Über kaum einen Jubilar ist in der (Fach-)Öffentlichkeit dieses Jahr mehr geschrieben worden als über Reinhart Koselleck (1923–2006). In Aufsätzen, Monographien, Themenheften und Sammelbänden wurden sein Leben und sein Denken erörtert1, in Editionen wurden Teile des Werkes (neu) zugänglich gemacht2, und in darauf reagierenden Kommentaren und Kritiken wurde das Verhältnis nicht nur der deutschen Historiographie zu einem ihrer mittlerweile auch international prominentesten Vertreter intensiv diskutiert.3 Hinzu kamen diverse Festveranstaltungen und Tagungen in München, Bielefeld, Marbach und anderswo. Ausgehend von dieser Konjunktur könnte leicht der Eindruck entstehen, die gegenwärtige Geschichtswissenschaft bewege sich mehr denn je zwischen Begriffsgeschichte, Sattelzeit-Theorem und der Reflexion historischer Zeiten. Womit und wozu wird also die Chiffre Koselleck aufgerufen?4 Wird hier primär einem Kollegen und seinem Œuvre resümierend Reverenz erwiesen, wird sein intellektuelles (und damit stets auch persönliches) Erbe verwaltet, oder geht es um eine Selbstverständigung der Geschichtswissenschaft über Koselleck’sche Denkanstöße, Konzepte und Terminologien?
In einem Moment, in dem dazu bereits von so vielen so vieles gesagt und geschrieben wurde, fällt es nicht leicht, noch Signifikantes zu ergänzen. Jede Zugabe läuft Gefahr, bloße Wiederholung zu werden, und kommt darüber hinaus zwangsläufig zu spät. Genau damit jedoch möchte diese Zugabe eine Einsicht des Protagonisten selbst aufgreifen.
Verspätung: Befund und Motiv
„Zu spät“: Mit diesem knappen Nachtrag versah Reinhart Koselleck 1996 eine Erinnerungsaufzeichnung, die er bereits 30 Jahre zuvor niedergeschrieben hatte. Und er ergänzte – mahnend oder sich selbst tadelnd: „hatte es nie versucht!“. In dieser Aufzeichnung hatte er schon 1966 seine Erinnerungen an den Gefangenentransport von 1945 ins, wie sich erst bei Ankunft herausstellte, kasachische Karaganda festgehalten und diese geradezu biblisch anmutende Begebenheit: Ein Pfarrer habe einem erkrankten Mitgefangenen seine Ration Wasser überlassen und im Gegenzug dessen Brot erhalten, das er jedoch nicht gegessen, sondern in einer an Selbstaufgabe grenzenden Geste praktizierter Nächstenliebe an andere weitergereicht habe. Erst 50 Jahre nach dem Erlebnis versuchte Koselleck, den Namen dieses Pfarrers der Gemeinde St. Anna in München ausfindig zu machen. Das gelang auch, allerdings erfuhr er zugleich, dass der Mann bereits verstorben war (Koselleck, Lava, S. 469f.).
Dieses „zu spät“ macht sich in der von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana Markantonatos mit kunsthistorischer Expertise herausgegebenen Sammlung von Kosellecks „Texte[n] zu politischem Totenkult und Erinnerung“ bereits visuell bemerkbar: Es ist handschriftlich hinzugefügt, während die Erinnerung selbst 30 Jahre früher in maschinenschriftlicher Ordnung abgefasst wurde (vgl. ebd., S. 468). Dies ist also ein der allgemeinen Transformation des Mediengebrauchs zuwiderlaufendes Hybrid aus älterem Typo- und jüngerem Manuskript sowie zugleich ein autobiographisches Palimpsest, das sinnbildlich stehen kann für die Spuren, Schleifen und Wiederholungen des Denkens, Erinnerns und (Nach-)Erlebens. Und es ist gerade deshalb interessant, da es nicht nur auf den Schutzkokon verweist, nämlich ein jahrzehntelanges Ausweichen vor dem eigenen Erinnern jener Generationen, die den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen unmittelbar erlebt hatten, sondern zugleich den Umstand hervorhebt, dass Koselleck trotz oder wegen des eigenen Erlebens diesen Krieg nie direkt zum Gegenstand seiner Forschung gemacht hat (vgl. Jureit, Überschritt, S. 49). Damit klingt in dem „zu spät“ jenseits der verpassten Gelegenheit, den ehemaligen Mitgefangenen persönlich kontaktieren zu können, auch die Einsicht an, diese wissenschaftliche Blindstelle nicht mehr selbst erhellen zu können. Es ist nicht nur eine Verspätung der autobiographischen Auseinandersetzung mit zu Erfahrung geronnenem Erlebtem, sondern auch eine Verspätung der historiographischen Auseinandersetzung. Beides läuft hier ineinander.
