation der Anschluss an neuere theoretische Entwicklungen gesucht wird, ohne dass aus dieser Begrifflichkeit methodische Folgen für die Untersuchung entstünden. Worin etwa bei dem gewählten Beispiel der Unterschied zwischen imperialen und kolonialen Herrschaftsverhältnissen besteht bleibt offen. Verena Dohrn rekonstruiert die Dynamik der sich entwickelnden Kooperation zwischen dem russländischen Staat und den Trägern des jüdischen Bildungsgedankens an zwei historisch herausragenden Beispielen. Dadurch wird einer historischen Option Gerechtigkeit getan, die durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht marginalisiert wurde: So bekämpften jüdische Nationalisten wie die Zionisten die jüdischen Aufklärer allzu häufig als willfährige Kollaborateure nichtjüdischer Interessen. Jüdischen Sozialisten wie den Bundisten musste dagegen die wenigen Erfolge die die Aufklärung im russländischen Fall vorzuweisen hatte als bourgeoises Elitenprogramm erscheinen. Nichtjüdische weltliche Bildung sowie jüdische Bildung im modernen Gewand, wie sie in Vilna und Žitomir zwischen 1847 und 1873 gelehrt und gelernt wurden, formten eine neue jüdische Elite, deren Bedeutung für das historische Antlitz des russländischen Judentums Verena Dohrn zu Recht hervorhebt. Obwohl quantitativ von geringer Bedeutung, gelang es ihr, Identität und Selbstbild der übergroßen Mehrheit der aus dem Russischen Reich stammenden Jüdinnen und Juden zu beeinflussen.
Verena Dohrn etabliert die institutionellen Grundlagen für den prägenden Bildungsgang der nichttraditionellen Eliten der Juden des Russischen Reiches. Sie verfolgt die Entwicklung der prägenden pädagogischen, philosophischen und historiographischen Diskurse innerhalb der entstehenden modernen jüdischen Elite. Diese werden im Zusammenhang mit den russischen und europäischen Denkbewegungen ihrer Zeit geschildert.
Anmerkungen:
1 Shulamit Volkov, Jewish History. The Nationalism of Transnationalism, in: Gunilla Budde; Sebastian Conrad; Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 190-201.
2 Shmuel Feiner, Eine traumatische Begegnung. Das jüdische Volk in der europäischen Moderne, in: Michael Brenner; David N. Myers (Hrsg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 105-122.
3 Steven G. Rappaport, Jewish Education and Jewish Culture in the Russian Empire, 1880-1914, Stanford University, PhD-Thesis, 2000; Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Russia, 1840-1900, Berkeley 2002; Brian Horowitz, Jewish Philantropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia, Seattle 2009.