M. Recker u.a. (Hrsg.): Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus

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Titel
Parlamentarismuskritik und Antiparlamentarismus in Europa.


Herausgeber
Recker, Marie-Luise; Schulz, Andreas
Reihe
Parlamente in Europa 5; Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 175
Erschienen
Düsseldorf 2018: Droste Verlag
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Wolfgang Becker, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Die repräsentative Demokratie, wie sie sich in liberaler Tradition seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat, steht heute wieder unter Druck. Populistische Bewegungen in vielen europäischen Staaten beanspruchen, einen vorgefundenen, einheitlichen Volkswillen aufzugreifen und mit Hilfe eines imperativen Mandats in der Volksvertretung unverfälscht umzusetzen. Das Parlament selber hingegen ist nach dieser Auffassung nur ein schwaches Surrogat für den „wahren“ Volkswillen. Als Ort, an dem pluralistische Interessen verhandelt werden, begegnen ihm Populisten mit Vorbehalten, weil das moderne Repräsentativsystem das Prinzip der Volkssouveränität verfälsche. Parteienstreit, parlamentarischer Kompromiss und Interessenausgleich lassen in dieser Sicht Politik zum „schmutzigen Geschäft“ von Eliten degenerieren.1

Der europäischen Demokratiegeschichte ist diese unaufhebbare Spannung zwischen dem „Ideal der Volkssouveränität und der Praxis der Repräsentation“ (Vorwort, S. 5) seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution inhärent. Der Antiparlamentarismus von politischen Strömungen und Parteien in bestimmten Epochen und einzelnen Staaten ist immer wieder Gegenstand der Forschung gewesen, meist im Zusammenhang mit Arbeiten über Parlamentarismus, repräsentative Demokratie oder Liberalismus.2 Nationale Synthesen und spezifische Untersuchungen zu diesem Thema sind hingegen rar.3 Gerade kulturgeschichtlich inspirierte4, transnational vergleichend vorgehende Arbeiten, die den Blick auf Europa als einen zusammenhängenden Diskursraum über zwei Jahrhunderte richten, sind ein Desiderat. In diesem Forschungsfeld positioniert sich der verdienstvolle Sammelband, der aus einer Tagung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien sowie des European Information and Research Network on Parliamentary History hervorgegangen ist. Nicht nur der manifeste Antiparlamentarismus extremistischer Systemgegner, sondern auch und insbesondere die systemimmanente Parlamentarismuskritik gerät in den Fokus der Beiträge. In ihrer konzisen wie auch inspirierenden Einführung betonen die Herausgeber Marie-Luise Recker und Andreas Schulz die fließenden Übergänge zwischen explizitem Antiparlamentarismus und demokratischer Parlamentarismuskritik, die eine trennscharfe systematische Unterscheidung unmöglich machen. Antiparlamentarismus gelte es als „politischen Extremfall innerhalb eines breiten Spektrums kritisch-oppositioneller Verhaltensmodi zu begreifen, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu analysieren sind“ (S. 9f.). Dies gelingt einem Großteil der Autorinnen und Autoren in dem Band.

Das „Repertoire des Anti-Parlamentarismus“ ist vielschichtig, wie der erste Teil des Buches deutlich macht. Remieg Aerts zeigt in einem länderübergreifenden Aufsatz, wie es sich in weitverbreiteten antiparlamentarischen oder parlamentskritischen Stereotypen äußert, die von einer diffusen Verweigerung bürgerlich-liberaler Politik über eine fundamentale Ablehnung des repräsentativen Systems zugunsten einer plebiszitären Demokratie bis hin zu einer systemimmanenten Kritik an der parlamentarischen Praxis und an deren Vertretern reichen. Je mehr Macht das Parlament seit der Jahrhundertwende bekam und je mehr es zur Plattform für politische Auseinandersetzungen wurde, umso stärker wurden der antiparlamentarische Diskurs und der Zweifel, ob die zerstrittene Volksvertretung die Herausforderungen der Massendemokratie bewältigen und die Einheit der Nation repräsentieren könne. Auch in Ländern, in denen während der Zwischenkriegszeit das parlamentarische System bestehen blieb, wurden Diskussionen über eine Selbstbegrenzung der parlamentarischen Demokratie geführt. Jean Garrigues betont die spezifische französische Entwicklung. Mit Ausnahme des fundamentalen Antiparlamentarismus der Ultramonarchisten bildete sich unter den Linken und den Bonapartisten bzw. Boulangisten eine moralische und funktionalistische Parlamentskritik heraus, die das Repräsentativsystem an sich nicht infrage stellte und sich damit von der totalitären und autoritären Entwicklung in anderen europäischen Ländern der Zwischenkriegszeit unterschied. Zu Recht weist Nicolas Roussellier aber auf die lange Tradition eines Antiparlamentarismus der Exekutive, der Verwaltung und Justiz in Frankreich hin. Angesichts etatistischer Ordnungsvorstellungen verlagerte sich in den Krisen der 1930er-Jahre die Gesetzgebung zunehmend von dem gering geachteten Parlament auf die vermeintlich kompetente, überparteiliche Exekutive. Andreas Biefang widmet sich in seinem originellen Beitrag „Kiss my ass“ einer länderübergreifenden europäischen Bildformel der Parlamentskritik. Seit dem 19. Jahrhundert stand das zugewandte Gesäß in Karikaturen und anderen Medien für die Brüchigkeit der Repräsentationsfiktion, die Anlass gab, zentrale Felder der parlamentarischen Kritik zu verhandeln. Wie die Politik der SED in den Landtagen der SBZ und frühen DDR in der Tradition eines linken Antiparlamentarismus stand und damit unter antipluralistischen Vorzeichen ihren Machtanspruch absicherte, zeigt der Beitrag von Michael C. Bienert.