Stefan-Ludwig Hoffmann hat in seiner Umkreisung „Kosellecks ungeschriebene[r] Historik“ – so der Untertitel – einen Grund für diese Schieflage zwischen dem Miterleben der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der nicht umfassend, sondern erst spät in geschichtspolitischem Gewand erfolgten Beschäftigung mit ihr angeführt. Ihm zufolge wurzelte Kosellecks Zugang in der Einsicht, dass Geschichte nach deutschem Vernichtungskrieg und Holocaust ihren Sinn verloren habe und entsprechend die Hinwendung zur „theoretische[n] Reflexion eine Form war, sich die in den Knochen sitzende Vergangenheit nach außen auf Distanz zu halten“ (Hoffmann, Riss, S. 107). Die „Suche nach einer Theorie der Bedingungen möglicher Geschichten“ (ebd., S. 111) sei demnach ein Versuch gewesen, aus eigenen Erfahrungen historisches Wissen abzuleiten. Insofern stellte sich Ulrike Jureits leitende These, dass es nicht die Zeit, sondern die Erfahrung sei, der man eine zentrale Position in Kosellecks Werk zuerkennen müsse, weniger dringlich (vgl. etwa Jureit, Überschritt, S. 18 und S. 118). Denn wo der Versuch, historisches Wissen und historische Zeiten theoretisch zu fassen, seinerseits als unhintergehbar erfahrungsmotiviert wie -gebunden anerkannt wird, verweisen Arbeiten an einer Historik, die Koselleck als solche nie in Form einer Monographie zu kondensieren vermochte (oder wollte), und an Vergangenheiten als die Gegenwart formende wie herausfordernde Erfahrungszeiten wechselseitig aufeinander. Und dass es wiederum Erfahrungen sind, die ins Über- oder besser: Außersprachliche führen, die nicht nur in Träumen visuell Gestalt annehmen, sondern die sich am ehesten materiell greifen und als solche aus neuen Perspektiven problematisieren lassen, verdeutlichen die Beiträge des von Lisa Regazzoni herausgegebenen Bandes zu Kosellecks Figurensammlung.
Damit ist die Grundlage skizziert, auf der die folgenden Überlegungen ruhen. Eine Schriftenedition, zwei biographisch orientierte Werkzugänge sowie ein explorativer Band, der mit Koselleck über Koselleck hinauszudenken sucht: Dieses Quartett ist eine Auswahl aus den anlässlich des 100. Geburtstages erschienenen Publikationen, aber als solche mag sie doch einigermaßen symptomatisch stehen für das gegenwärtige Interesse an diesem Geschichtsdenker und -theoretiker. Denn die beteiligten Autorinnen und Autoren diskutieren nicht nur biographisch die (zu) späte Hinwendung Kosellecks zu seiner Vergangenheit und dem geschichtspolitschen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg sowie seine Stellung in der bundesrepublikanischen Wissenschaftslandschaft und Öffentlichkeit, sondern prüfen seine hinterlassenen Schriften auch auf ihr bislang noch nicht ausgeschöpftes Potential. Der Band zum politischen Totenkult, der sowohl bereits publizierte als auch bislang unveröffentlichte Texte – darunter Aufsätze, autobiographische Aufzeichnungen und Interviews – aus den 1960er-Jahren bis zu Kosellecks Tod umfasst, und Ulrike Jureits Buch verhalten sich diesbezüglich wie Text und Anmerkungsapparat zueinander: Während die Edition selbst bis auf ein Nachwort auf eine Kommentierung verzichtet, ordnet Jureit Kosellecks geschichtspolitisches Engagement ausführlich ein. Beide Bände setzen damit Koselleck in der langen Dekade der 1990er-Jahre ins Zentrum. Stefan-Ludwig Hoffmann bietet demgegenüber im weiteren Sinne eine Werkbiographie, in der konsequent Konzeptionelles an das (Er-)Leben zurückgebunden und vor diesem Hintergrund problematisiert wird. Wie nah Denk- und Alltagswelt beieinander liegen konnten, verdeutlicht schließlich der Band „Im Zwischenraum der Dinge“. Einem ökumenischen Ansatz folgend, sucht er, die Figuren als Distanzgeber zur neuerlichen Auseinandersetzung mit Kosellecks Œuvre zu nutzen (vgl. Regazzoni, Zwischenraum, S. 29). Noch zu bergendes Potential wird insgesamt besonders dort greifbar, wo es um das Wie von Kosellecks Denken und Erkennen geht. Wenngleich eher implizit, ist die ihrerseits verspätete Auseinandersetzung mit diesem Denkmodus etwas, das die Beiträge eint, und wird hier daher als Knotenpunkt der Überlegungen genutzt.
