Populärkultur in transnationaler Perspektive

Hüser, Dietmar (Hrsg.): Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre. Bielefeld 2017 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-3133-3 356 S. € 34,99

: Populärkultur und deutsch-französische Mittler / Culture de masse et médiateurs franco-allemands. Akteure, Medien, Ausdrucksformen / Acteurs, médias, articulations. Bielefeld 2015 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-3082-4 345 S. € 33,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Requate, Universität Kassel

Dietmar Hüser gehört ohne Zweifel zu den Historikern, die sich nicht nur inhaltlich am besten mit dem Thema Populärkultur auskennen, sondern sich auch methodisch besonders intensiv mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie das Thema historisch noch produktiver gemacht werden kann. Zu Recht betont Hüser, dass das Erkenntnispotenzial der Auseinandersetzung mit der Populärkultur immer noch unterschätzt wird, auch wenn das Thema in der Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit stärker Beachtung findet. Er unterstreicht dabei insbesondere die Bedeutung der transnationalen Perspektive, die konsequenterweise in zwei von ihm herausgegebenen bzw. mitherausgegebenen Bänden zum Thema Populärkultur eine zentrale Rolle spielt. So ist der Ausgangspunkt der beiden Bände auch ein ähnlicher: Populärkultur wird als Begleiterscheinung der modernen Industriegesellschaft verstanden, die sich im 19. Jahrhundert immer stärker durchzusetzen begann und sich nach 1945, und hier ganz besonders in den 1960er-Jahren, quantitativ und qualitativ enorm ausgeweitet hat. Seitdem ist sie für die Lebenswelt vieler Menschen von zentraler Bedeutung. Dabei wird Populärkultur nicht als ein festes Ensemble mit festgelegten Merkmalen angesehen, sondern als Phänomen, das ständig in Veränderung begriffen ist und sich permanent neu erfindet. Für den Umgang mit populärkulturellen Aspekten ist dabei für Hüser und die weiteren Autor/innen der Sammelbände wichtig, dass sie nicht im Sinne eines wie auch immer gearteten „Sender-Empfänger-Modells“ untersucht werden, sondern als ein Phänomen, dessen Bedeutung erst über Rezeptions- und Aneignungsweisen wirklich erfasst werden kann. Die Verbreitung und die Aneignung über nationale Grenzen hinweg ist dabei ein zentrales Merkmal der Populärkultur insgesamt, und das Changieren zwischen dem Blick auf transnational übergreifende Prozesse einerseits und nationale Besonderheiten anderseits gehört zu den besonderen Herausforderungen der Beschäftigung mit diesem Thema.

Jenseits dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten setzen die beiden hier zu besprechenden Bände allerdings sehr unterschiedliche Schwerpunkte. Der bereits 2015 erschienene und gemeinsam von Ulrich Pfeil und Dietmar Hüser herausgegebene Band nimmt eine dezidiert deutsch-französische Perspektive ein und fragt nach der Bedeutung der Populärkultur als „Mittler“ zwischen den beiden Ländern. Damit erweitern die beiden Herausgeber den traditionellen Begriff des „Mittlers“, der auf einzelne Personen, zumeist der Hochkultur angehörend, ausgerichtet war. Zudem habe dieser – so die Tendenz der Forschung lange Zeit – vor allem die „Verständigung“ zwischen beiden Ländern befördert. Zwar hat die Forschung, wie Pfeil und Hüser unterstreichen, inzwischen auch jene „Mittler“ mit berücksichtigt, deren Wirken mindestens ambivalent war, doch geht es den Herausgebern hier um mehr: Sie nehmen vor allem die „nicht-intentionalen Mittler“ in den Blick, die sich – wie viele Künstler und andere Kulturschaffende – gar nicht als Mittler verstanden, gleichwohl aber „einen substanziellen Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung und zu den bilateralen Kulturbeziehungen geleistet haben“ (S. 40). Als etwa Edith Piaf nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wiederholt in der französischen Besatzungszone auftrat, ging es ihr gewiss nicht vorrangig um deutsch-französische Freundschaft, sondern um die Erweiterung ihres Publikums. Wie Andreas Linsemann zeigt, wurde sie allerdings sehr wohl von der französischen Besatzungsmacht als Mittel der Reeducation „eingesetzt“, um den Deutschen beizubringen, dass sie kein Monopol auf die Musik besaßen. Auch wenn die Besatzungsbehörden dann nach einiger Zeit glaubten, sie sei nicht „prestigeträchtig“ genug, um die Deutschen mit der französischen Kultur vertraut zu machen und sie folglich nicht mehr auftreten ließen, trug die Ikone des französischen Chansons dennoch unzweifelhaft dazu bei, das Frankreichbild der Deutschen nachhaltig zu ändern.

