Auf dem ersten Blick schien es zu Beginn des Jahres 1990 eine einfache, ja nahezu zwingende Angelegenheit zu sein. Zwei (bzw. vielmehr vier) deutsche Unternehmen und ihre Stiftungen, zwar lange voneinander getrennt durch den Kalten Krieg, aber vereint in einer langjährigen Industrie-Tradition, die sich allesamt maßgeblich auf den übermächtigen, legendären Gründervater beriefen. Was lag da näher, als eine direkte Wiedervereinigung der getrennten Geschwister anzustreben, sobald sich hierfür eine Möglichkeit bot, als der „Eiserne Vorhang“ im Herbst 1989 ganz plötzlich und unerwartet zur Seite gerissen wurde? Die Dinge sollten sich dann – ironischerweise gerade auch wegen der gemeinsam-geteilten Vergangenheit – als sehr viel komplizierter und konfliktreicher entwickeln. Hierfür liefert die jüngst von Louis Pahlow und Andrè Steiner vorgelegte Fallstudie zur Wiedervereinigung der Carl-Zeiss-Unternehmen und Stiftungen in Ost und West nach 1990 ein eindrückliches empirisches Beispiel.1
Das konfliktreiche Zusammengehen von Ost und West auf Unternehmensebene erscheint tatsächlich, wie die beiden Autoren bereits einleitend herausstreichen, nachgerade emblematisch für die spannungsgeladene Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland insgesamt. Die anfängliche Euphorie des Jahres 1990 war auch in Jena bzw. in Oberkochem und Mainz schnell verflogen und wich rasch langwierigen Enttäuschungen und hartnäckigen Konflikten. Insbesondere die wirtschaftliche, politische und auch kulturell-symbolische Bedeutung von Carl Zeiss an seinen jeweiligen Standorten lasse diesen „Sonderfall“, so die Autoren, zu einem regelrechten „Testfall“ für das Gelingen der Einheit als Ganzes werden. Unternehmerische Kalkulationen, standortpolitische Interessen sowie (marken-)rechtliche Abwägungen, aber letztlich gerade auch übergeordnete kulturelle Wahrnehmungen sowie symbolische Zuschreibungen zwischen Ost und West schienen sich in diesem besonderen deutsch-deutschen Fall zu einem für die zahlreichen beteiligten Akteure nahezu unentwirrbaren Konflikt-Knäuel verheddert zu haben.
Im ersten Teil des Buches entfaltet André Steiner zunächst die wirtschafts- bzw. unternehmenshistorische Geschichte der Betriebe bzw. ihrer Stiftungen. Der schillernde Erfinder, Betriebsgründer und Sozialreformer Ernst Abbe (1840-1905) hatte seine Optik-Unternehmen bereits Ende des 19. Jahrhunderts in eine eigene Stiftung mit einem detaillierten Statut überführt und hierin auch umfassende sozialpolitische Aufgaben definiert. Nach 1945 war der traditionsreiche Standort in Thüringen dann von einem Großteil der Ingenieure des Konzerns infolge von Demontage und Verstaatlichung fluchtartig verlassen worden. Dieser Personenkreis gründete in Westdeutschland schließlich eine eigene Stiftung mit zwei neuen Unternehmen. Carl Zeiss existierte fortan doppelt, in Ost und West. 1971 hatten sich die verschwisterten Konkurrenten schließlich im „Londoner Abkommen“ auf eine geteilte Nutzung der Markenrechte in unterschiedlichen Weltregionen verständigt. Interessanterweise gerieten beide Seiten seit den 1970er-Jahren unabhängig voneinander in eine veritable Krise: Während man im Westen auf den internationalen Märkten gegen eine zunehmend aufstrebende asiatische Konkurrenz zu kämpfen hatte, geriet der volkseigene Betrieb in Jena trotz seiner bevorzugten Sonderrolle (etwa im Rahmen des berühmt-berüchtigten DDR-Mikroelektronikprogramms) letztlich auch in den Strudel einer zunehmend an ihre Belastungsgrenzen stoßenden Zentralplanwirtschaft.2
