F.-R. Hausmann: Die Geisteswissenschaften im "Dritten Reich"

Cover
Titel
Die Geisteswissenschaften im "Dritten Reich".


Autor(en)
Hausmann, Frank-Rutger
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
982 S.
Preis
€ 198,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulf Morgenstern, Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh

„Freiburger Einmannbetrieb legt Synthese zu Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus vor“. So oder ähnlich müsste die prägnante Überschrift einer Besprechung der jüngsten Monographie Frank-Rutger Hausmanns in den Printmedien lauten. Denn der emeritierte Romanist, ohne den die Fachgeschichte der Philologien und ihrer Nachbardisziplinen nicht mehr zu denken ist 1, legt auf nahezu 1.000 Seiten einen 1,356 Kilo schweren Backstein in die Bücherregale, der als Kompendium seine Einzeluntersuchungen der letzten Jahre zusammenfasst. Der Begriff „Kompendium“ greift dabei noch zu kurz, denn Hausmann bindet seine bisherigen Arbeiten nicht nur verknappt zusammen, sondern er kondensiert für die einzelnen Disziplinen die wichtigsten Ergebnisse der fachgeschichtlichen Forschung. Jede einzelne Fachwissenschaft wird mit ihren wichtigsten Vertretern, herausragenden Werken und programmatischen Anbiederungen an die vermuteten NS-Leitlinien vorgestellt.

Damit der Blick des Lesers nicht unentwegt zwischen den Befunden der Hausmannschen Wissenschaftsprosa im Obertext und den Belegen und Zitaten in den Fußnoten oszillieren muss, hat der Autor breiten Raum für den Abdruck von Quellenpassagen gelassen – der Umfang des Bandes ergibt sich vor allem aus diesem dramaturgisch-didaktischen Grund. Gerade in diesem zur Sperrigkeit des Bandes beitragenden Stilmittel liegt auch ein wesentliches Erfolgsgeheimnis: Jede einzelne Disziplin kommt auf diese Weise selbst zu Wort und vermittelt nicht nur durch das Zitieren knapper Halbsätze und besonders pointierter Phrasen, sondern durch ganze Passagen einen Leseeindruck vom Ton der Zeit. Dass dabei oft ein beklemmender Eindruck entsteht, liegt weniger an Hausmanns Auswahl der Quellen als an dem verquast-irrwitzigen Duktus der meisten der zwischen 1933 und 1945 verfassten Texte in den Geisteswissenschaften an den Universitäten des Dritten Reiches. Hausmann hält seine Auswahl aus nahezu 50 Fächern für ausgewogen, und tatsächlich entsteht nicht der Eindruck einer einseitigen Auswahl der dramatis personae, denn auch die wenige vorhandene ideologische Devianz sich dem Zeitgeist verweigernder deutscher Professoren wird behandelt.

Ein wichtiges Argumentationsmoment bildet Hausmanns wiederkehrender Rekurs auf die Bedeutung von Gruppenforschungen bzw. das Antragswesen für solche Forschungsverbünde bei nur sechs Friedensjahren und dem dann folgenden Ausnahmezustand im „totalen“ Krieg. Der Autor rückt hier das Bild vom geisteswissenschaftlichen Einzelforscher zurecht und zeigt, wie sehr der formell gleichgeschaltete Wissenschaftsbetrieb inhaltlich mit Gemeinschaftforschungen ausgestaltet werden sollte. Gerade das hierzu ausgiebig zitierte programmatische Schrifttum umtriebiger Organisatoren verdeutlicht, was der Welt durch den kriegsbedingten Niedergang der geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft erspart geblieben ist. Hausmanns Auswahl verdeutlicht, in welchem Maße die weder vor noch nach 1933 vorhandene nationalsozialistische Wissenschaftsideologie auf dem Weg über programmatische Erklärungen verhandelt wurde, ohne freilich je zu einem ansatzweise geschlossenen Denkgebäude aufgebaut zu werden – Aufstieg und Fall des „Historikers“ Walter Frank und seines „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland“ sind ein beredtes Beispiel für die Unberechenbarkeit des Systems selbst für seine kaltblütigsten Protagonisten.

