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Titel
Sigmund Neumann. Demokratielehrer im Zeitalter des internationalen Bürgerkriegs


Autor(en)
Kunze, Michael
Reihe
Biographische Studien zum 20. Jahrhundert 4
Erschienen
Berlin 2015: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Im Unterschied zu seinem Namensvetter Franz Neumann, zu Richard Löwenthal oder Ossip Flechtheim wird Sigmund Neumann (1904–1962) nur selten genannt, wenn es um die Begründung der Politikwissenschaft im westlichen Nachkriegsdeutschland geht. Anders als der sehr konservative Kreis um Arnold Bergstraesser in Freiburg bezogen diese Gelehrten keine elitären Positionen, sondern sahen die politische Partizipation der Öffentlichkeit als unerlässliche Voraussetzung demokratischer Willensbildung. Damit standen sie in der Tradition sozialdemokratischer und linkssozialistischer Arbeiterbildung in der Weimarer Republik. Obgleich Sigmund Neumann nie der SPD angehörte, sind seine frühen Arbeiten über „Die Stufen des preußischen Konservatismus“ (1930) und „Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege“ (1932) von der Sorge um die Bewahrung der Weimarer Republik getragen; einer Sorge, die auch die SPD dieser Zeit umtrieb.

Neumann wurde noch vor der Zerstörung der ersten deutschen Republik auf eine Professur an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin berufen. Diese verlor er nach der Errichtung des Hitler-Regimes. Zudem galt der aus einer assimilierten jüdischen Familie in Leipzig stammende Neumann nun als „rassisch minderwertig“ – für ihn und seine Frau war dies Grund genug, Deutschland sofort zu verlassen. Über England gelangte er 1934 in die USA und konnte zunächst durch Lehraufträge, ab 1944 als Professor für Politische Wissenschaft an der Wesleyan University in Middletown (Connecticut) seine Arbeit fortsetzen. Wie andere Exilanten arbeitete er für das Office of Strategic Services (OSS).

Neumann wurde einer Fachöffentlichkeit durch sein 1942 publiziertes Hauptwerk „Permanent Revolution“ sowie den 1946 erschienenen Nachfolgeband „The Future in Perspective“ bekannt.1 Danach verminderte sich sein Publikationsausstoß deutlich, wofür sein sich drastisch verschlechternder Gesundheitszustand die Ursache war. Im Alter von nur 58 Jahren starb Neumann 1962 in Middletown. Die erst 2013 auf Initiative Gerhard Besiers erfolgte Übersetzung seines Hauptwerkes2 sowie die hier vorliegende Biografie von Michael Kunze, eines Schülers des Ideenhistorikers Alfons Söllner, tragen hoffentlich zu einer intensiveren Rezeption Neumanns bei, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Das vorliegende Buch beruht auf einer an der Technischen Universität Chemnitz 2014 verteidigten Dissertation, vermeidet aber zwei Hauptsünden mancher Doktorarbeiten: Sie ist nämlich angenehm knapp gehalten und so flüssig geschrieben, dass Ermüdung beim Lesen nicht aufkommt. Die Studie konzentriert sich auf Neumanns intellektuelle Biografie, seine Schriften und deren Rezeption sowie seine Vorstellungen über die Aufgaben Politischer Wissenschaft. Gern hätte man mehr über seine privaten Lebensumstände erfahren, ob Neumann sich nach dem frühen Tod seiner Frau partnerschaftlich erneut band, wie seine Tochter heranwuchs oder wie sich das Verhältnis zu seinen Fakultätskollegen und -kolleginnen an der Wesleyan University gestaltete. Doch kann an Fakten nur berichtet werden, was im Nachlass vorliegt. Dieser ist heute im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main deponiert. Zudem stützt sich Michael Kunze auf Neumanns Leipziger Promotionsakten, auf Dokumente seiner Gastprofessuren sowie auf schriftliche und mündliche Mitteilungen von Zeitzeugen, darunter Karl Dietrich Bracher und Helga Grebing.