Auch Corinne Defrance widmet sich der Bedeutung des Chansons und zeigt am Beispiel der Sängerin Barbara, in welchem Maße nicht nur die Musik selbst, sondern der Kontakt der Sängerin mit dem jungen deutschen Publikum ihre Vorbehalte gegenüber Deutschland langsam schwinden ließ. Ihr Lied „Göttingen“, später als „Hymne der deutsch-französischen und europäischen Versöhnung“ (S. 101) gefeiert, entstand so aus einem eigenen Prozess der Annäherung heraus. Louis de Funès hingegen war gewiss weit entfernt davon, sich selbst in irgendeiner Weise als deutsch-französischer Mittler zu sehen. Doch genauso wie die eben auch in Deutschland berühmt gewordenen Karikaturen von Plantu oder Comic-Zeichnungen von Claire Bretécher sowie verschiedene Formate im Fernsehen und im Radio, steuerten sie unterschiedliche Facetten eines Frankreichbildes bei, das – intentional oder nicht – manche Stereotypen aufbrach, aber gewiss auch neue schuf. Die Beiträge des Bandes zeigen in jedem Fall sehr deutlich, dass der Bereich der Populärkultur eine Fundgrube für die Frage der wechselseitigen Wahrnehmungen und Verbindungen ist.

In dem von Dietmar Hüser allein herausgegebenen Band „Populärkultur transnational“ bilden dagegen Fragen der deutsch-französischen Wahrnehmungen und Kulturbeziehungen allenfalls einen Teilaspekt. Hier wird nun der Blick deutlich europäisch geweitet und der Fokus breit auf eine transnationale Geschichte der populärkulturellen Phänomene im Europa der langen 1960er-Jahre gerichtet. Hüser verortet das Erkenntnisinteresse in drei größeren Spannungsfeldern: Erstens, dem „Abgleich von Amerikanischem und Europäischem, von transatlantischen und innereuropäischen Transfers populärer Phänomene“ (S. 11). Das erscheint in jedem Fall sinnvoll und naheliegend. Die Verbreitung von populärkulturellen Phänomenen der Nachkriegszeit ist unweigerlich immer mit Bezügen zu den USA verbunden. Gleichzeitig, und dies zeigen viele Beispiele deutlich, bilden sich innerhalb Europas immer wieder eigendynamische Entwicklungen im Bereich der Populärkultur heraus. Auch wenn im Kontext der transnationalen Verbindungen „Amerikanisierung“ und „Europäisierung“ nicht immer trennscharf zu unterscheiden sind, bleiben die Begriffe als analytische Kategorien weiter hilfreich. Das zweite Feld, in das der Herausgeber die Forschungen einordnet, ist das „Verhältnis von Autorität und Toleranz in europäischen Gesellschaften der langen sechziger Jahre“ (S. 11), für das die Debatten um Entwicklung und die Veränderungen im Bereich der Populärkultur in den 1960er-Jahren eine wichtige Sonde bilden. Das dritte Spannungsfeld sieht Hüser schließlich im Verhältnis von Kultur und Politik; es zielt letztlich auf die Frage, in welchem Maße Veränderungen in populärkulturellen Ausdrucksformen auch Auswirkungen auf gesellschaftlich-politische Entwicklungen zeitigen.

Innerhalb des so abgesteckten Rahmens versammelt der Band zwölf Beiträge, die den Kategorien „Lesen“, „Hören“, „Sehen“, „Erleben“ und „Mitreden“ zugeordnet werden. Alle Beiträge sind durchgehend transnational ausgerichtet. Das Themenspektrum erstreckt sich von der Auseinandersetzung mit verschiedenen Printformaten – Comics und Schülerzeitungen – über transnationale Verbreitung bestimmter Arten von Rock- und Popmusik sowie cineastische Entwicklungen und Wahrnehmungen bis hin zu popkulturellen Praktiken im Bereich des Konsums, des Lebensstils und der Kleidung. Um nur einige Beispiele herauszugreifen: Hartmut Nonnenmacher zeigt, wie sich in Frankreich, Spanien und Argentinien ein eigenes Comic-Feld formierte, das zwar von den amerikanischen Superhelden-Comics profitierte, sich aber eigenständig mit transnationalen Bezügen entwickelte und dabei die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in sehr unterschiedlicher Weise aufgriff und widerspiegelte. Im Bereich der Musiktransfers befasst sich Egbert Klautke mit dem grundsätzlich bekannten Phänomen der „britischen Invasion“ des amerikanischen Marktes durch Pop- und Rockmusik und zeigt daran nachdrücklich, dass die Ausbreitung einer globalen Popkultur eben kein einseitiger „Amerikanisierungs-“, sondern immer ein Austauschprozess war. Dies wird auch am Beispiel des deutschen „Krautrocks“ deutlich, mit dem sich Alexander Simmeth befasst. Tatsächlich war der Krautrock in Großbritannien und den USA erstaunlich erfolgreich und wurde hier von Kritikern und Musikern zwar mit spezifischen Klischees verbunden, zugleich aber als willkommene, innovative Inspiration wahrgenommen.

