Cover
Titel
Atomic Obsession. Nuclear Alarmism from Hiroshima to Al Qaeda


Autor(en)
Mueller, John
Erschienen
Anzahl Seiten
xiii, 320 S.
Preis
£ 16.99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

„Die Atombombe ist ein Papiertiger, mit dem die amerikanischen Reaktionäre die Menschen einschüchtern wollen. Sie sieht fürchterlich aus, aber in Wirklichkeit ist sie es nicht,“ sagte Mao Zedong bereits im August 1946 einer amerikanischen Journalistin: „Natürlich ist die Atombombe eine Massenvernichtungswaffe. Aber über den Ausgang eines Krieges entscheidet das Volk, nicht eine oder zwei neue Arten von Waffen.“ Bernard Brodie gab im gleichen Jahr ein maßgeblich werdendes Buch „The Abolute Weapon. Atomic Power and the World Order“ heraus. Darin argumentierte er, dass die Atombombe kaum militärisch einsetzbar sei, jedoch eine politische Waffe zur Abschreckung darstelle. Daher müsse man künftig jedem Agressor auf diese Weise begegnen.

John Mueller, Politologe an der Ohio State University, zitiert Mao nicht, scheint aber in vielem dessen Einschätzung zu folgen. Letztlich kommt er aber auf Brodie hinaus und zwar auf dessen Weiterdenken bis zu seinem Tod 1978. Da hatte dieser erkannt, dass die ganze Abschreckungsstrategie und ihr „worst-case scenario“ auf Annahmen beruhte, die so vielleicht gar nicht zutrafen, nur Worte waren. An letzteres knüpft auch Mueller in Verehrung an.

Etwa die Hälfte des Bandes ist der Vergangenheit gewidmet, mit der anderen Hälfte sucht er Orientierung aus dem letzten Jahrzehnt für Gegenwart und Zukunft zu geben. Er ist ein belesener Autor, der sich dieses Themas schon zuvor in sechs Büchern angenommen hatte. Bereits Anfang 1989, also vor dem Fall der Berliner Mauer, hieß es in „Retreat From Doomsday. The Obsolenscence of Major War“, Krieg sei seit dem Ersten Weltkrieg und zumal im Atomzeitalter eigentlich kein vernünftiges Instrument der Politik mehr, die Großmächte hätten das auch selbst gemerkt. Dabei bleibt Mueller auch in seinem neuen Buch. Der erste Teil ist benannt „The Impact of Nuclear Weapons“. Darin sucht er zu zunächst zu zeigen, dass die Nuklearwaffen aller Art gar nicht so schlimm seien wie behauptet. Das gelte von den elektromagnetischen Impulsen über die unmittelbare Strahlung, dem Zerstörungsradius bis hin zu den langfristigen Folgen der Strahlung und den „schmutzigen“ Bomben. Wem da bereits die Haare zu Berge stehen, sei immerhin gesagt, dass der Verfasser dem einerseits Opferzahlen konventionellen Tötens im oder durch Krieg entgegenstellt, andererseits apokalyptische Visionen vom Ende der Menschheit anführt, die er in den Szenarien für nicht zutreffend oder wahrscheinlich hält.

„Overstating the Effects“, ist das nächste Kapitel überschrieben: weder seien die direkten noch die indirekten Folgen von Hiroshima und Nagasaki so schlimm wie vielfach angenommen, noch seien bei späteren bis heutigen Nukleareinsätzen in jedem Fall apokalyptische Formen anzunehmen. Gewiss gebe es Angriffszenarios, die ganze Gesellschaften zerstören könnten, aber das werde oft hysterisch übertrieben. Ein solches „Overstatement“ habe es immer wieder über die Wirkung neuer Waffen gegeben, doch sei das weit von der Realität entfernt. Zentral ist das nächste Argument: Atomwafffen hätten den Dritten Weltkrieg nicht verhindert, wie häufig behauptet werde. Vielmehr hätten weder die USA noch die Sowjetunion eine aggressive Militärdoktrin besessen, die einen Nuklearkrieg ernstlich anvisiert hätte. Die Sowjets hätten stattdessen zur Verbreitung ihres Einflusses auf von innen kommende Revolutionen gesetzt, seien militärisch äußerst vorsichtig vorgegangen.

Insofern hätten Atomwaffen nur einen sehr bescheidenen Einfluss auf den Kalten Krieg gehabt: die Großmächte hätten auch beim Vorhandensein nur konventioneller Waffen kaum einen großen Krieg riskiert. Mit Hans Morgenthau heißt es (S. 80), es seien nicht die Waffen, welche einen Krieg herbeiführten, sondern die Politik, welche sich ihrer bedienten. Rüstungsbegrenzungabkommen seit den 1960er-Jahren hätten genau den behaupteten Zweck nicht erfüllt, sondern sie hätten eher zu verstärkten Rüstungen angeregt. Nicht müde wird Mueller immer wieder im Gebrauch von Formeln wie etwa. „The essential irrelevance, or at most the merely ancillary relevanve, of nuclear weapons to important historical events is neatly illustrated….” (S. 50) – etwa für das Ende des Kalten Krieges. Nonproliferation – wie 1968 vertraglich vereinbart – solle man zwar anstreben, darin stecke aber nicht wirklich ein großes Problem.