Verzettelt denken: Material und Miniatur
Zunächst mag das Wie des Denkens und Erkennens am ehesten ein eigentümliches Paradox erklären: das Paradox nämlich, dass Koselleck zwar bereits im Jahr seines Todes in den Band „Klassiker der Geschichtswissenschaft“ aufgenommen wurde und sich auch seine Heidelberger Dissertation „Kritik und Krise“ von 1954/59 in einer vergleichbaren Gipfelreihe geschichtswissenschaftlicher Werke findet5, dass derselbe Historiker jedoch ein für damalige Verhältnisse Spätberufener und fachlicher Grenzgänger war (der erste Ruf erfolgte nicht für Geschichts-, sondern für Politische Wissenschaft 1966 nach Bochum); zu Lebzeiten wurde Koselleck kaum international wahrgenommen und einiges nur mit Verspätung übersetzt.6 Es tut sich damit ein beachtlicher Hiatus auf zwischen der nach seinem Tod rasch erfolgenden Kanonisierung sowie fach- und sprachenübergreifenden Rezeption einerseits und andererseits gar dem Status als eines „modernen Partisan[en]“7 in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft. Eine weniger bellizistische Charakterisierung Kosellecks wäre die eines Sonderlings, der er im Kreis der – nicht nur sozialgeschichtlich – vielschreibenden Zunft mit den von ihm vorgelegten kleineren, zumindest jedoch langsameren Formaten (auch) einmal gewesen sein mag. Wie Hoffmanns archivgestützte Einlassung mit diesem Forscherleben zeigt, war es über weite Strecken gekennzeichnet von eher zögerlicher Anerkennung, Missverständnissen und zuweilen auch intellektueller Einsamkeit (vgl. etwa Hoffmann, Riss, S. 246f., S. 272, S. 280, S. 283, S. 290f., S. 300).
Dies gilt nicht nur angesichts der Dominanz der „Bielefelder Schule“ um Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, sondern auch in der Begegnung mit Vertretern der Conceptual History angloamerikanischer Couleur, die ihrerseits mit der deutschen Variante des vermeintlich verwandten Zugriffs wenig anzufangen wussten – was an Sprachhürden gelegen haben mag, aber mehr noch an der divergierenden Idee von Geschichtlichkeit und dem anderen Zugang zu ihr. In schärferem Kontrast dazu kann der aktuell zu beobachtende Rekurs auf Koselleck kaum stehen, der vom Weiterdenken seiner Theorien historischer Zeiten bis hin zur Funktion als Stichwortgeber für eine Neukonfigurierung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnismodi und -möglichkeiten unter dem Signum des Anthropozän reicht.8 Ehemalige Rezeptionshindernisse stellen sich gegenwärtig eher als Rezeptionsermöglichung dar. Allzu schnell könnte man darin eine den allgemeinen Wahrnehmungszyklen folgende Konjunktur aus Lesen und Bei-Seite-Legen, Wieder- oder Neu-Lesen, Zitieren, Darüber-Schreiben und Weiter-Denken erkennen. Doch verhält es sich hier etwas anders.
Zuallererst betrifft dies die Form. Denn in einer Zeit, die zunehmend von Aufmerksamkeitsökonomien getrieben scheint, in der es um raschen Output und ebenso rasches Rezipieren, damit nicht zuletzt auch um Verknappung, Zuspitzung und Verfügbarkeit von Erkenntnissen geht, wirkt eine als zentral erkannte Charakterisierung Kosellecks als „Anreger“, nicht aber als „detailversessener Ausführer“ (Jureit, Überschritt, S. 8) mehr als aktuell. Sobald es darum geht, prägnante Thesen zu formulieren, die zur Auseinandersetzung einladen, diese Thesen aber nicht in monographisch breiter, sondern in essayistisch reduzierter Form darzulegen und damit nicht im engeren Sinne auf wissenschaftlichen, sondern auf einen die Öffentlichkeit mitdenkenden und mitmeinenden Austausch zu zielen, scheint Koselleck stärker denn je als ein Impulsgeber für gegenwärtige Logiken des Erkenntnisteilens wirken zu können. Das meint freilich nicht, dass er ein Viel- oder gar Schnellschreiber gewesen wäre; im Gegenteil. Es bedeutet vielmehr, dass Koselleck – darin anderen Bielefelder Denkern nicht unähnlich – gleichsam verzettelt dachte, dass er kontinuierlich Material, schriftlich, aber zugleich in Form von Bild und Figur, zu unterschiedlichen Themen, Begriffen, Metaphern sammelte und insofern dann, wenn er etwas niederschrieb, „durch Weglassen abstrakt und anschaulich zugleich“ formulierte. So entstanden Kondensate langjährigen und langsamen Denkens in Form von Skizzen und pointierten Essays, nicht aber als „breitbändige Meistererzählung“ (beide Zitate: Hoffmann, Riss, S. 84).
