Der Erste Weltkrieg ist in der heutigen medialen Öffentlichkeit erstaunlich präsent. Die Romanverfilmung Im Westen nichts Neues (2022) und der Kriegsfilm 1917 (2019) gewannen mehrere Oscars und erreichten in den letzten Jahren ein globales Millionenpublikum. Nicht zuletzt die russische Invasion der Ukraine verstärkte auch in der Politik (zumeist zweifelhafte) Vergleiche mit dem historischen Kriegsgeschehen.1
Bis heute dominieren allerdings die Bilder der blutigen Grabenkämpfe an der Westfront die Vorstellungen über den Krieg zwischen 1914 und 1918, während die östlichen Kriegsschauplätze meist im Hintergrund bleiben. Dies gilt sowohl für die westeuropäischen Erinnerungskulturen als auch für die osteuropäischen Gesellschaften, wo die Erfahrung des Ersten Weltkriegs durch die noch weitaus einschneidendere Gewalteskalation während des Zweiten Weltkriegs überlagert wird. Vor diesem Hintergrund trug die Publikation des zweibändigen Werks Nasza Wojna („Unser Krieg“) der polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej (der 2021 verstorben ist) und Maciej Górny in den Jahren 2013 und 2017 entscheidend dazu bei, den Blick auf Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs im Osten Europas zu schärfen.
Seither wurden die polnischsprachigen Originalbände in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche unter dem Titel „Der vergessene Weltkrieg“. Inzwischen liegt zudem eine aktualisierte englischsprachige Ausgabe des ersten Bandes unter dem Titel „Forgotten Wars“ vor. Diese berücksichtigt neuere Forschungsarbeiten, die seit 2013 entstanden sind und nicht zuletzt durch die Arbeit von Borodziej und Górny angeregt wurden. Somit befasst sich die englischsprachige Ausgabe implizit auch mit der Wirkungsgeschichte des Werks während der letzten acht Jahre.
Bemerkenswert ist der Untersuchungszeitraum des ersten Bandes, der die Jahre 1912–1916 umfasst und die Balkankriege (1912–1913) als „Vorspiel“ zum Weltkrieg miteinschließt. In der jüngsten Forschung haben beispielsweise Sabine Rutar und Katrin Boeckh die Bedeutung dieser Konflikte für die Wahrnehmung des östlichen Kriegsschauplatzes noch einmal hervorgehoben.2 Angesichts dessen ist es etwas schade, dass das entsprechende Kapitel in Forgotten Wars kurz ausfällt und die neueste Forschungsliteratur nur zum Teil berücksichtigt. Da die Erfahrungen der Balkankriege zwar angerissen, ihre Wirkungsgeschichte aber nicht weiter ausgeführt wird, fehlt es der Darstellung dieses „Vorspiels“ etwas an Tiefe. Den Endpunkt des ersten Bandes markiert schließlich der Tod des österreichischen Kaisers Franz Josef I. im November 1916.
Das Buch befasst sich als Überblickswerk mit dem Verlauf des Krieges im Osten und ist für den Einstieg ins Thema gut geeignet. In den Text sind immer wieder Infoboxen zu Schlüsselbegriffen, Ereignissen oder Personen eingeschoben, die den Zugang zu wichtigen Informationen erleichtern: Was bedeutet der Begriff „Mitteleuropa“, was war die „Faradisierung“, und was hatte es mit der Zerstörung von Kalisz auf sich? Doch auch für Expert:innen bietet der Text viele aufschlussreiche Details. So war es etwa den Wetterbedingungen geschuldet, dass der Einsatz von Giftgas im Osten effektiver war als im Westen, da der Wind in Europa in der Regel häufiger von West nach Ost weht (S. 78).3
Den Schwerpunkt legen Borodziej und Górny allerdings nicht auf die militärischen Aspekte der Kriegführung, sondern auf die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Auswirkungen des Krieges in den multinationalen und multikonfessionellen Regionen des russischen Zarenreichs und des Habsburgerimperiums. Eine wichtige Quelle bilden dabei Kriegstagebücher und andere Ego-Dokumente polnischer Legionäre oder deutscher Offiziere. Diese machen aus dem Buch nicht nur eine erkenntnisträchtige, sondern auch eine unterhaltsame Lektüre. Zugleich tritt auf diese Weise die Sinngebung des Krieges als „Zivilisierungsmission“ deutlich zutage, da Österreich-Ungarn und das Deutsche Kaiserreich sich im Osten – im deutlichen Kontrast zu den westlichen Kriegsschauplätzen – als Ordnungsmächte und „Kulturbringer“ verstanden. Beispielhaft für die Komplikationen, die sich damit zuweilen verbanden, steht die Beschreibung einer gescheiterten Volkszählung durch deutsche Besatzungstruppen im rumänischen Hinterland, wo deutsche Vorstellungen von Ordnung an kulturellen Gegensätzen zur Lebenswelt der rumänischen Bauern, aber auch deren passivem Widerstand scheiterten (S. 310).