Ausführlich diskutiert der Verfasser in seinem letzten Hauptteil auch alle Gegenwartsprobleme bis hin zu Irak, Iran, Nordkorea, die „schmutzige“ Bombe in der Hand von Terroristen etc. Immer wieder schließt er in prägnanten Formulierungen: eine solche Bombe sei irrelevant, zu teuer, zu schwierig zu beschaffen, dann auch zu schwierig zu handhaben.

Ein simpler neokonservativer Apologet ist Mueller mit seinen brillant und zugespitzt vorgetragenen Thesen letztlich aber doch nicht. Er trägt eine Fülle an Zitaten hochrangiger Politiker und Wissenschaftler aus der Vergangenheit zusammen, um zu zeigen, wie absurd deren endzeitliche Voraussagen jeweils bereits nach wenigen Jahren waren. Sein eifernder Kampf richtet sich gegen den Umgang mit worst-case scenarios, die für viele Übel dieser Welt verantwortlich seien, die häufig das Gegenteil von dem zustande gebracht hätten, was sie beabsichtigt hätten, nämlich ein absurdes Wettrüsten ohne jeden Sinn.

Kritik an dem Band sollte davon ausgehen, dass der „realistische“ Politikansatz Muellers andere Denkformen gerade in der internationalen Politik zu wenig berücksichtigt. Gewiss kennt auch er gewissenlose Diktatoren oder auch Gesellschaften mit anderen Moralordnungen und Wertvorstellungen. Aber deren Bedeutung spielt er bis zur Apologie aus dem Geist realistischer Politiktheorie herunter. Was soll man davon halten, wenn einerseits „vernünftige“ Groß- oder Weltmachtpolitiken gar keine Kriege und schon gar nicht einen Atomkrieg anstrebten, andererseits aber genau aus der Sorge vor einer von außen aufgezwungenen eher politischen Erpressung Waffenarsenale mit absurden Kosten angehäuft wurden? Das könnte man mit einem military industrial complex, also gleichsam mit einer Außensteuerung von Politik erklären. Doch daran denkt Mueller nicht.

Aber auf diese Weise formuliert der Autor wohl doch ein Paradox für die Zeit jenes Kalten Krieges, das jedoch noch längst nicht vergangen ist und für ihn bis heute weiter besteht: Politiker können mit worst case scenarios oder perzipierten Sicherheitslücken oder –dilemmata kräftig daneben liegen – und dagegen argumentiert der Autor an. Aber ganz ohne ein solches Denken in mögliche gefährliche Entwicklungen hinein, ist verantwortungsvolle Politik, auch im internationalen Bereich, wohl nicht zu denken. So deutlich wie bei Mueller ist die reale Rolle von Massenvernichtungswaffen selten benannt worden, die Diagnosen dazu sind höchst strittig.

Er endet mit ca. dreißig in „bullet-points“ präsentierten Merksätzen. Absurd und widersprüchlich scheinen manche von ihnen. Dazu gehört etwa: Wenn der Iran gegenwärtig wirklich ein atomares Arsenal entwickle, dann werde er schon bald merken, dass solche Bomben „essentially useless and a very considerable waste of money and effort“ darstellten (S. 238). Gelassene Argumentationen sind bisweilen in der Tat angebracht – aber: was ist, wenn Mueller sich irrt? Ins Schwarze trifft jedoch eine andere These: Nuklearwaffen hätten nur begrenzt reale Bedeutung für die Geschichte gehabt, aber „they have had a tremendous influence on our agonies and obsessions, inspiring desparate rhetoric, extravagant theorizing, wasteful expenditure and frenectic diplomatic posturing“ (S. 236f.). Ein Historiker würde das erklären, Mueller regt sich darüber mit scharfen Argumenten auf.

Schwieriger wird es mit der Ansicht, „arms reduction“ komme gleichsam von alleine, wenn Staaten sich intern zur Entschärfung von Gegensätzen entschlössen, formale Abrüstung gehe bestenfalls langsam vonstatten und fördere vielleicht eher Aufrüstung. Und schließlich: bisherige Versuche, Schurkenstaaten an der Besorgung nuklearer Waffen zu hindern, seien kontraproduktiv gewesen. Diese Versuche hätten mehr Todesopfer mit sich gebracht als alle bisherigen nuklearen Detonationen in der Geschichte.

Man kann sich über Muellers Überspitzungen und damit verharmlosende und wohl auch falsche Beobachtungen sehr ärgern, man kann andere auch sehr anregend finden, beides geht bisweilen nahtlos ineinander über. Die Dilemmata, die der Autor beschreibt, sind jedoch wohl weniger leicht aufzulösen, als er selbst suggeriert.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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