Einmal abgesehen vom Kollektivprojekt der achtbändigen Geschichtlichen Grundbegriffe (1972–1997), fällt die schriftliche Hinterlassenschaft Kosellecks bereits damit aus dem Rahmen einer Disziplin, deren renommierteste Publikationen sich zeitgenössisch zuweilen weniger am Seitenumfang, sondern de facto eher am Gewicht der Bücher bemessen ließen. Wenngleich die verknappte Form primär in den Mühen Kosellecks wurzelte, überhaupt etwas schreibend zu fixieren, erleichtert genau dies nun den Einblick in und die Auseinandersetzung mit seiner Denk- und Arbeitswelt. Koselleck heute zu lesen bedeutet nicht, kiloweise Monographien zusammenzutragen, Anmerkungsapparate und Quellenanhänge im Detail zu studieren und leitende Thesen aus dem Paratext kompilieren zu müssen, sondern in verdichteter Vortrags- oder Aufsatzform einem zuweilen jahre- oder gar jahrzehntelangen Nachdenken über einen Gegenstand oder ein historisches Problem folgen zu können, dessen Autor sich durch die Niederschrift selbst zu disziplinieren, seine Hypothesen zu sortieren und damit Gedanken zu klären suchte. So entstanden deutungsoffene Sentenzen, denen ihr zugrunde liegender Lektüreaufwand und wissenschaftlicher Belegfleiß mitunter nicht als solcher anzusehen ist, die aber gerade in ihrer verknappten Darstellungsform und Zuspitzung umso mehr zur kritischen Reflexion, empirischen Überprüfung und somit zur nicht nur geschichtswissenschaftlich-fachinternen Diskussion und Andersperspektivierung auffordern.9
Zwischen Hand- und Nichtgreiflichem: Figur und Traum
Welche anderen Perspektiven dies sein könnten, dafür hat Koselleck selbst mehr als nur Fingerzeige gegeben. Und entsprechend sind sie es auch, die in der aktuellen Wiederannäherung an sein Werk deutlich erkannt und aufgegriffen werden. Diese Perspektiven berühren dabei nicht etwa eine methodische Spezial-, sondern eine Kernfrage, nämlich das Problem, was geschichtswissenschaftliches Erkennen eigentlich ist und wie es funktioniert. Worauf gründet sich fachspezifisches historisches Wissen, und wie lässt es sich unterscheiden von anderen Modi der Auseinandersetzung mit Vergangenheiten? Die Ansätze, die Koselleck diesbezüglich verfolgte, waren durchaus unzeitgemäß; sie bewegten sich nicht zuletzt am Rande des impliziten innerfachlichen Konsenses über adäquate Zugänge und Quellengrundlagen. Genau deshalb jedoch erscheinen sie heute besonders aktuell und auch jenseits der Geschichtswissenschaft als anschlussfähig. Denn Koselleck bezog sich keineswegs ausschließlich, zuweilen nicht einmal primär auf Schriftquellen, sondern konkretisierte seine Ausführungen oft am Bildlichen oder wählte Gemälde als Ausgangs- und Verdichtungspunkt seiner Überlegungen. Seiner Prämisse folgend, dass das Auge Distanz und damit zuallererst Erkennen ermögliche, näherte er sich Vergangenem nicht nur lesend und schreibend, sondern auch fotografierend und Figuren sammelnd.10 Mehr als das geschriebene Wort, das lineares Sehen und ebensolches Verstehen priorisiert, ermöglicht, ja erfordert es die Arbeit mit Bildlichem und Materiellem, stets andere Perspektiven einzunehmen, den eigenen Sehepunkt zu variieren, wodurch das so Erkennbare in Bewegung, in der Schwebe bleibt und nicht letztgültig fixiert werden kann.11 Damit erprobte Koselleck experimentell die Möglichkeit, Schriftgebundenes, Visuelles wie Gegenständliches als gleichberechtigtes Quellenmaterial zu berücksichtigen. Mehr noch: Geleitet von dem Interesse, die Schwelle zwischen individuellem Erleben und verallgemeinerbarer Erfahrung und diese wiederum als Voraussetzung und Motivation historischen Erkennens zu vermessen, suchte er gleichermaßen, Träume als legitime Vergangenheitszeugnisse anzuerkennen – ein Anspruch, der noch heute nahezu avantgardistisch scheint.12
Dies wiederum mag seinerseits erfahrungsmotiviert gewesen sein, denn Koselleck „verfolg[t]en“ Träume „mit beharrlicher Konstanz und forder[te]n somit ihre Einvernahme, um sie als Außendruck zu beseitigen“ (Koselleck, Lava, S. 512). Wenngleich Erfahrungen in Träume eingehen können, so unterscheiden sich beide doch in einem Punkt wesentlich: Während Erfahrungen sich mit der Zeit transformieren, wahlweise vergessen, verformt oder verfestigt werden und damit, je länger sie zurückliegen, desto deutlicher Spuren des Verarbeitens und damit der zeitlichen Distanz zum Geschehen selbst tragen, zeigen sich Träume immun gegen derartige Sedimentierungsprozesse, indem sie stets aus dem Schattenreich zwischen real Erlebtem und nächtlich Unbewusstem etwas aktualisieren und damit gewissermaßen immer präsent sind bzw. sich präsent halten – sie bleiben „schlichtweg da“ (Koselleck, Lava, S. 455). Gerade dieses Präsent-Halten und unmittelbare Wieder-Erleben bedeutete für Koselleck, dass Träume nicht psychoanalytisch auszudeuten seien, sondern ihnen eine je individuelle (Er-)Lebensdimension und damit historische Validität zuerkannt werden könne, ja möglicherweise gar müsse. Insofern lässt sich Koselleck nur schwerlich gerecht werden, sähe man ihn vor allem als Begriffshistoriker und damit als jemanden, der im engen Sinne schrift- und sprachgebunden Vergangenheiten zu analysieren suchte. Viel eher öffnen sich Deutungsräume, wenn man ihn etwa im Kontext der Ansätze der Oral History oder des Iconic/Material Turn erneut liest und andere Verwandtschaften sucht.
