E. Tálos u.a.: Das austrofaschistische Österreich 1933–1938

Cover
Titel
Das austrofaschistische Österreich 1933–1938.


Autor(en)
Tálos, Emmerich; Wenninger, Florian
Reihe
Politik und Zeitgeschichte 10
Erschienen
Wien 2017: LIT Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Rupnow, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Im Erinnerungs- und Gedenkjahr 2018 stehen die Republikgründung 1918 und der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mitverhandelt wird dabei aber stets die Frage nach dem Charakter der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich: an Hand der Figur Kurt Schuschniggs und seiner Rolle in den Tagen, Wochen und Monaten vor dem „Anschluss“, aber auch mit Blick auf Engelbert Dollfuß und die von ihm betriebene Etablierung einer autoritären Diktatur unter Ausnutzung einer Geschäftsordnungskrise des Parlaments im März 1933 – also vor genau 85 Jahren.

Auf Grund verstärkter Forschungstätigkeit seit dem Auftauchen neuer Quellen (etwa des 2009 aus Moskau zurückgeführten Archivs der Vaterländischen Front), der (verspäteten) Rehabilitation von Februarkämpfern und anderen „linken“ Verfolgten 2011 und – nicht zu vergessen – der Tatsache, dass bis in den Sommer 2017 ein Dollfuß-Porträt in den ÖVP-Klubräumen im Nationalrat hing (bis es von Sebastian Kurz bequem im „Haus der Geschichte Niederösterreich“ entsorgt wurde) kam es in den letzten Jahren nochmals zu einer intensiven Diskussion darüber, wie das System zu benennen sei, das vor dem „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland in Österreich geherrscht hat: Ständestaat, Austrofaschismus, Halbfaschismus, Imitationsfaschismus, autoritäre Regierungsdiktatur, Kanzlerdiktatur… Hinter der hochakademisch anmutenden Begriffsdiskussion versteckte sich freilich immer eine politische Debatte darüber, ob der Widerstand des Regimes gegen den Nationalsozialismus höher zu bewerten sei – oder die Zerstörung der Demokratie und die versuchte Auslöschung der Sozialdemokratie.

Der Wiener Politikwissenschaftler Emmerich Tálos hat nun mit Unterstützung des Zeithistorikers Florian Wenninger im Lit-Verlag eine kurze Einführungs- und Überblicksdarstellung vorgelegt, die sich an ein breiteres interessiertes Publikum wendet und wohl aus Tálos‘ umfangreicher, über 600 Seiten starker Monographie über das „Das austrofaschistische Herrschaftssystem“ aus dem Jahr 2013 hervorgegangen ist. Beide Autoren sind ausgewiesene Experten für das Thema: Tálos bereits seit dem wichtigen Sammelband „Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938“, den er 1984 mit Wolfgang Neugebauer herausgegeben hat und der seitdem mehrmals überarbeitet, ergänzt und wiederaufgelegt worden ist; Wenninger als Proponent einer neuen Zuwendung zum Thema, dokumentiert in dem nicht weniger gewichtigen Kompendium „Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes“, das er 2013 zusammen mit Lucile Dreidemy vorgelegt hat.

Der knapp 200 Seiten umfassende Band führt äußerst übersichtlich in die Geschichte der österreichischen Diktatur von 1933 bis 1938 ein: in die Entwicklung des Systems ebenso wie in sein Selbstverständnis, die von ihm geschaffene Verfassungsordnung und die maßgeblichen Akteure. Verschiedene Politikbereiche (Repression, Medien, Kultur, Schule, Wirtschaft, Soziales) werden ebenso beleuchtet wie die Stimmungslage und Verankerung in der Bevölkerung. Ein wichtiges Kapitel wird der offiziellen wie der inoffiziellen Rolle des Antisemitismus gewidmet. Schließlich geht es um das Verhältnis zu den faschistischen Nachbarn Italien und Deutschland – und um den Charakter des Herrschaftssystems selbst.

Gegen die unreflektierte Übernahme des Selbstbilds als „christlicher Ständestaat“ oder die sehr unspezifische Bezeichnung als Dollfuß/Schuschnigg-Regime bzw. Kanzler- oder Regierungsdiktatur votiert Tálos noch einmal nachdrücklich für den Begriff „Austrofaschismus“ – bereits deutlich durch den Titel des Buches. Ohne diesen Begriff bliebe die ideologische Ausrichtung dieses Regimes auch seltsam unbenannt. Tálos verzeichnet Gemeinsamkeiten mit dem deutschen wie dem italienischen Faschismus, konstatiert aber eine deutlichere Nähe zum italienischen Regime Benito Mussolinis, das ja auch eine Zeit lang schützend seine Hand über die österreichische Diktatur hielt. Insgesamt sei das „österreichische Herrschaftssystem der Jahre 1933–1938 dem Spektrum faschistischer Herrschaft zuzurechnen“ (S. 171f.). Die Begriffsdiskussion und die Debatte über „Österreich 1933–1938“ wird damit kaum an ein Ende kommen. Ob sie noch wesentlich neue Argumente zu Tage fördern wird, bleibt abzuwarten. Nicht zuletzt die gegenwärtige Hinwendung zu autoritären Lösungen und illiberalen Demokratien könnte die „österreichische Diktatur“ aber für eine wissenschaftliche und auch politische Auseinandersetzung erneut interessant machen.

Mit Tálos‘/Wenningers Buch liegt in jedem Fall eine konzise, aber durchaus positionierte Einführung vor. Sie ist äußerst dicht, gut lesbar, manchmal vielleicht zu sehr auf die staatliche Perspektive beschränkt. Die Tatsache, dass Umfragen zeigen, dass 40% der ÖsterreicherInnen den christlich-sozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß – ob als „Arbeitermöder“ oder „Heldenkanzler“ – überhaupt nicht mehr kennen, macht deutlich, was für eine wichtige Funktion ein solches Buch haben könnte. Die Jahre 1933 bis 1938 müssen wohl mittlerweile als eigentliche Blindstelle der österreichischen Geschichte der letzten 100 Jahre gelten. Zugegebenermaßen ist die österreichische Geschichte mit zwei sich konkurrierend gegenüberstehenden Faschismen hier auch wesentliche komplexer als andere.

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