Das Ende 2002 veröffentlichte Buch „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945“ des Berliner Historikers Jörg Friedrich löste unmittelbar nach seinem Erscheinen eine heftige Debatte um den gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Luftkrieg und die (kollektive) Erinnerung an die Zerstörung deutscher Städte durch britische und amerikanische Brandbomben aus. Der Sturm im medialen Wasserglas, den Friedrich entfacht hatte, flaute aber schon bald wieder ab, und es mag daher zunächst anachronistisch wirken, wenn 2008 ein Buch erscheint, das sich ausschließlich dem „Brand“ und seiner Rezeptionsgeschichte widmet. Obwohl es sich bei Ralf Steckerts Buch um eine nur geringfügig überarbeitete Examensarbeit aus dem Jahr 2003 handelt, geht aber insbesondere seine Analyse der Konstruktion und Wirkungsweise von Friedrichs Text weit über den damaligen tagespolitischen und medienökonomischen Kontext hinaus und ist eine durchaus gewinnbringende Lektüre.
Für Walter Kempowski handelte es sich bei der Debatte um Friedrichs Buch um eine „Medienblase“ ohne weitergehende politische und gesellschaftliche Folgen.1 Steckert sieht das ganz anders, für ihn ist „Der Brand“ ein „geschichtspolitisch relevantes Werk“ (S. 183), Sinnbild und Ausdruck einer Bewegung, die seit der deutschen Wiedervereinigung mit zunehmender Intensität versucht, Geschichte und nationale Identität Deutschlands durch Relativierung und Aufrechnung zu „normalisieren“. Die um den „Brand“ geführte Debatte ist demnach nicht nur Teil eines „Selbstfindungs- und Orientierungsprozeß[es]“ und „tätige Identitätspolitik“ (S. 111), sie ist nach Ansicht des Verfassers integraler Bestandteil des Diskurses um die Freiheit des wiedervereinigten Deutschland, in den Krieg zu ziehen – oder eben nicht in den Krieg zu ziehen, wie im Fall des Angriffs auf den Irak 2003.
Die Skizzierung dieses Kontextes liefert das interpretatorische Raster für den ersten Teil von Steckerts Arbeit, in dem er die über Friedrichs Buch von dessen Erscheinen bis circa Mitte 2003 in Deutschland geführte Debatte ausführlich nachzeichnet und auch auf Beiträge aus Großbritannien Bezug nimmt. Die Rekapitulation der Einschätzungen und Argumente ist durchaus instruktiv, da Steckert sich in dem sehr engagierten Text eindeutig politisch positioniert, allerdings mangelt es bisweilen an Zwischentönen und Differenzierungen. Dies wiegt allerdings nicht übermäßig schwer, da er seine Position und Intention unzweideutig offen legt und keinen Versuch macht, bei der Widergabe einzelne Facetten der Debatte in manipulativer Absicht auszublenden.
Im zweiten Teil wendet Steckert sich Friedrichs Buch selbst zu, die Stärke von „Begeisterndes Leid“ liegt eindeutig in der Rekonstruktion der Funktionsweise des Textes. Der Autor arbeitet minutiös heraus, wie Friedrich mit diversen Mitteln sprachlicher Inszenierung die Ereignisse dergestalt „hyperrealistisch“ (S. 131) beschwört, dass das Grauen der Bombennächte fast physisch greifbar wird. Indem Friedrichs „vielschichtige Dokumentencollage zu einer einstimmigen kollektiven Erzählung zusammenfließt“ (S. 120), kann Steckert zufolge darüber hinaus eine Art „Opfergemeinschaft“ zwischen Leserinnen und Lesern und Bombenopfern entstehen, ein „mythisches ‚Wir’ als Objekt des großen Brandes“ (S. 137). Diese Aufhebung der Distanz, welche dem (deutschen) Publikum die Identifizierung mit den Opfern nachgerade aufnötigt, soll unmittelbare Betroffenheit erzeugen – Betroffenheit, die angesichts der Behauptung, man habe diese Dinge bislang nicht aussprechen dürfen, habe das Leid kollektiv verdrängen müssen, in Empörung umschlägt.2
Diese Inszenierung Friedrichs dient Steckert zufolge primär der Aufrechnung von Schuld zum Zweck der „Normalisierung“ deutscher Geschichte. Hans-Ulrich Wehler wies bereits direkt nach Erscheinen von „Der Brand“ darauf hin, dass Friedrich durch die Verwendung von Begriffen wie „Zivilmassaker“, „mongolischer Vernichtungsorkan“ und „Krematorien“ (als Beschreibung der Bunker und Luftschutzkeller) die alliierten Bombenangriffe semantisch neben die nationalsozialistische Vernichtungspolitik stellt.3 In der Interpretation des Autors, der diese Kritik aufgreift und vertieft, nivelliert Friedrich damit das Verhältnis von Täter und Opfer und setzt die Westalliierten „mit dem mörderischen Nazisystem durch einen gemeinmachenden Unrechtsbegriff moralisch ethisch gleich“ (S. 82).