Auf Reisen: Jenseits von Fach- und Sprachgrenzen
Welche Verwandtschaften dies darüber hinaus sein könnten, zeigt sich, wenn man Koselleck auf Reisen schickt und danach fragt, ob zentrale von ihm originär geformte oder popularisierte Konzepte – seien es „Sattelzeit“, „Zeitschichten“, „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ oder auch die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ – sich globalisieren oder universalisieren lassen.13 Begriffsgeschichte bleibt unhintergehbar sprachgebunden und kann als solche auch nicht ohne Weiteres entgrenzt werden, da stets umsichtig zwischen semantischem Gehalt und terminologischem Gewand zu navigieren ist, sobald unterschiedliche Sprachkontexte vergleichend historisiert werden sollen.14 Anderswo jedoch lädt Koselleck durchaus zur kritischen Reflexion eurozentristischer Heuristiken, Denkmuster und Prämissen ein. Die Auseinandersetzung mit seiner 2021 von der Familie an die Universität Bielefeld übergebenen Figurensammlung, die nun neben dem schriftlichen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem fotografischen Nachlass im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Marburg die Trias des materiellen Intellektuellenerbes vervollständigt, zeigt das paradigmatisch.
Diese 140 Figuren – darunter als Souvenirs, Geschenke oder Zufallsfunde über Jahrzehnte zusammengetragene Repliken, Zinnfiguren, Miniaturen und Spielzeuge – wuchsen zu einem heterogenen Bestand an. Es ist ein Verdienst der Beitragenden in Regazzonis Band, dass sie dieser Sammlung nicht mit heiligem Ernst, aber doch mit offenem Interesse begegnen. Denn wenngleich man rasch der Versuchung erliegen könnte, in der Zusammenschau etwa aus Mao-Büste, Reiterstandbildern oder Schaukelpferdchen nichts mehr als einen skurril-spielerischen Spleen ihres Besitzers zu sehen, so verdeutlicht die Einlassung mit der Sammlung doch, dass sie mehr und anderes als ein Sammelsurium von Accessoires und Kuriosa war. Indem die Figuren mehrheitlich in Kosellecks Arbeitszimmer in Regalen und auf dem Schreibtisch platziert waren, er sie selbst dort arrangierte und zuweilen neu anordnete, waren sie sicht- und stets greifbarer Bestandteil seines Denkzentrums. Insofern ist es nicht nur möglich, sondern folgerichtig, anhand der Figuren Kosellecks eigene oder auch allgemeine historiographische Konzepte zu weiten, denn: „Die Frage des Globalen und der Verflechtung in Hinsicht auf die Menschheitsgeschichte ändert sich […], wenn sie ohne Fokussierung auf Kosellecks Schriften eher sammlungsimmanent gestellt wird“ – also gebunden an das Material und die Anschauung (Regazzoni, Zwischenraum, S. 29). Besonders eindrücklich wird dies an der Erörterung eines fossilen Holzstücks aus Afrika, das Koselleck als haptisches Denkstück diente und an dem sich Interferenzen zu seinem geologisch inspirierten Konzept der Zeitschichten illustrieren lassen (vgl. ebd., S. 143–160).
Dass hierin noch ein Potential liegt, das überdies nicht nur Fachgrenzen, sondern mehr noch die Grenzen der Wissenschaft überschreitet und zum experimentellen Figurenspiel einlädt, verdeutlicht nicht zuletzt die Absicht, diese Sammlung über den Tod ihres Urhebers hinaus als universitäre Lehr- und Forschungssammlung partizipativ zu erweitern.15 Zu den vielen Pferden mögen sich künftig noch mehr, aber andere Pferde gesellen – vor allem jedoch wird ein intellektuelles Erbe in Bewegung gebracht und zum Ausgangspunkt für neue Fragen, die tatsächlich nicht mehr sprachliche Artikulation und wissenschaftliche Darstellungsmodi vor anderen Formaten bevorzugen. Mit einem typisch schwedischen Dalarnapferd in der Hand denkt es sich über die Sattelzeit zweifellos anders, als wenn man sich lesend durch die Einleitung der Geschichtlichen Grundbegriffe arbeitet. Unterschiedlich visualisier- und materialisierbare Konzepte und Topoi lassen sich so als Zugangsweisen zu Vergangenheiten erproben; und zwar zu schriftlich wie nichtschriftlich geformten Vergangenheiten vielfältiger Maßstäbe, womit die Frage nach national oder global, weltregional oder universell in den Hintergrund rückt und dergestalt ein anderes Erkennen möglich wird.
Im Dickicht der Zeiten: Was folgt?
100 Jahre Koselleck: Das ist ein Hadern mit der nie erfolgten Distanzierung von Carl Schmitt und eigenwillig dunkel bleibenden Einlassungen zur eigenen Biographie (vgl. Hoffmann, Riss, S. 57–59; Jureit, Überschritt, S. 38), eine Erinnerung an die Dominanz der Sozialgeschichte und der in ihrem Schatten früh erfolgten Wahrnehmungsverengung auf die Begriffsgeschichte, die bereits aufgrund ihrer mehrbändigen Manifestation sichtbarer war – und lange blieb –, als es die kleinen Formen des kondensierten Schreibdenkens werden konnten. Es ist aber auch eine Einsicht in die Diskrepanz zwischen disziplinärer Festigung und überdisziplinären methodischen Explorationen, in die Unwuchten internationaler Rezeption sowie nicht zuletzt eine Aufforderung, den wohl ebenso prekären wie unbestreitbar wichtigen Ort der Geschichts- als Erfahrungswissenschaft in einer global sensibilisierten Gegenwart zu problematisieren, in der sich zuletzt wieder gehäuft reflexartige Rückzüge ins Nationale beobachten lassen. Insofern führt eine Nahbetrachtung von Kosellecks Texten unweigerlich ins Dickicht der Zeiten, und zwar in einem emphatischen Sinne.16 Denn diese Texte legen zuallererst Zeugnis ab vom Einspruch gegen jegliche Erkenntnisverfestigung, Vergangenheitsstilllegung und so etwas wie Sinnstiftung; ein Einspruch, den Koselleck bei seinen Interventionen in die deutsche Denkmalspolitik und das öffentliche Totengedenken am vehementesten vorgetragen hat.