Steiner arbeitet akribisch die unternehmerischen Herausforderungen heraus, welche sich nach dem Mauerfall 1989 in Ost und West entfalteten. Zwar hatten sich die Konzern-Spitzen am 29. Januar 1990 in der „Biebelrieder Absichtserklärung“ noch unter dem euphorischen Eindruck des Mauerfalls frühzeitig auf eine Kooperation bis hin zu einem Zusammenschluss festgelegt, in den nächsten Monaten und Jahren erwies sich dieses Unterfangen angesichts der Vielzahl an Akteuren jedoch als nahezu undurchführbar. Lediglich einige knappe Schlaglichter an dieser Stelle: Die westdeutschen Konzernleitungen hatten idealistische, traditionsbezogene Übernahmeambitionen gegenüber den hieraus resultierenden, erheblichen unternehmerischen Risiken bzw. juristischen Vorbehalten abzuwägen. Die ostdeutsche Geschäftsführung kämpfte demgegenüber um den möglichst umfassenden Erhalt ihres sanierungsbedürftigen Standorts. Gerade auch aufseiten der jeweiligen Belegschaften in Ost und West machte sich bald erhebliches Misstrauen breit: Würde man Arbeitsplätze bzw. Unternehmensbereiche zugunsten des jeweils anderen Standorts verlagern? Auch die Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter gerieten zwischen die Fronten, während sich in den lokalen Öffentlichkeiten sowie in den regionalen Medien die Stimmung zwischen Ost und West zunehmend verschärfte. Schließlich spielten überdies die jeweiligen Stiftungen bzw. die diese kontrollierenden Bundesländer Baden-Württemberg, Thüringen und Rheinland-Pfalz sowie insbesondere deren Ministerpräsidenten eine ausschlaggebende Rolle in diesem vereinigungspolitischen Vabanquespiel.
Seit Mitte 1990 war es schließlich auch die Treuhandanstalt bzw. die sich hier kurzfristig versammelnden westdeutschen Führungskräfte, die sich des ins Stocken geratenen Privatisierungsfalles anzunehmen versuchten. Es folgten dicht gedrängte Wochen und Monate voller aufreibender Verhandlungen, immer neuer Sanierungskonzepte, zahlreicher (Gegen-)Gutachten, beständiger Krisen-Meetings sowie diverser Interventionen, Proteste und Drohungen, die Steiner minutiös nachzeichnet. Immer wieder prallten dabei unternehmerische und stiftungsrechtliche Erwägungen sowie betriebs- wie volkswirtschaftliche Argumente hart aufeinander, während zugleich kulturell-symbolische Konfliktlagen zwischen Ost und West überdeutlich hervortraten. Interessanterweise kann Steiner plausibel zeigen, dass der seinerzeit umfassend in den Medien präsente, in Jena oft als „Retter“ gefeierte Ex-Ministerpräsident Lothar Späth insgesamt eine eher nebengeordnete Rolle spielte. Die Weichen wurden woanders gestellt: Letztlich hatten die Treuhand-Manager im Juni 1991 eine „Grundsatzvereinbarung“ mit allen Beteiligten regelrecht erzwungen, um das Unternehmen so (für die Treuhand sehr kostspielig) aus dem eigenen Portfolio zu tilgen. Doch gerade die sich noch bis weit ins Jahr 1994 ziehende Umsetzung der umstrittenen Restrukturierungs- und vor allem auch der umfassenden Entlassungsmaßnahmen zeigte, wie sehr der Teufel auch in diesem verwickelten Fall im Detail steckte.