Mit „medialer Repräsentation jugendlicher Konsumkultur in westdeutschen, britischen, und französischen Jugendzeitschriften“ befasst sich Aline Maldener in ihrem Beitrag. Sie zeigt zum einen, wie sich hier Medien- und Konsumkultur immer mehr vermischten, und zum anderen, wie sich die Formate ähnelten und Deutungsmuster herausbildeten, die zwar nationale Besonderheiten ebenso wie amerikanische Einflüsse aufwiesen, insgesamt eher aber als „westlich“ oder „westeuropäisch“ zu bezeichnen sind. Ähnliches ließe sich auch über die Kultur der sogenannten Halbstarken sagen, die sich in den westeuropäischen Ländern mit übergreifenden Gemeinsamkeiten und nationalen Spezifika herausbildete. In ihrem Beitrag zu dem Phänomen arbeitet Katharina Böhmer heraus, wie ähnlich die Reaktionen in der Schweiz, in Frankreich, in Großbritannien und in Westdeutschland auf die Jugendkultur der „Halbstarken“ ausfielen. Tatsächlich konzentriert sich Katharina Böhmer in ihrem Beitrag vor allem auf die Ähnlichkeiten. Inwieweit, wie Böhmer andeutet, die Reaktionen auf dieses Phänomen in ihren Unterschieden auch als Gradmesser für die gesellschaftliche Liberalisierung gedeutet werden können, wäre weiter zu prüfen.

Die beiden abschließenden Beiträge von Kaspar Maase und Dietmar Hüser nehmen noch einmal eine übergreifende Perspektive auf die Entwicklung der Populärkultur in Europa ein und befassen sich dabei beide mit ihrer politischen Dimension. Dabei konzentriert sich Maase vor allem auf die Bundesrepublik und unterstreicht den demokratisierenden Einfluss der insbesondere aus den USA nach Westdeutschland gelangten „Kulturimporte“ im Bereich der Musik, des Tanzes, des Kleidungsstils und diverser Verbindungen aus Konsum und Lebensstil. Hüser schließt mit seinem Beitrag daran an und argumentiert, ebenfalls mit Blick auf die Bundesrepublik, dass die Populärkultur auf verschiedenen Ebenen zu einer Politisierung geführt habe, die dann ein wichtiges Element für das westdeutsche „Demokratiewunder“ darstellte. In Bezug auf die Politisierung unterscheidet er heuristisch verschiedene Muster: die Fremdpolitisierung, die Selbstpolitisierung und die „Habitus-Politisierung“. Der transnationalen Zirkulation populärkultureller Phänomene für diese Muster der Politisierung misst er dabei hohe Bedeutung zu.

Insgesamt zeigt der Band in vielerlei Hinsicht das Potenzial, das eine Beschäftigung mit der Populärkultur birgt. Die transnationale Zirkulation der Phänomene wird an den Beispielen deutlich, und es zeigt sich vor allem, dass diese Transnationalität nicht in einer „Amerikanisierung“ aufging. Selbstverständlich spielten Einflüsse aus den USA eine wichtige Rolle – auch das bestätigt der Band – doch die Transferprozesse, sowohl innerhalb Europas als auch darüber hinaus, erweisen sich als wesentlich vielfältiger und komplexer. Der hier verfolgte Ansatz liefert somit eine Reihe von Anknüpfungs- und Erweiterungsmöglichkeiten für weitere Forschungen. Zwei solcher erweiterten Perspektiven seien hier kurz genannt. Zum einen erscheint die Populärkultur noch erstaunlich männlich. Das Interesse für neue musikalische Entwicklungen, die Suche nach neuen, teilweise provokanten Lebensstilen und Moden tritt in dem Band als überwiegend männlich in Erscheinung. Die verstärkte Untersuchung weiblicher Elemente der Populärkultur wäre somit ein wichtiges Desiderat. Zum anderen bietet sich ein intensivierter Blick nach Osteuropa an: Viele Elemente der Populärkultur breiteten sich auch dorthin aus. Dabei wäre zum einen zu fragen, ob es auch hier Rückwirkungen von Ost nach West gab, zum anderen stellt sich hier der Zusammenhang von Populärkultur und Demokratisierung möglicherweise anders dar. Das Thema des Bandes und die hier vorgestellten Perspektiven liefern aber auch für solche Erweiterungen eine wichtige Grundlage.

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