Ausgehend von gegenwärtigen Zeiten ringen die Beiträge erkennbar mit vergangenen und zukünftigen Zeiten, mit deren Verhältnis zueinander und möglichen Anordnungs- als Verstehensweisen. Die Moderne kann dabei weder an Gott noch an die Geschichte als ihre feste Burg glauben – auch wenn sie es sich zur Aufgabe machte, diesen Glauben zu glauben. Vielmehr muss sie sich damit konfrontieren, auf unsicherem Fundament zu stehen. Es ist dieser schwankende Grund, den die Verwerfungen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts offenlegten und den Koselleck konzeptionell aufzuschlüsseln suchte. Dass dabei epistemologische Offenheit (nicht Beliebigkeit) kein Wunsch, sondern Gebot sein muss, könnte eine der Lehren sein, die sich aus dem (Zwie-)Gespräch mit Koselleck ergeben.17 Und dies gerade zu einem Zeitpunkt, an dem sich im Spektrum der Forschung eine generationelle Schwelle zwischen Erinnerung aus der Innenschau der Mitlebenden und Annäherung aus einer Außenperspektive der Nachlebenden bemerkbar macht, die ein interessantes Spannungsfeld und neue Fragehorizonte eröffnet.18 Die vorliegenden Jubiläumsgaben stellen diesbezüglich eine Klammer dar: Aus ihnen spricht teilweise noch die Zeitzeugenschaft, aber eine, die sich selbst reflexiv geworden ist. Zum anderen Teil sind es Annäherungen aus der – lebenszeitlichen wie fachlichen – Distanz, die nicht per se kritischer ausfallen, aber der Person Koselleck und ihrem Werk doch unbefangener begegnen. So entsteht kein „neuer“ Koselleck, keine Relektüre, die bisherige Interpretationen in Gänze wendet, aber doch ein Deutungsangebot, das den Begriffshistoriker und Zeitentheoretiker, den geschichtspolitisch Engagierten und visuell Denkenden in neuen Kontexten präsentiert und somit anders gewichtet.
Besonders eindrücklich macht hier der Band „Geronnene Lava“, wie wenig vergangen manche Vergangenheiten für Koselleck waren und wie er – auch im Schutz der Privatheit – mit ihnen rang; wie er eigene Erfahrungen, Träume und Erinnerungen schriftlich zu veräußern suchte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Leerstelle der Historik durchaus in anderem Licht. Inwiefern jedoch Ulrike Jureits Annahme, dass der Erfahrung, nicht der Zeit primärer Status in Kosellecks Begriffsarsenal zuzusprechen sei, tatsächlich neue Perspektiven eröffnet bzw. welche dies sein könnten, wird weit weniger deutlich als die Prämisse als solche. Erfahrung selbst ist ein mehrfach temporal aufgeladener Signifikant, sodass eine Separierung (und Hierarchisierung) beider vielleicht auf der Ebene der Bezeichnung, nicht jedoch auf konzeptioneller Ebene sinnvoll nachvollzogen werden kann. Am ehesten weisen so Stefan-Ludwig Hoffmann sowie die von Lisa Regazzoni versammelten Beiträge neues und als solches streitbares Terrain aus. Dies betrifft zum einen Hoffmanns Erörterung, ob wir gegenwärtig in einer neuen Sattelzeit lebten, und seine These, dass Koselleck insofern heute mehr denn je unser „Zeitgenosse“ sei (Hoffmann, Riss, S. 311). Entsprechend sucht er dessen Denken auch ins Verhältnis zu globalhistorischen Ansätzen zu setzen und hebt Kosellecks Auseinandersetzung mit Wiederholungsstrukturen hervor, die aktuell im Kontext der kritischen Reflexion historischer und „natürlicher“ Zeitlichkeiten neue Relevanz erhielten (ebd., S. 350–362). Und zum anderen ist es die praktische, überdisziplinäre Annäherung an die Figuren, die mal mehr, mal weniger überzeugend, aber in Gänze doch weiter bedenkenswert erscheint. Unter Rückgriff auf Figuren, in der Auseinandersetzung mit der Genese der Sammlung, in ihrer Ergänzung und Präsentation nämlich lässt sich nicht lediglich Kosellecks Interesse am Dreischritt des Vor-, Nach- und Pferdezeitalters greifen, sondern es kann auch ohne sprachliches Primat ein konzeptionelles Gespräch initiiert und multiperspektivisches, nicht-lineares Denken erprobt werden. Dass alle Bände in unterschiedlicher Tiefe auf die in Marbach, Marburg und Bielefeld aufbewahrten Nachlassbestände zurückgreifen, unterstreicht, dass auf dieser Grundlage einsichtsreiche (Erst-)Begegnungen mit Koselleck möglich bleiben.19 Und es bleibt abzuwarten, welche Gestalt diese – auch und gerade im internationalen Rahmen – zukünftig annehmen werden.
