D. Wierling (Hrsg.): "Wenn die Norskes uns schon nicht lieben..."

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Titel
"Wenn die Norskes uns schon nicht lieben, …". Das Tagebuch des Dienststellenleiters Heinrich Christen in Norwegen 1941–1943


Herausgeber
Wierling, Dorothee
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
288 S., 17 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kim Christian Priemel, Department of Archaeology, Conservation and History, University of Oslo

Ironischerweise ist Heinrich Christen in Norwegen weit bekannter als in Deutschland. Nachdem eine Forschergruppe um Stein Ugelvik Larsen 2009 das Tagebuch des ehemaligen Leiters der Zivilverwaltung in Bergen und Trondheim während des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht hatte, wurde Christen zu einer festen Größe unter den Akteuren der Besatzungszeit. In Deutschland ist er nach wie vor nahezu unbekannt, was zum Teil an der Sprachbarriere liegt, vor allem aber daran, dass die Besetzung Norwegens sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der populären Darstellung des Krieges nur eine periphere Rolle spielt. Die implizite Annahme bleibt, dass Norwegen, insbesondere im Vergleich zu Osteuropa, eine Art milden Krieg erlebte und nach der Schlacht um Narvik von untergeordneter militärischer Bedeutung war. Während Hitlers wohlbekannte Überschätzung Norwegens als potenziell kriegsentscheidendem Schauplatz oft als Beleg für seine militärstrategischen Defizite interpretiert wird, ist es die Platzierung der Norweger an der Spitze der rassistischen Hierarchie des Nationalsozialismus, welche die Vorstellung von einem nahezu benevolenten Besatzungsregime unterstützt.

Sind diese Prämissen auch nicht völlig falsch, so sind sie doch unausgewogen und irreführend. Sie zu korrigieren ist daher ein zentrales Anliegen von Dorothee Wierling mit der Veröffentlichung dieses Tagebuchs in seiner ursprünglichen Fassung. Wierling stieß auf Heinrich Christen durch dessen Tätigkeit als Kaffeeagent in Hamburg. Als renommierte Alltagshistorikerin, die Erfahrungen, Wahrnehmungen und nicht zuletzt Erinnerungen erforscht, die in der Regel nicht in die großen Erzählungen eingehen, die aber einen Zugang zum flüchtigen Kollektiv der „Jedermanns“ ermöglichen, ist ihr Blick ein anderer als derjenige Ugelvik Larsens. Ihre beiden einleitenden Kapitel sind daher nicht nur überaus nützlich, sondern tragen zu einer Neukonzeption der Besatzungsgeschichte bei, indem der Blick auf die großen Konflikte, Krisen und Gräueltaten durch die Perspektive auf den unspektakulären, aber eben deshalb stabilisierenden gemeinsamen Alltag von Besatzern und Besetzten ergänzt und gerahmt wird. Die Beiträge von Maria Fritsche über Alkoholkonsum als Machtressource und Männlichkeitsritual bei den Besatzern und Simon Gogl über die zivile deutsche Verwaltung in der Region tragen ebenfalls in überzeugender Weise zu dieser Perspektivverschiebung bei.

Ein Durchschnittstäter war Heinrich Christen kaum. Obwohl nicht wesentlich am Aufbau der Besatzungspolitik beteiligt, wurde er zu einem wichtigen Akteur bei ihrer Umsetzung vor Ort, zunächst in Bergen und dann in Trondheim. Sein Tagebuch gibt Aufschluss darüber, wie die Mehrheit der meist namenlosen deutschen Besatzer Okkupation und Krieg mitgestalteten und erlebten. Christens Tagebucheinträge handeln von norwegischen Widerstandsaktivitäten und dem gigantischen Bauprojekt „Festung Norwegen“ ebenso wie vom Wetter, von Urlaubsplänen und vom gesellschaftlichen Leben. Die Banalität vieler Einträge ist augenfällig (und oft anstrengend), unterstreicht aber die Authentizität der Quelle. Zudem ist die Trivialität an sich schon bemerkenswert, wenn Christen Informationen über brutale Repressalien – die Hinrichtung zehn unschuldiger Zivilisten nach Sabotageakten in Trondheim im Oktober 1942 ist das Kernstück des Tagebuchs – mit Einträgen über Feiern und Kartenspiele verbindet. Der/Die Leser:in läuft mehr als einmal Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen, weil sie nur beiläufig auftauchen, etwa wenn Christen sich „15 KZ-Leute […] ausleiht“ (S. 179), um sein Bürogebäude zu renovieren, oder wenn er beim Transport von 450 Gefangenen von Grini nach Nordreisa hilft (S. 188). Gerade hier erweisen sich die biografische Skizze von Wierling und ein viertes Kapitel von Bjarte Bruland, der Christens Rolle mit der des Sipo-Chefs Gerhard Flesch vergleicht, als besonders nützlich. Bruland arbeitet die wenigen Belege heraus, die darauf hindeuten, dass Christen in der deutschen Terrorismuspolitik weitaus aktiver war als bisher angenommen, und betont, dass die Unterscheidung zwischen einer pragmatischen, scheinbar „vernünftig“ handelnden Zivilverwaltung auf der einen und einem ideologisch getriebenen polizeilichen Terrorapparat auf der anderen Seite in die Irre führt. Es handelte sich nicht nur um zwei Gesichter desselben Regimes, sondern in der Praxis erwiesen sich die Übereinstimmungen in Zielen und Methoden.