Sehr anregend sind die Passagen zu Neumanns intellektueller Prägung als Student in Heidelberg und Leipzig zu lesen: Neben Alfred Weber, in dem Neumann nicht nur den fachlichen, sondern auch den politischen Erzieher sah, wurde Hans Freyer als Person zum Bezugspunkt. Der sehr weit rechts stehende Soziologe war studentischer Kritik gegenüber stets aufgeschlossen (was auch Walter Markov und Arkadij Gurland bezeugten). Der Hochschullehrer Neumann sollte sich später Freyers Abneigung gegenüber Hierarchien zu Eigen machen.

Kunze arbeitet drei Gebiete heraus, in denen Neumann die Forschung und die damit stets verbundene politische Bildungsarbeit vorantrieb. Zum ersten ist dies die Parteienforschung der Weimarer Republik. In seinen frühen Büchern entwarf Neumann eine Typologie politischer Parteien. Schon in seiner Dissertation hatte Neumann ein differenziertes Bild des preußischen Konservatismus im 19. Jahrhundert entworfen. Er beschrieb diesen nicht nur als rückwärtsgewandt, sondern analysierte auch sein Reformpotenzial, ohne das Bismarck nur als Einzelkämpfer verstehbar sei, was der historischen Realität nicht gerecht werde. Dennoch zeigte Neumann die Grenzen konservativen politischen Handelns auf, als er nachwies, dass der politische Konservatismus in Deutschland, ungleich seinem englischen Gegenstück, es nur bis zur Bildung politischer Honoratiorenparteien gebracht habe. Darin habe (Ausnahme: der linke Flügel) auch die Schwäche des deutschen Liberalismus bestanden. Nur in der SPD und mit Einschränkungen der Zentrumspartei sah Neumann moderne Volksparteien, wie sie für eine parlamentarische Demokratie nötig seien. Die Nationalsozialisten und – in gänzlich anderer Weise – die KPD seien Parteien mit einem Totalanspruch gegenüber der Gesellschaft, die sie nach ihrem jeweiligen Bilde formen wollten, was aber nur unter Ausschaltung des demokratischen Willensbildungsprozesses denkbar sei. Dem standen seiner Meinung nach der nationalrevolutionäre Flügel in der NSDAP und die der politischen Mitwirkung bereits beraubten oppositionellen Kommunisten entgegen.

Zum zweiten wurde Neumann zu einem wichtigen Vertreter der modernen Totalitarismus-Forschung. Wie problematisch der Terminus als analytische Kategorie ist, zeigt auch Kunzes Buch, obgleich sein Verfasser (nicht ganz ohne Vorbehalte) diesen Zentralbegriff Neumanns übernimmt. Es war Neumann bewusst, dass ein Totalitarismus-Paradigma die komplexe Wirklichkeit der Regime Mussolinis, Hitlers oder Stalins nicht umfassend erklären kann. Deshalb suchte er die hinter der jeweiligen Führergestalt um Einfluss ringenden Interessengruppen in den Blick zu bekommen. Dies gelang Neumann beim vergleichenden Blick auf Deutschland und die Sowjetunion nur teilweise. Zum einen verfügte er nicht über genügende Russischkenntnisse, zum anderen war das verfügbare Quellenmaterial aus der Sowjetunion so dünn gesät, dass Ossip Flechtheim, der Russisch fließend beherrschte, vom Versuch einer Vergleichsstudie Abstand nahm. Neumann hingegen ging es, worauf Kunze auch hinweist, weniger um eine analytische Durchdringung der Problematik, sondern um die Darstellung moderner Diktaturen im politischen Kräftefeld ihrer Zeit. Nimmt man dies zum Maßstab, ist „Permanent Revolution“ noch immer eine anregende Quelle zeitgenössischen politischen Denkens.