Wie in Kosellecks zu später Hinwendung zur eigenen Vergangenheit eine unüberbrückbare Distanz zum Moment des Erlebens eingeschrieben ist, so ist für jede derart rückblickende Deutung vergangener Zeiten vieles ungewiss; außer „meine Stationen im Winter 41/42“, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lagen, aber eben nicht „meine Stationen in Ukraine 41/42“ waren.20 Und doch ist historiographisches Erkennen selbst unhintergehbar ein späteres, da nachholendes und diese Distanz vermittelndes. Dass genau diese zuweilen verunsichernde Distanz folglich nicht (nur) Hindernis sein muss, sondern auch ein offeneres Fragen ermöglichen kann, das verdeutlichen die aktuellen Auseinandersetzungen mit Reinhart Kosellecks hinterlassenen Ideen.
Weitere Beiträge zum Thema aus unserem Online-Archiv:
Brandt, Bettina; Hochkirchen, Britta (Hrsg.): Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld: Transcript 2021; rezensiert von Ulrike Jureit, 17.08.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49909.
Dutt, Carsten; Laube, Reinhard (Hrsg.): Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen: Wallstein 2013; rezensiert von Peter Tietze, 22.01.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-18246.
Hettling, Manfred; Schieder, Wolfgang (Hrsg.): Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021; rezensiert von Petra Boden, 18.02.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94818.
Huhnholz, Sebastian: Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“, Berlin: Duncker & Humblot 2019; rezensiert von Peter Tietze, 03.09.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28412.
Joas, Hans; Vogt, Peter (Hrsg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011; rezensiert von Achim Saupe, 01.03.2012, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-16617.
Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; rezensiert von Torsten Bathmann, 10.09.2000, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-2415.
Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; rezensiert von Reinhard Mehring, 29.11.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9137.
Koselleck, Reinhart; Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hrsg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin: Suhrkamp 2019; rezensiert von Jan-Friedrich Missfelder, 15.07.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28442.
Locher, Hubert; Markantonatos, Adriana (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2013; rezensiert von Isabelle de Keghel, 25.06.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-19513.
Olsen, Niklas: History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York: Berghahn 2012; rezensiert von Achim Saupe, 28.03.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-17447.
Palonen, Kari: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster: LIT 2003; rezensiert von Franz Leander Fillafer, 14.09.2004, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-5553.
Tagungsbericht von Daniela Di Pinto, Reinhart Koselleck und die Zeitgeschichte, 10.07.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-137384.
Anmerkungen:
1 Genannt seien hier nicht diejenigen, auf denen mein Essay basiert, und insgesamt nur eine Auswahl. Vgl. Archiv für Begriffsgeschichte 64 (2022), Heft 2: Reinhart Koselleck; Contributions to the History of Concepts 18 (2023), Heft 1: Celebrating Reinhart Koselleck’s 100th Birthday; sowie den Blog Geschichtstheorie am Werk, Komposita: Contributions to Reinhart Koselleck’s „Space of Resonance“, https://gtw.hypotheses.org/komposita (23.08.2023); Jonathon Catlin, Reinhart Koselleck at One Hundred, in: Journal of the History of Ideas Blog, 01.02.2023, https://jhiblog.org/2023/02/01/reinhart-koselleck-at-one-hundred/ (23.08.2023); Bodo Mrozek, Die sogenannte Sattelzeit. Reinhart Kosellecks Geschichts-Metapher im Erfahrungsraum des Krieges, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 75 (2023), S. 133–153, https://doi.org/10.1163/15700739-07502002 (23.08.2023).
2 Vgl. Reinhart Koselleck / Carl Schmitt, Der Briefwechsel 1953–1983, hrsg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019; Hans Blumenberg / Reinhart Koselleck, Briefwechsel 1965–1994, hrsg. von Jan Eike Dunkhase und Rüdiger Zill, Berlin 2023.
3 Darunter zahlreiche Besprechungen und Beiträge in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „WELT“ und „ZEIT“. Hervorgehoben seien der bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Beitrag von Hans Ulrich Gumbrecht, Ein Historiker unserer Gegenwart, in: Neue Zürcher Zeitung, 03.04.2021, S. 40, https://www.nzz.ch/feuilleton/die-hypokrisie-der-aufklaerung-gumbrecht-ueber-reinhart-koselleck-ld.1609258 (23.08.2023; online mit verändertem Titel), sowie der streitbare Essay von Sidonie Kellerer, Kosellecks Latenzzeit, in: Philosophie Magazin, 21.04.2023, https://www.philomag.de/artikel/kosellecks-latenzzeit (23.08.2023; leider nicht frei zugänglich).
