„Oh welch wunderbarer Vorgang, aber mehr noch welch schmerzliche Boshaftigkeit!“ (S. 197) Besser als die zweite Passio des Bischofs Desiderius von Vienne kann man die Ambivalenz wohl nicht fassen, die Gewalt hinsichtlich des christlichen Martyriums bedeutete: Desiderius wurde 607 von seinen Gegnern blutig getötet, sein Schädel dabei zertrümmert – aber gerade dieser Gewaltakt war die Voraussetzung für seine Verehrung als Märtyrer.
Derartige Szenarien stehen im Fokus der Regensburger Dissertation von Jennifer Vanessa Dobschenzki, die die Rolle der Gewalt in der merowingischen Hagiographie des 7. Jahrhunderts untersucht. Diesen Fokus begründet sie mit dem ‚Boom‘ der Passionsliteratur eben jener Zeit, der als eine Reaktion auf Faktionskämpfe des merowingischen Adels zu verstehen sei: Um die prominenten Opfer dieser Auseinandersetzungen, allein etwa 18 Bischöfe in der Zeit von 580 bis 750, zu Leitfiguren zu erheben, stilisierten die Adelsparteien sie zu ‚Märtyrern‘. Damit reagierten sie zugleich auf den Umstand, dass das klassische Martyrium, also der Tod durch die Hand der Heiden, im Frankenreich selten geworden war. Zudem, so die Autorin zutreffend, repräsentiere die Hagiographie noch vor der Historiographie für das 7. Jahrhundert die am breitesten überlieferte Quellengattung (S. 10, 33).
Ausgehend von einem körperzentrierten Gewaltbegriff (S. 24) untersucht Dobschenzki sowohl die Art und Weise, wie Gewalt geschildert wurde (und damit auch ihre Funktion im Text), als auch ihre Rolle in der „Lebenswelt des Publikums“ (S. 33). Diesen Realitätsbezug setzt die Autorin zum einen schlicht voraus, da die Schilderungen für die Rezipienten sonst nicht plausibel und nachvollziehbar gewesen wären (S. 37), zum anderen möchte sie durch die Hinzuziehung historiographischer Quellen einen Abgleich schaffen.
Die Arbeit ist in neun Kapitel gegliedert. Zunächst stellt Dobschenzki ihr Thema vor (S. 7–11). Es folgen Überblicke zum Forschungsstand (S. 12–18), zum Thema der Gewalt in der Soziologie und der Mediävistik (S. 19–21), zur Methodik (S. 22–42) sowie zum historischen Kontext (S. 43–58).
Im sechsten Kapitel steht dann die „Darstellung von Gewalt“ im Mittelpunkt (S. 59–136). Innerhalb der Viten erfolgen die meisten Gewaltschilderungen in den Taten- und Wunderberichten, bei heiligmäßigen Frauen häufiger auch schon in der Kindheit. Nur wenige Viten kommen ohne die explizite Beschreibung von Gewalt aus. Dobschenzki konzentriert sich hier auf eine Reihe besonders auffälliger Darstellungsmuster: Bei der amplificatio werden im Rahmen des Neuabfassens einer Vita (réécriture) Gewaltepisoden ausgedehnt, um das Leiden des Protagonisten zu überhöhen. Erzählstrategien, die den Täter demonstrativ ins Unrecht setzen, sind dabei etwa die Betonung der Nacht als Tatzeit oder die Verwendung spezifischer literarischer Vorlagen (beliebt waren neben der Bibel etwa die Dialogi Gregors des Großen und die Vita Martini; S. 93). Auch die Topoi des Tyrannen bzw. des Barbaren zielen darauf, Gewaltakteure möglichst eindeutig als ‚böse‘ zu markieren. Verweise auf Emotionen dienen den Texten dabei durchaus als Motive für Gewalt, so Dobschenzki, allerdings dominieren vor allem Neid, Hochmut und Habgier, weniger der Hass. Als Erklärung für diese Beobachtung scheint die schlichte Rückbindung an die Adelskonflikte des 7. Jahrhunderts (vgl. S. 130) jedoch unzureichend. Um plausibel zu machen, dass der Neid, nicht aber der Hass die „Lebenswirklichkeit“ spiegelt und nicht bloßes Erklärungsmuster der Quellen ist, bedürfte es einer fundierteren Argumentation.
Im siebten Kapitel stehen „Formen und Funktionen von Gewalt“ im Blickpunkt (S. 137–230), wobei die Autorin zwischen nicht-tötender und tötender Gewalt unterscheidet. Im Bereich der nicht-tötenden Gewalt analysiert Dobschenzki vor allem asketische Praktiken sowie sexuelle und sexuell konnotierte Gewalt. Darunter ist primär der Frauenraub zu verstehen, der in hagiographischen Schriften durchaus Spuren hinterlassen hat. Als einzig mögliche Rettung vor dieser Gefahr stellen die Quellen den Eintritt ins Kloster dar – eine überraschende Strategie, da dadurch etwaige sozialkritische Bemerkungen entfallen, wie man sie aus der späteren Gottesfriedensbewegung kennt. Die tötende Gewalt wiederum unterteilt die Autorin in kriegerische und nicht-kriegerische Kontexte. Dobschenzki stellt heraus, dass Schilderungen kriegerischer Gewalt in der Hagiographie deutlich ausführlicher ausfallen als jene in der zeitgenössischen Historiographie (S. 184f.). Bei der Analyse kriegerischer Praktiken geht es der Autorin insbesondere darum, die Realitätsnähe der hagiographischen Schilderungen nachzuweisen (S. 175): Ihr entsprechender Exkurs, der den Großteil des Kapitels ausmacht, leidet jedoch darunter, dass er nahezu konsequent auf den Abgleich mit der entsprechenden Forschungsliteratur verzichtet. Dies ist umso bedauerlicher, als Dobschenzkis Hinweis auf die Detailfreudigkeit hagiographischer Kriegsschilderungen durchaus plausibel erscheint.