Überzeugend arbeitet Hausmann an verschiedenen Stellen heraus, unter welchen Druck NS-ferne Wissenschaftler gerieten angesichts der Vielzahl von Tagungen, Erklärungen, Unterschriftensammlungen, Arbeitsgruppen und sonstigen programmatischen Sammlungsaktionen, bei denen sich nur die Arriviertesten Zurückhaltung leisten konnten, ohne ein dauerhaftes Abseitsstehen im Fach zu riskieren. Zu beachten ist, dass selbst glühenden Nationalsozialisten der erfolgreiche Weg durch den Dschungel an ständig neugegründeten Reichsinstituten, Kontrollkammern, Fachverbänden und sonstigen Lenkungsgremien nicht leicht fiel, der bekanntlich das polykratische Herrschaftsgefüge von Partei und zunehmend auch Staat – und damit auch Universität und Wissenschaft – kennzeichnete. Man muss Hausmanns Überzeugung von der Wirkmächtigkeit von fachspezifischen Gruppenidentitäten nicht in vollem Umfang teilen, um seinen Schluss nachzuvollziehen, dass die durch die politisch kontrollierten Berufungen zahlenmäßig immer kleiner werdende Gruppe der (graduell unterschiedlichen) nicht-nationalsozialistischen Geisteswissenschaftler sich nach wie vor als Zugehörige ihrer jeweiligen Zunft fühlte und die Zusammenarbeit mit den zunehmend weltanschaulich-politisch argumentierenden Kollegen auch aus diesem Grund fortsetzte.

Diese auf fast 100 Seiten ausgerollte einleitende Darstellung des Wissenschafts- und Hochschulsystems hat schon monographischen Charakter, den enzyklopädischen Hauptteil des Buches bildet aber erst das zweite Kapitel über „Die Geisteswissenschaften in der nationalsozialistischen Universität“. Ausgehend von „Philosophie und Weltanschauung“ (darin auch Rechtsphilosophie und Theologie) arbeitet sich Hausmann Schritt für Schritt durch das bewusst weit gespannte Panorama der Geisteswissenschaften. Unter „Wissenschaften vom Menschen“ behandelt Hausmann zunächst die erwartbaren Fächer Soziologie, Psychologie, Erziehungs- sowie Sportwissenschaften, um dann einen zeitgenössisch neuen Fächerkanon unter die Lupe zu nehmen, den er „Einzelne Menschengruppen“ überschreibt. Neben die altehrwürdige Völkerkunde und die aus dem völkisch bereits aufgeladenen Autarkiedenken der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts stammenden interdisziplinären Schlagwörter „Bauerntumsforschung“ und „Agrarpolitik“ treten hier mit den akademisch salonfähig gewordenen NS-Kerndisziplinen „Rassenkunde, Rassenwissenschaft“ und „Judenkunde, Judenwissenschaft“ gewissermaßen die „Wissenschaften vom Untermenschen“ [sic! U.M.]. Knapp, wenn auch im Ergebnis nicht weniger ernüchternd fallen die Ausführungen zu „Kunst und Musik“ aus, bevor mit „Historische Wissenschaften“ ein Großkapitel folgt. Da der Nationalsozialismus immer wieder in die ideologische Trickkiste historischer Versatzstücke griff, nimmt es nicht wunder, dass von der Ur- und Vorgeschichte bis zu dem, was in der Beschäftigung mit dem überwundenen Nationalsozialismus bald „Zeitgeschichte“ hieß, Vertreter jeder historischen Epoche versuchten, sich einen vorteilhaften Platz im System zu erschreiben.

Auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes bewegt sich Hausmann auch im anschließenden Teil „Sprach- und Literaturwissenschaft“, seinem eigentlichen Spezialgebiet. Der nationalsozialistischen Ordnungslogik der Geisteswissenschaften folgend, finden sich die Altphilologien hier nicht, sie gehörten in der sich als nach-positivistisch und nichtphilologisch verstehenden Zeit des Dritten Reichs in den Bereich der Altertumswissenschaften. Dafür begegnen dem Leser unter der Überschrift „Grundlagen“ unerwartete Halbwissenschaften wie die Runenkunde oder das ideologisch überfrachtete und aufgeblasene Feld der Keltologie. Wer bei den Germanisten den politischen Anschluss suchte, war in der „Nordgermanischen Philologie“ oder der zur „Deutschen Volkskunde“ oder Volksforschung“ mutierenden Volkskunde besonders passend.

Hervorhebenswert ist das profunde Eingehen Hausmanns auf neue Fächer, die nicht nur durch ihre politische Passfähigkeit reüssierten, sondern, wie der Autor abgewogen darstellt, Wurzeln bereits in der „Systemzeit“ hatten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die unter der Überschrift „Medienwissenschaften“ versammelten Disziplinen, obwohl ihre Zuordnung zu den Sprach- und Literaturwissenschaften nicht zwingend erscheint. Bereits unter den „Historischen Wissenschaften“ sind die Wehr- und Kriegswissenschaften sowie die Auslands-, Politik- und Völkerrechtswissenschaften abgehandelt worden.