4 Bisweilen auch, um Bezüge zur #MeToo-Bewegung zu evozieren, wodurch die Auseinandersetzung mit Koselleck ins Persönliche ausgeweitet und als Linse genutzt wird, um wissenschaftliche Abhängigkeitsstrukturen sichtbar und diese einer nachholenden Kritik zugänglich zu machen. Vgl. etwa die Tweets von Franziska Davies, 26.04.2023, https://twitter.com/EFDavies/status/1651103576259981312, und Jürgen Zimmerer, 25.04.2023, https://twitter.com/JuergenZimmerer/status/1650948822229479436 (23.08.2023). Wie zielführend dies ist, wäre an anderer Stelle zu klären.
5 Vgl. Ute Daniel, Reinhart Koselleck (1923–2006), in: Lutz Raphael (Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. II: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, München 2006, S. 166–194, sowie Carsten Dutt, Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, in: Wolfgang E.J. Weber (Hrsg.), Klassiker der Geschichtsschreibung, Stuttgart 2016, S. 192–194.
6 So erfuhr beispielsweise seine Dissertation erst knapp 30 Jahre nach ihrem Erscheinen eine englische Übersetzung. Anderes wurde noch später oder gar erst postum übersetzt. Vgl. Reinhart Koselleck, Critique and Crisis. Enlightenment and the Pathogenesis of Modern Society, Cambridge, MA 1988; ders., Futures Past. On the Semantics of Historical Time, translated by Keith Tribe, Cambridge, MA 1985; ders., Sediments of Time. On Possible Histories, translated and edited by Sean Franzel and Stefan-Ludwig Hoffmann, Palo Alto, CA 2018.
7 Jacob Taubes, Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks Programm einer neuen Historik, in: Reinhart Koselleck / Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 490–499, hier S. 493.
8 Vgl. etwa Fernando Esposito, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie historischer Zeiten zwischen Spätaufklärung und Posthistoire, Habil.-Ms. Universität Konstanz 2023; Helge Jordheim, Natural Histories for the Anthropocene. Koselleck’s Theories and the Possibility of a History of Lifetimes, in: History and Theory 61 (2022), S. 391–425, https://doi.org/10.1111/hith.12268 (23.08.2023).
9 Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung mit der Sattelzeit-These, die vielfach kritisiert wurde, sei es aufgrund ihres Fokus auf den deutschen Sprachraum oder wegen der damit vorgeschlagenen Periodisierung, die dessen ungeachtet aber bis heute ein eigentümlich selbstständiges Leben im wissenschaftlichen Diskurs führt. Vgl. Jan Marco Sawilla, „Geschichte“: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des „Kollektivsingulars Geschichte“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 381–428, https://www.jstor.org/stable/43570048 (23.08.2023), und zuletzt Mrozek, Die sogenannte Sattelzeit.
10 Vgl. Reinhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine R. Arnold / Christian Fuhrmeister / Dietmar Schiller (Hrsg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 25–34, hier S. 26. Dieser Text ist jetzt wiederabgedruckt in Koselleck, Geronnene Lava, S. 236–249, hier S. 238.
11 Vgl. Bettina Brandt / Britta Hochkirchen (Hrsg.), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021; Hubert Locher / Adriana Markantonatos (Hrsg.), Reinhart Koselleck und die politische Ikonologie, Berlin 2013.
12 Vgl. vor allem seinen Einsatz für die deutsche Übersetzung von Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck, Frankfurt am Main 1994. Dazu auch Hoffmann, Riss, S. 151–161.
13 Vgl. Margrit Pernau, Can Koselleck Travel? Theory of History and the Problem of the Universal, in: Contributions to the History of Concepts 18 (2023), Heft 1, S. 24–45.
14 Die damit verbundenen Herausforderungen verdeutlichen paradigmatisch die Beiträge in Willibald Steinmetz / Michael Freeden / Javier Fernández-Sebastián (Hrsg.), Conceptual History in the European Space, New York, NY 2017.
15 Jede und jeder kann so Figuren einsenden, mit denen sich Kosellecks Sammlung weiter befragen ließe. Vgl. Lisa Regazzoni, Objekt-Aufruf zum partizipativen Ausbau der Figurensammlung Reinhart Koselleck, in: Geschichtstheorie am Werk, 08.08.2023, https://gtw.hypotheses.org/17156 (23.08.2023).
16 In Anlehnung an Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015.
17 So bereits Niklas Olsen, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, S. 304.
18 Exemplarisch hierfür Manfred Hettling / Wolfgang Schieder (Hrsg.), Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen 2021, und Olsen, History in the Plural.
19 Diesen Nachlass konnte die erste Biographie Kosellecks, die zugleich eine Werkeinführung für ein nicht deutschsprachiges Publikum darstellt, noch nicht berücksichtigen. Vgl. Olsen, History in the Plural.
20 So die irrtümliche Übertragung einer handschriftlichen Notiz Kosellecks auf einer Karte des Operationsraumes der 6. Armee, die im Ausstellungskatalog „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ abgedruckt ist und in die Koselleck 1996 seine eigenen Stationen eingetragen hat. Siehe Hoffmann, Riss, hier Bildunterschrift zu Abb. 3 (im Tafelteil).