Doch dank solch vereinfachender Sichtweisen war die Nachwelt lange Zeit Christen wohlgesonnen, nicht zuletzt, weil lokale Akteure wie Bergens Bürgermeister Asbjørn Stensaker ein Bild von Christen als wichtigem Verbündeten gegen die Parvenüs von der norwegischen faschistischen Partei Nasjonal Samling unter Vidkun Quisling, die mit den Deutschen kooperierte, zeichneten. Das Tagebuch stützt diese Darstellung in mancher Hinsicht: Christen hatte für Quisling, Hagelin und ihre lokalen Abgeordneten nichts übrig und hätte es vorgezogen, dass Hitler und der Reichskommissar für Norwegen Josef Terboven andere Kollaborationspartner im Lande gewählt hätten: Was nützt eine „Diktatur einer noch nicht einmal leistungsfähigen Minderheit“ (S. 148), notierte er mit spitzer Feder im Februar 1942. Aber seine Frustration über die Nasjonal Samling und die deutschen Behörden in Oslo bedeutete eben nicht, dass er die Legitimität von Besatzung und Krieges anzweifelte oder weniger ideologisch als pragmatisch motiviert war. In zahlreichen Einträgen wird Christens Rassismus ebenso offenkundig wie die Gewalttätigkeit seiner Sprache und sein fester Glaube an das „Dritte Reich“ und den „Führer“ unterstreichen, dass Christen ein früher Anhänger des Nationalsozialismus war: Als alter Kämpfer war er bereits 1930 in die NSDAP eingetreten, lange bevor er diese Verbindungen zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen und persönlichen Ziele nutzen konnte.

In seinem Tagebuch präsentiert der Besatzer ein Selbstbildnis, das sowohl den Ideologen als auch den Pragmatiker herausstellt; für Christen bestand da kein Widerspruch. Zugleich nutzte der Funktionär das Tagebuch zur Selbststilisierung, so vor allem in einer Präambel, in der er das Tagebuch seinen Kindern widmet, aber auch in den wiederkehrenden Reflektionen, wie der Krieg denn nun zum deutschen Endsieg führen werde. Bedauerlicherweise erfährt der/die Leser:in nicht, ob und wie diese Überlegungen – die wachsende Zweifel bekunden, obwohl der Autor den Eindruck von Defätismus stets zu vermeiden sucht – zu Christens Entschluss führten, sich freiwillig an die Front zu melden (ein durchaus nicht alltäglicher Schritt unter den höheren Führungskräften der Zivilverwaltung). Dies ist der Quellenlage geschuldet: Der letzte Teil des Tagebuchs, die Zeit nach Januar 1943, ist leider verloren gegangen.

Wierling und die Autoren der übrigen Kapitel reflektieren exzellent darüber, was das Tagebuch sagt und was es auslässt. So viel Kontext in einer Quellenedition geliefert zu bekommen, ist eine Handreichung, die viele Leser:innen schätzen werden. Die Verweise sind sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Ausführlichkeit beispielhaft und gehen deutlich über das hinaus, was Ugelvik Larsen und seine Mitarbeiter in der norwegischen Übersetzung anbieten konnten. Die Tatsache, dass die neue Veröffentlichung den deutschen Originaltext zugänglich macht, kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Obwohl die norwegische Übersetzung seinerzeit sehr gute Arbeit leistete, gibt es viele Stellen in Christens Tagebuch, an denen seine Sprache – aber auch die lingua tertii imperii (Victor Klemperer) – in ihrer Kombination aus Grobheit und Tarnung so eigenwillig ist, dass sie oft nicht ohne Nuancenverlust übersetzt werden kann. Dies gilt nicht zuletzt für formale Bezeichnungen wie ‚Gebietskommissar‘ und ‚Dienststelle‘; diese haben eine andere Konnotation als „Regionalbüro“ und „Regionalabteilung“, wie es in der norwegischen Übersetzung heißt, und der – für einen „statusbesessenen“ (S. 25) Akteur wie Christen erhebliche – Prestigeverlust, der mit der Umbenennung des Kommissariats einherging, ist im Norwegischen schwer zu vermitteln. Für norwegischsprachige Leser:innen wird die Ausgabe von 2009 eine wichtige Quelle bleiben; für alle anderen ist Wierlings Ausgabe der neue Goldstandard.

Anmerkung:
[1] Die Rezension erschien zuerst auf Norwegisch in: Historisk tidsskrift, Bind 101, Nr. 4-2022, S. 375-377. Deutsche Übersetzung mit Hilfe von DeepL von Michael Wildt und Kim Christian Priemel.

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