Kunzes Urteil, wonach Neumann „Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus als erster in vergleichender Perspektive untersucht“ habe (S. 257) kann zugestimmt werden. Jedoch ist er an Publikationen russischer Exilanten zu messen, die gleichzeitig oder vor ihm auf strukturelle Ähnlichkeiten wie grundlegende Unterschiede in den Regimes Hitlers und Stalins verwiesen.3 Den Gründen für die mangelnde Rezeption russischer Exilanten durch ihre deutschen Schicksalsgenossen in den USA muss die Forschung stärker nachgehen. Übrigens erschien eine vergleichende Studie zur KPDSU(B) und zur NSDAP, die diesen Namen verdient, erst 1974.4

Zum dritten würdigt Kunze Neumann als einen Wegbereiter der Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik und Westberlin. 1949 war Neumann als Direktor der wieder gegründeten Berliner Hochschule für Politik im Gespräch. Anders als Kunze schreibt, übernahm jedoch Arkadij Gurland niemals deren Direktorat, sondern war bis 1954 als Abteilungsleiter unter der Leitung von Otto Heinrich von der Gablentz tätig. 1956 war Neumann für eine Professur an der Universität München vorgesehen, die Berufung hat der bayerische Kultusminister Theodor Maunz jedoch gegen den Willen der Fakultät verhindert. Hier wäre ein Hinweis auf Maunz’ unter Pseudonym tätige, umfangreiche Publikationsarbeit für die neonazistische Presse noch bis 1993 vonnöten gewesen.5 Maunz hatte somit Gründe, die Berufung eines ausgewiesenen Antifaschisten nach Bayern zu verhindern. Als Gastprofessor an mehreren Universitäten konnte Neumann aber auf eine Vielzahl deutscher Studenten wirken.

In seinen Schlussbemerkungen unterstreicht Kunze mit vollem Recht Neumanns Bedeutung für die politische Bildung in Deutschland, einem Land, „das im Reigen der Demokratien mittlerweile fest verankert“ sei (S. 261). Leider sind inzwischen, dies gilt gerade für Sachsen, dem Geburtsland Neumanns wie Kunzes, ernste Zweifel angebracht. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wie der Gegenwart zeigen, welch großes rechtsradikales Potenzial in Deutschland bereits wieder besteht, zu dem nun eine Bedrohung der Gesellschaft durch islamistische Extremisten hinzugetreten ist. Neumanns Forderung, die Politikwissenschaft müsse vor allem als Demokratiewissenschaft wirken, ist auch deshalb noch immer neu einzulösen.

Anmerkungen:
1 Sigmund Neumann, Permanent Revolution. A Total State at War, New York/London 1942; Ders., Future in Perspective, New York 1946.
2 Gerhard Besier / Ronald Lambrecht (Hrsg.), Permanente Revolution. Totalitarismus im Zeitalter des internationalen Bürgerkriegs, Berlin u.a. 2013.
3 Dies betrifft vor allem die bei Kunze nicht erwähnten Arbeiten von Michael Florinsky und Serge Chakotin. Vgl. Michael T. Florinsky, World Revolution and the U.S.S.R., New York 1933; Serge Chakotin, The Rape of the Masses. The Psychology of Totalitarian Political Propaganda, New York 1940. Ebenso wichtig sind die meist nur in Russisch vorliegenden Analysen etwa von Fjodor Dan, Rafail Abramovich oder dem oft vergessenen Boris Sapir, die vor allem im New Yorker „Socialističeskij Vestnik“, aber auch in Publikationen der amerikanischen Sozialdemokratie erschienen.
4 Aryeh Unger, The Totalitarian Party. Party and People in Nazi Germany and Soviet Russia, London 1974.
5 Vgl. dazu Hans-Herbert von Arnim, Die Deutschlandakte: Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun, München 2009, S. 235f. Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift: „Staatsrechtslehre: Nicht ohne faschistische U-Boote“ (S. 234).

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