Ähnlich unübersichtlich gestaltet sich aus vor- und nach-nationalsozialistischer Sicht das Spektrum aller sich hinter dem Schlagwort „Der menschliche Lebensraum“ verbergenden „Wissenschaften“. Wie bei den zuvor genannten Gebieten waren die hier versammelten Disziplinen teils echte Wissenschaften (Geographie, Byzantinistik, Japanologie usw.), teils reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für unterbeschäftigte, geistig uniformierte Wissenschaftler, deren utilitaristischer Grundcharakter für die Expansionspolitik des Dritten Reiches so wichtig war, dass zwischen universitärer Lehre und Forschung sowie staatlicher und militärischer Eroberungsplanung keine erkennbaren Grenzen mehr bestanden (Raumforschung, Planungswissenschaft, Geopolitik, Ostforschung, Bolschewismusforschung usw.). Wer hier einen besonders hohen Verstrickungsgrad von Wissenschaftlern in die Verbrechen während des Krieges vermutet, liegt richtig, wird aber an zahlreichen anderen Stellen des Buches auch über die Verwicklungen anderer, nur scheinbar „harmloserer“ Geisteswissenschaftler informiert.

Mit dem letzten Teil „Staat, Recht, Wirtschaft“ ist Hausmann thematisch dort angelangt, wo er in den 1960er-Jahren als Student angefangen hatte, als er, zunächst als Jurastudent in Göttingen, mit Ernst Rudolf Huber, Ernst Gamillscheg oder Franz Wieacker auf noch lehrende Angehörige der Professorenschaft des Dritten Reiches traf. Auch die Zurechnung der seinerzeit noch nicht lange aus der Nationalökonomie hervorgegangenen Fächer Volks- und Betriebswirtschaftslehre ist ein Gewinn, denn ihre zeitgenössische Sprache als auch die behandelten Themen waren viel stärker geisteswissenschaftlich ausgerichtet als das die heutigen Wirtschaftswissenschaftler glauben machen.

Etwas altväterlich müsste ein solches Buch „Vademecum“ heißen, aus der englischen Wissenschaftsterminologie hieße die passende Entlehnung „Companion“. Tatsächlich ist es im besten Sinne des Wortes ein Lesebuch, das die an einer Fachdisziplin Interessierten mit den wichtigsten Namen vertraut macht und über den umfangreichen Anmerkungsapparat auf eine wissenschaftsgeschichtliche Reise durch die relevanten Quellen und die in den letzten zwanzig Jahren angewachsenen Berge der fachgeschichtlichen Literatur vorbereitet. Es ist wohl nicht vermessen zu prophezeien, dass Hausmanns dickleibiger Band in den deutschen Universitätsbibliotheken das werden wird, was Helmut Heibers Bände lange Zeit waren: Das maßgebliche Referenzwerk für die Geschichte der universitären Geisteswissenschaften.2 Man muss aber auch kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass durch den leider viel zu hohen Verkaufspreis der Erfolg im sonstigen Verkauf hinter dem zurückbleiben wird, was das äußerst verdienstvolle Werk eigentlich verdient hätte.

Anmerkungen:
1 Vgl. in Auswahl Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg: Die „Aktion Ritterbusch“ 1940-1945, Dresden 1998; Ders., „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“: Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2000; Ders. (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002; Ders., Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2003; Ders., Hans Bender (1907-1991) und das „Institut für Psychologie und Klinische Psychologie“ an der Reichsuniversität Straßburg 1941-1944, Würzburg 2006; Eckhard Wirbelauer / Frank-Rutger Hausmann / Sylvia Paletschek / Dieter Speck, Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920-1960: Mitglieder, Strukturen, Vernetzungen, Freiburg im Breisgau 2006; Ders., Ernst-Wilhelm Bohle: Gauleiter im Dienst von Partei und Staat, Berlin 2009; Ders., Das Fach Mittellateinische Philologie an deutschen Universitäten von 1930 bis 1950, Stuttgart 2010.
2 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich: Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991; Ders., Universität unterm Hakenkreuz. Teil 2: Die Kapitulation der hohen Schulen: das Jahr 1933 und seine Themen. 2 Bde. München 1992/1994.

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