Ein weiteres wichtiges Thema, das die Darstellung durchzieht, sind die sich stets wandelnden Loyalitäten der Bevölkerung, die sich den Ansprüchen der wechselnden Besatzungsmächte immer wieder neu anpassen musste, um zu überleben. Das Buch bricht insofern mit gängigen nationalen Heldenmythen: So begrüßte die polnischsprachige Bevölkerung in weiten Teilen Russisch-Polens die Soldaten der polnischen Legionen keineswegs als Befreier, sondern pflegte mehrheitlich eine skeptische Distanz. Polnische Nationalaktivisten beschwerten sich ihrerseits über die vermeintliche „moralische Russifizierung“ (S. 229) der Bevölkerung, die in Folge des akuten Überlebenskampfs wenig Begeisterung für ihre „Befreier“ an den Tag legte.
Vor dem Hintergrund der heutigen Diskussion über „Fake News“ und Informationskrieg sind die Passagen über Propaganda, Gerüchte und Fehlinformationen im Ersten Weltkrieg besonders aufschlussreich. Selbst die absurdesten Gerüchte über Spione, Schmuggler oder Saboteure verbreiteten sich in rasanter Geschwindigkeit – mit mitunter tödlichen Folgen für die Beschuldigten. Oft gerieten konfessionelle und religiöse Minderheiten, etwa orthodoxe Christen in Österreich-Ungarn, ins Fadenkreuz der Behörden und der Armee. Zusätzlich bedrohte der wachsende Antisemitismus die zahlreichen jüdischen Gemeinden im östlichen Europa. Traditioneller christlicher Antijudaismus vermischte sich zunehmend mit modernen Verschwörungstheorien, was vielerorts zu Pogromen und Vertreibungen führte. So befürchtete etwa die russische Armeeführung, dass Juden lange Tunnel bis zu den Stellungen der Armeen Österreich-Ungarns graben oder Truppenbewegungen über geheime Ballons ausspähen würden (S. 92). Die Armee des Zarenreichs ordnete deswegen die „Evakuierung“ vieler Juden aus den frontnahen Städten an.
Das Buch von Borodziej und Górny ist ein solides Überblickswerk, das einen hervorragenden und gut lesbaren Einstieg über das „vergessene“ Kriegsgeschehen im östlichen Europa liefert. Es zeigt anschaulich und anhand vieler Ego-Dokumente, wie der Krieg sich auf die Bevölkerung auswirkte: auf die Beziehungen zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung, auf das Mit- und Gegeneinander nationaler Gruppen, aber auch auf die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Fern jeder (nationalen) Romantik zeichnen Borodziej und Górny den Krieg als einen täglichen und ruhmlosen Kampf ums Überleben nach. Zugehörigkeiten und Loyalitäten befanden sich in einem stetigen Wandel, zumal der Kriegsverlauf an den östlichen Fronten zwischen 1914 und 1916 von dynamischer Bewegung geprägt war, sodass die Hoheit über bestimmte Territorien immer wieder wechselte.
Kritisch anzumerken wäre allenfalls die allzu starke Fokussierung auf die polnische Perspektive, die sich in dem Originaltitel Nasza Wojna („Unser Krieg“) deutlicher widerspiegelt und die zu Lasten einer intensiveren Einbeziehung anderer Regionen des östlichen Europas geht. Dennoch ist den beiden Autoren ein wichtiges und lesenswertes Werk gelungen, das völlig zurecht in einer neuen Auflage erscheint.
Anmerkungen:
1 Siehe etwa „Ich bin nicht Kaiser Wilhelm“: Scholz zieht Kurs-Vergleich zum Ersten Weltkrieg, in: Merkur, 22.05.2022, https://www.merkur.de/politik/scholz-ukraine-krieg-spd-kaiser-wilhelm-deutschland-kriegsgefahr-vergleich-erster-weltkrieg-91562552.html (09.05.2023).
2 Hervorzuheben ist etwa der Sammelband von Sabine Rutar / Katrin Boeckh (Hrsg.), The Wars of Yesterday. The Balkan Wars and the Emergence of Modern Military Conflict, 1912–1913, New York 2018; vgl. auch die Sammelrezension „Die Balkankriege 1912–1913“ von Dietmar Müller für H-Soz-Kult, 30.08.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25633 (09.05.2023)..
3 Die Seitenangaben in dieser Besprechung beziehen sich auf die englische Ausgabe.