X. Yang: Die Rechtsabweichler von Jiabiangou

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Title
Die Rechtsabweichler von Jiabiangou. Berichte aus einem Umerziehungslager


Author(s)
Yang, Xianhui
Series
edition suhrkamp 2591
Published
Frankfurt am Main 2009: Suhrkamp Verlag
Extent
251 S.
Price
€ 16,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Sascha Klotzbücher, Institut für Ostasienwissenschaften – Sinologie, Universität Wien

Ein düsteres Kapitel der Geschichte der Volksrepublik China sind die unzähligen Hungertoten Ende der 1950er-Jahre in einem Umerziehungslager in Jiabiangou, ein Gebiet in der nordwestlichen Provinz Gansu. Intellektuelle und andere Kader wurden nach ihrer Verurteilung als „Rechtsabweichler“ während einer Kampagne von 1957 dorthin deportiert.

Um der Zensur zu entgehen, ist in den 1980er-Jahren in China das Genre der dokumentarischen Literatur außerhalb der staatlich institutionalisierten Geschichtswissenschaft entstanden, das den Anspruch hat, historische Umstände zu dokumentieren und der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Yang Xianhui als ein bekannter Vertreter dieses Genres gibt in dem vorliegenden Buch einen Einblick in das chinesische Umerziehungslager Jiabiangou der 1950er-Jahre und rückt die sich dort ereignete Hungerkatastrophe erstmalig ins Licht der Öffentlichkeit. Der selbst aus Gansu stammende, heute in Tianjin lebende Schriftsteller hat dazu mehr als einhundert Interviews mit Inhaftierten geführt und als „Erzählberichte“ (S. 4) veröffentlicht. Seine Berichte wurden teilweise ins Englische übersetzt und sind die Vorlage für den jüngst beim 67. Venediger Filmfestival präsentierten Film „The Ditch/Le Fossé“ des Regisseurs Wang Bing.1

Yang Xianhuis Texte sind keine Interviewtranskripte, vielmehr bereitet er das Material zu Kurzgeschichten auf. In drei der insgesamt sieben Berichte werden über ein Vorwort oder Texteinschübe auch die heutigen Umstände des Interviewenden und die Interviewsituation erkennbar, wobei deutlich wird, dass nicht nur Selbstzeugnisse, sondern auch Erinnerungen von anderen Häftlingen verwendet werden.

Neben einem Vorwort des englischen Übersetzers, der Yang Xianhuis Werdegang und die innerchinesische politische Geschichtsverarbeitung dieser Katastrophe skizziert, wurden aus den 19 Erzählungen sieben für die deutsche Ausgabe ausgewählt, neu angeordnet und von Katrin Buchta in flüssig zu lesendes Deutsch übersetzt. Obwohl in den einzelnen Kapiteln unterschiedliche Personen vorgestellt werden, wird ein chronologischer Bogen gespannt, der die Zeit der Inhaftierung und Deportation im Jahr 1957, den Überlebenskampf gegen den Hunger, Organisation von Essbarem, den Fluchtversuch als einzig verbliebene Überlebensstrategie sowie der alltägliche Tod und Entlassung im Januar 1961 einschließt.

Andere Autoren dieses Genres wie Liao Yiwu 2 bleiben in der Volksrepublik China verboten. Die Erzählberichte von Yang Xianhui aber konnten seit dem Jahr 2000 in Zeitschriften und in Monographien verlegt werden. Es muss hervorgehoben werden, dass der Untertitel der deutschen Ausgabe hinzugefügt worden ist. In der chinesischen Ausgabe taucht der chinesische Begriff des Umerziehungslagers nicht auf, vielmehr wird das Lager im Text als Farm bezeichnet.

Bei der Lektüre werden Leerstellen sichtbar: Erstens sind die interne Organisationsform des Umerziehungslagers und ihre Wächter nicht Gegenstand. Die Verwaltung wird als weit weg geschildert: Die Verwaltungsbaracken eines Lagers befinden sich fast einen Kilometer entfernt (S. 192). Bei Vorgesetzten ist nicht klar, ob diese Wachpersonal oder Häftlinge sind. Das Lager erscheint wenig abgeschottet und abgeriegelt. Insassen können Briefkontakt und regelmäßigen Besuch von ihren Angehörigen haben (S. 185). Nicht die Überwindung der Sperranlagen, sondern die Durchquerung der Wüste ist die (physische) Herausforderung. Wenn in diesen Berichten die Lagerordnung und -sicherung weitgehend ausgeblendet wird, treten damit auch Maßnahmen der Lagerverwaltung und des Staates in den Hintergrund. Nicht die Absperrungen und die Wärter, sondern die lebensfeindliche Umgebung der Halbwüste und die Wölfe, deren Fell durch den Verzehr der Leichen immer glänzender wird, sind bedrohlich. Während beispielsweise bei Liao Yiwu Falun-Gong-Anhänger oder Opfer des Aufstandes vom 4. Juni 1989 über die Institutionen der staatlichen Repression und ihre Methoden sprechen, der Umgang mit der staatlichen Obrigkeit und ihren Vollzugsorganen, prägen bei Yang Xianhui zwischenmenschliche Extremerfahrungen die Geschichten: Solidarität unter den Häftlingen bei der Nahrungssuche oder Diebstahl (S. 82) stehen einem „Menschen fressen Menschen. Sind das überhaupt noch Menschen?“ (S. 182) entgegen. Der Aufenthalt gerät so zu einer existentialistischen Extremerfahrung.