„Der Brand“ wurde Steckert zufolge genutzt, um den deutschen Widerstand gegen die Invasion des Irak durch die USA und ihre „Koalition der Willigen“ zu legitimieren und von vielen als entsprechender „tagespolitischer Kommentar“ gelesen (S. 193). Im erweiterten geschichtspolitischen Kontext sieht er Friedrichs Buch allerdings als „Referenz für den erneuerten – entsorgten – gesellschaftlichen Diskurs zur Normalisierung bundesdeutscher Außenpolitik und der Option Krieg, insbesondere im Rahmen eines europäischen Konstitutionsprozesses“ (S. 83f.). In diesem Sinne hieße „Normalisierung“, ebenso wie jeder andere Staat frei darüber entscheiden zu können in den Krieg zu ziehen oder nicht.
Gerade diese Verschränkung der Diskurse, desjenigen über Schuld und historische Verantwortung mit demjenigen über die Rechtfertigung bewaffneter Interventionen, wäre grundsätzlich zu problematisieren. Diese Einsicht deutet sich zwar an, wenn der Autor darauf hinweist, dass die Bundesregierung ihr Engagement im Kosovo mit der „durch Auschwitz auferlegten moralischen Verpflichtung zur ‚moralischen Intervention’ begründete – es ihr also gelang, den geführten Militäreinsatz nicht trotz sondern wegen Auschwitz öffentlich zu legitimieren“ (S. 83), er führt diesen Punkt aber nicht weiter aus. Was nicht zuletzt daran liegen mag, dass auch Steckert selbst nicht davor gefeit ist, sich auf die Opfer des Nationalsozialismus zu berufen um eine politische Position moralisch aufzuwerten – dieser implizite Subtext durchzieht „Begeisterndes Leid“ wie ein roter Faden.
Steckert fordert mehrfach vehement, die während der NS-Zeit begangenen Verbrechen und die damit verbundene Schuld endlich tatsächlich umfassend anzuerkennen. Die „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik war fraglos aus unterschiedlichen Gründen defizitär, aber nahezulegen, dass diese gar nicht erfolgte und das gesellschaftliche Wissen über den Holocaust nur „nominell“ sei, wie Steckert behauptet (S. 175), ist unhaltbar. Insgesamt hätte es dem Buch gut getan, den Text von Klischees und allzu pauschalen und plakativen Behauptungen wie der vorstehenden zu befreien. Dass er nicht detaillierter auf die seit dem Jahr 2000 mit Gründung der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ neu angefachte Debatte um Flucht und Vertreibung der Deutschen eingeht oder auch auf das Bestreben der Regierung Schröder/Fischer Deutschland einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat zu verschaffen, ist zudem bedauerlich.
Trotz dieser Einwände sensibilisiert Steckert für das Problem, zu dem sich ein „selbstbewusster“ Nationalismus auswachsen kann. Gleichgültig, ob die von Friedrich verfolgte Konzeption politisch oder lediglich medienökonomisch motiviert ist – die Inszenierung des Leids der unschuldigen Zivilbevölkerung ist in Kombination mit der Behauptung des „Tabu“ ein schulmäßiges Beispiel für eine Politik der Emotionen, die ihre Kraft aus der Beschwörung tatsächlich oder vermeintlich erlittenen Unrechts speist.
Indem er auf diese Zusammenhänge und Mechanismen verweist und sie analysiert (wenngleich man sich an einigen Stellen mehr Tiefenschärfe gewünscht hätte), ist Steckerts Arbeit auch über die begrenzte Halbwertszeit von Friedrichs Buch hinaus ein Beitrag zum Verständnis der Mechanismen der psychischen Ökonomie von Gesellschaften, deren Untersuchung (im Unterschied zu derjenigen der politischen Ökonomie) nach wie vor eine Leerstelle in Soziologie und Historiographie darstellt. Sein Buch ist folglich all jenen zur kritischen Lektüre zu empfehlen, die sich für die psychische Ökonomie des Nationalismus interessieren und für die Rolle, die „Geschichtspolitik“ in diesem Zusammenhang spielt.
Anmerkungen:
1 Sven-Felix Kellerhoff, „Das ist doch eine Medienblase“. Warum sich die Deutschen an den Luftkrieg erinnern. Ein Gespräch mit Walter Kempowski. In: Die Welt, 12.12.2002, <http://www.welt.de/print-welt/article296425/Das_ist_doch_eine_Medienblase.html>.
2 Die Behauptung, mit dem Erscheinen von „Der Brand“ sei ein Tabu gebrochen worden, wurde von weiten Teilen der Medien (vom Spiegel bis zu GEO) aufgriffen – obwohl dies ganz offensichtlich unzutreffend war. Zur Erinnerung an den Bombenkrieg vgl. aktuell Malte Thießen, Gedenken an „Operation Gomorrha“. Zur Erinnerungskultur des Luftkriegs nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S.46-61; und derselbe, Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, München und Hamburg 2007 (Band 19, Forum Zeitgeschichte der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg).
3 Hans-Ulrich Wehler, Aus Leidenschaft für die Opfer: Jörg Friedrichs Buch „Der Brand Deutschland im Bombenkrieg 1940 bis 1945“, in: Süddeutsche Zeitung, 14./15.12.2002.