Gewalt im nicht-kriegerischen Kontext macht den Kern hagiographischer Schriften aus: der Tod des Märtyrers sowie der seiner Mörder. Während ersterer ausnahmslos als ungerecht und grausam dargestellt wird, trifft die Mörder folgerichtig die gerechte Strafe Gottes. Dieser kann übrigens ebenso grausam strafen (S. 118f.), sogar nachts (S. 84, dagegen S. 87: „die Nacht als Zeit der Abwesenheit Gottes“) oder sonntags (S. 121f.). Der gewaltsame Tod von Anhängern des späteren Heiligen, so Dobschenzki, werde zwar erwähnt, aber nachrangig behandelt: Der Hagiographie geht es um die Stilisierung eines Todes zum Martyrium. Zugleich unterliegt der Martyriumsbegriff selbst einem Wandel: Mangels Heiden und Christenverfolgung tritt das klassische Blutzeugnis gegenüber anderen Formen in den Hintergrund. Kleriker müssen nun vielmehr als Streiter für die Kirche leiden bzw. martern sich selbst in der Nachfolge Christi (S. 190–220). Kurz weist Dobschenzki auch auf den symbolischen Charakter vieler Gewalttaten hin (etwa Verstümmelungen oder Demütigungen), deren Botschaft sich sowohl an das anwesende Publikum als auch an die Leser- und Hörerschaft gerichtet habe (S. 221). Hier hätte man sich eine größere Sensibilität für den Unterschied zwischen Tat und Wort gewünscht: Können wir denn davon ausgehen, dass alle in der Hagiographie geschilderten Taten sich so vollzogen haben? Schon das von der Autorin selbst angeführte Stilmittel der amplificatio (s.o.) spricht ja dagegen.
Das letzte inhaltliche Kapitel (S. 231–239) setzt sich schließlich knapp mit „Besonderheiten der Gewaltbewertung“ auseinander und unterstreicht die sehr schematische Darstellungsweise in der Hagiographie: „Die Gewalt am Heiligen ist stets ungerecht, die Gewalt am Gewaltakteur gerecht.“ (S. 239).
Im neunten Kapitel fasst Dobschenzki ihre Ergebnisse zusammen (S. 240–246): Sie versteht die Hagiographie mit Paul Fouracre als Instrument im Kampf um „Macht und Heiligkeit“ (S. 240)1 und weist damit auf den konstruierten Charakter eines ‚Märtyrers‘ hin. Dieser habe erst entstehen können, als sich das Umfeld der entsprechenden Person um die Abfassung einer Vita bemühte. Viele Adelsfamilien haben so die christliche Figur des ‚Blutzeugen‘ instrumentalisiert und politisiert. Nicht der gewaltsame Tod machte den Märtyrer, sondern erst der Hagiograph.
Dobschenzki legt mit ihrer Dissertation eine quellennahe Studie vor, deren Verdienst es vor allem ist, eine bisher in der Gewaltforschung noch wenig beachtete Quellengattung in den Blick zu rücken. Wie die Ergebnisse zeigen, lohnt sich das Unterfangen. Allerdings lässt sich die Frage nach der Intention und Wirkung explizit grausamer und blutiger Gewaltschilderungen in ihrer Zeit nicht so leicht beantworten: Dobschenzki geht von einem Realitätsbezug der Schilderungen aus, denn die (lateinischen) Texte, die dem Publikum laut vorgelesen worden seien, hätten plausibel sein müssen, um zu wirken (S. 37). Wenn die Wirkung dann aber (neben dem Anstoß zur Verehrung der Märtyrer) auch in bloßer Unterhaltung gesehen wird (S. 29, 36, 42), scheint ein Realitätsbezug nicht mehr zwangsweise folgerichtig. Auch wüsste man gerne, worin genau denn das so oft beschworene „Stimmige“ (S. 79, 83, 85, 89, 127) vieler Gewaltschilderungen zu sehen ist: Dass man einen „wohligen Schauer“ (S. 83) fühle oder das „verbrannte Fleisch förmlich riechen“ (S. 160) könne, konstatiert die Autorin schlicht, und zwar gleichermaßen für das 21. wie auch das 7. Jahrhundert. Hier hätte man sich eine tiefergehende Reflexion gewünscht. Dennoch stößt Dobschenzki mit ihrer Monographie in einen neuen Bereich der Gewaltforschung vor, bei dem insbesondere der Zwiespalt zwischen behaupteter Handlung und konstruierter Schilderung herausfordernd ist.
Anmerkung:
1 Vgl. Paul Fouracre, The Origins of the Carolingian attempt to regulate the Cult of Saints, in: James D. Howard-Johnston / Paul Antony Hayward (Hrsg.), The Cult of Saints in Late Antiquity and the Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown, Oxford 2002, S. 143–165, hier 146 und 149. Leider fehlt ein entsprechender Nachweis bei Dobschenzki.