Die zweite Leerstelle ist die Frage der Schuld für die Katastrophe. Lokale Kader, die versucht haben, das Hungern zu beenden, werden durchaus mit vollem Namen genannt (S. 235), andere jedoch, die den Höchststand der Toten klein redeten (S. 76), bleiben namenlos. Selbst der volle Namen des Direktors des Lagers wird nie genannt (S. 181). Das Versagen bleibt meist namenlos und ist auf lokaler Ebene angesiedelt. Fehlentscheidungen bei der Anpflanzung (S. 73) oder die Ignoranz für das meist nächtliche Sterben der Ausgehungerten („Der Schlaf war schuld“, S. 245) werden lokalen, aber ungenannten Funktionsträgern zugeschrieben. Während andere Lager keine Häftlinge mehr in die Hungerzone deportieren, hält allein Jiabiangou an der personellen Unterstützung für das neue Bewässerungsprojekt in der Wüste fest (S. 231).

Es ist eine Arbeitsgruppe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, die diese linksgerichtete Politik der Provinzregierung von Gansu schließlich stoppt (S. 181) – eine Hoffnung, die auch unter den Häftlingen immer gehegt wurde (S. 181). Hier wird ein Narrativ sichtbar, wonach eine mangelhafte lokale Politikumsetzung durch die Macht und Einsicht der zentralstaatlichen Ebene korrigiert werden kann. So fehlt denn auch der Hinweis, wer denn auf höherer Ebene beispielsweise die tägliche Getreideration von einem auf ein halbes Pfund reduziert hat (S. 61). Ebenso wird verschwiegen, dass die Politik des ‚Großen Sprungs nach vorn‘ sowie die Internierung von Rechtsabweichlern in Umerziehungslagern auf zentraler Ebene beschlossen wurden.

Im Gegensatz zu Liao Yiwu kann Yang Xianhui über Ereignisse schreiben, die schon Anfang der 1960er-Jahre von der Partei revidiert wurden. Die verbliebenen Leerstellen zeigen jedoch nicht nur, wie Yang Xianhui geschickt noch politisch Brisantes ungesagt lässt. Yang Xianhuis Texte sind weniger systemkritisch als im Westen vermutet. Das Lager Jiabiangou war vor allem für Intellektuelle und Parteifunktionäre gedacht (S. 85), die mit der Abstemplung als Rechtsabweichler von den Machtzentren entfernt worden waren. Die Überlebenden der damals als Rechtsabweichler Diffamierten haben wieder ihren Platz als Funktionsträger in der Gesellschaft gefunden oder sind für Aufsätze vom Justizministerium prämiert worden (S. 212). Trotz dieser Erlebnisse, die viele andere mit dem Tod bezahlen mussten, artikulieren sie auch keinerlei Groll oder Entfremdung vom Kommunismus. Die in Yang Xianhuis Buch dokumentierten Fälle stehen somit für eine bedingungslose Unterordnung und ein grenzenloses Vertrauen in die Partei, deren Urteil man sich fügte. Man war bereit, selbst in einer solchen Extremsituation standhaft zu bleiben und alles zu ertragen 3, wie der folgende, für mich zentrale Textausschnitt zeigt:

„Wir dachten, eines Tages würde die Partei merken, daß wir zu Unrecht als Rechtsabweichler verurteilt worden waren. Sie würde sicher die Entscheidung korrigieren und uns rehabilitieren. Außerdem hielten wir die Erziehung durch Arbeit für eine Probe, auf die uns die Partei zur Überprüfung unserer Loyalität gestellt hatte. Wenn wir wegliefen, dann würden wir sie betrügen. Das wäre dann ein Verrat an der gesamten Revolution. Einmal gefehlt, tausendmal bereut – davor hatten wir Angst. Deshalb flohen nur wenige.“ (S. 175)

Dieses Buch ist ein erschütterndes Zeugnis einer politischen Katastrophe, aber auch von dem Umgang mit Strafe im maoistischen China. Anmerkungen hierzu sowie mehr Hintergrundinformation hätten das Verständnis erleichtert.

Anmerkungen:
1 Arte: 7.9.2010: „The Ditch“ (Le fossé) von Wang Bing <http://www.arte.tv/de/3410894.html> (08.11.2010).
2 Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten, Frankfurt am Main 2009.
3 Siehe auch die Ausführung zu Ba Jin, einem bekannten Schriftsteller, und seine Unterordnung während der Kulturrevolution in Ban Wang, The Cultural Revolution. A terrible beauty is born, in: Ban Wang, The sublime figure of history. Aesthetics and politics in twentieth-century China. Stanford 1999, S. 194–228, hier S. 223/224.

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