Im zweiten, kürzeren Teil des Buches nimmt sich Louis Pahlow sodann aus rechtshistorischer Perspektive der mittelfristigen Folgen für die nun vereinten Unternehmen an. Hier wird deutlich, wie sehr das turbulente Geschehen der Transformationszeit langfristige rechtlich-institutionelle Umbau- und Reformprozesse auch in den Westunternehmen in den Hintergrund gedrängt hatte. Als Carl Zeiss in Oberkochem (zulasten des Schwesterunternehmens Schott in Mainz) Ende der 1990er-Jahre abermals in eine Krise geriet, war die Debatte eröffnet. Mit großer Härte wurde nun um die Jahrtausendwende um eine grundsätzliche Reform des noch von Gründervater Ernst Abbe erarbeiteten Stiftungsstatus gerungen, das vom amtierenden Vorstand als veralteter Hemmschuh in Zeiten der Globalisierung kritisiert, von Belegschaft und Gewerkschaften aber als traditionsreicher Besitzstand mit bedeutsamer sozialpolitischer Dimension verteidigt wurde. Wie Pahlow detailliert zeigt, ging es im Kern dabei auch um die strategische Frage, wie stark die Stiftungsverwaltung bzw. die hinter ihr stehenden Länder Baden-Württemberg und Thüringen Einfluss auf die Arbeit des operativen Vorstandes nehmen dürften – und inwiefern man diese von vielen Managern und Beratern als überkommene Struktur eines „halben Staatsbetriebs“ (S. 519) letztlich auch für internationale Investoren flexibilisieren bzw. öffnen könne.
Steiner und Pahlow haben detailliert und auf breiter empirischer Grundlage mithilfe erstmals zugänglicher Archivbestände die komplexe Geschichte eines außergewöhnlichen Falls erschlossen, der tatsächlich paradigmatisch für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der konfliktreichen Umbruchs- und Transformationszeit im soeben wiedervereinten Deutschland nach 1990 stehen kann. Wie stark wirtschaftliche und kulturelle Problemlagen hierbei bis zur Unentwirrbarkeit miteinander verwickelt waren, arbeitet dieses Buch eindrucksvoll wie differenziert heraus. Die immer wieder von allen Beteiligten aufgeworfene Frage „What would Abbe do?“ konnte so von den verschiedenen Akteuren mitunter sehr unterschiedlich, ja vollkommen konträr beantwortet werden. Die Wiedervereinigung der lange getrennten Schwestern war daher eben keine einfache oder gar selbstverständliche Angelegenheit, sondern ganz im Gegenteil: ein konfliktreicher Prozess mit offenem Ende. Die Fallgeschichte liefert damit ein detailliertes wie hochspannendes Exempel dafür, wie sich in den 1990er-Jahren die Geschichten von Transformation und Globalisierung in Ost- und Westdeutschland gesellschaftsgeschichtlich miteinander verbanden – und wie gerade auch verschiedene kulturelle Mentalitäten und unterschiedliche Wahrnehmungsweisen diese tiefgreifenden Umbruchs- und Übergangsprozesse derart geprägt haben, dass die langfristigen Folgen bis in unsere Gegenwart spürbar sind.3
Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die diversen Forschungsbeiträge in: Werner Plumpe (Hrsg.), Eine Vision. Zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014; Stephan Paetrow, …was zusammen gehört. 20 Jahre Wiedervereinigung von Carl Zeiss, Hamburg 2011; sowie den monografischen Zeitzeugenbericht: Katharina Schreiner / Klaus-Dieter Gattnar / Horst Skoludek, Carl Zeiss Ost und West – Geschichte einer Wiedervereinigung, Jena 2006.
2 Vgl. Olaf Klenke, Kampfauftrag Mikrochip. Rationalisierung und sozialer Konflikt in der DDR. Das Mikroelektronik-Programm und die "Dritte industrielle Revolution" in der DDR (1977–1989), Hamburg 2008.
3 Siehe hierzu Christoph Kleßmann, „Deutschland einig Vaterland“? Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 8 (2009), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2009/id=4555 (13.07.2018), Druckausgabe: S. 85–104; Philipp Ther, Das „neue Europa“ seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2009/id=4729 (13.07.2018), Druckausgabe: S. 105–114.