Der zweite Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit den verschiedenen „Medien und Arenen“, in denen Parlamentarismuskritik geübt wurde. Ein Hauptschauplatz antiparlamentarischer Agitation mit spezifischer Eigenlogik war das Parlament selbst, das einen gemeinsam akzeptierten Kommunikationsraum für dessen Kritiker bot. So zeigt Theo Jung anhand des Wilhelminischen Reichstags, wie sich vor allem die Linke dem Parlament als Institution annäherte und parlamentskritische Äußerungen auf Reformen abzielten, die ein „wahres“ Parlament vor Augen hatten. Die Straße bildete hingegen die politische Gegenwelt zum Parlament. Die Menschenmenge nahm in der Straßenpolitik von unten den Kampf um öffentliche Anerkennung auf, wehrte staatliche Bevormundung ab und versuchte kollektive Interessen durchzusetzen. Die Demonstrationsöffentlichkeit, so Thomas Lindenberger, ist ein notwendiges und wirksames Gegengewicht zur formalisierten Parlamentsöffentlichkeit, das bis zum „Guerilla-Gardening“ und zur Occupy-Bewegung der Gegenwart reicht. Die Straße als „massenmediale[n] Beobachtungs- und massenkulturelle[n] Erlebnisraum“ (S. 168) nimmt auch Claudia Christiane Gatzka in ihrer vergleichenden Untersuchung zu linken politischen Akteuren in Bologna und Hamburg für die Jahre 1945 bis 1960 in den Fokus. In Italien trugen die kommunistischen Massenveranstaltungen dazu bei, die Straße als komplementären Ort der Politik zu etablieren, wo sich das „wahre“ Volk zeige. Der antifaschistische Gründungsmythos der Republik, der an die Resistenza und bis zurück an das Risorgimento des 19. Jahrhunderts erinnerte, machte Massenaufmärsche unproblematisch und wirkte integrativ. Hingegen hatte sich in der Bundesrepublik die SPD von ihrem eigenen Kulturmuster einer linken Straßenpolitik verabschiedet und sich vor allem auf das Parlament konzentriert, weil der Verweis auf Weimar, den Nationalsozialismus und die DDR eine Rückkehr zur Massenpolitik diskreditierte. Höchst aufschlussreich ist der Beitrag von Andreas Schulz über öffentliche Diskussionsveranstaltungen in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Inszenierte Arenen wie die „Darmstädter Gespräche“ spielten zum einen eine wichtige Rolle für die Demokratisierung und Entwicklung einer Zivilgesellschaft in der Nachkriegszeit, zelebrierten zum anderen aber auch eine Gegenwelt zur parlamentarischen Praxis. Mit dem Anspruch auf Deutungskompetenz, Wahrheit und das freie Wort offenbarte die dort vertretene Geistesaristokratie auch ein elitäres Demokratieverständnis und eine Verachtung von Parteienstreit und parlamentarischem Kompromiss.

Im dritten und letzten Abschnitt des Bandes werden „Akteure und Praktiken“ untersucht. So konnte die Praxis des Nicht-Wählens im Deutschen Kaiserreich angesichts eines undemokratischen Wahlrechts in Sachsen und Preußen zur Delegitimierung des parlamentarischen Systems führen, wie James Retallack und Marc-André Dufour ausführen. Das geglückte Zusammenspiel direktdemokratischer Instrumente und parlamentarischer Verfahren in der Schweiz ermöglicht hingegen eine hohe Legitimität und Akzeptanz des Repräsentativsystems trotz niedriger Wahlbeteiligung, so Michael Strebel. Eine weitere Praxis der Parlamentskritik ist die Obstruktion geregelter parlamentarischer Verfahren. Sie untersucht Benjamin Conrad am Beispiel von Parlamentariern nationaler Minderheiten im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit, die sich auf einem schmalen Grat zwischen fundamentaler Verweigerung und kooperativer Mitgestaltung bewegten. Wie lohnend eine transnationale Perspektive ist, zeigt der Beitrag von Pasi Ihalainen, der die antiparlamentarischen Debatten in Schweden und Finnland 1917–1919 mit den Entwicklungen in Europa, vor allem Russland und Deutschland, verknüpft. Einen herausragenden Akteur rückt Adéla Gjuričová in den Fokus. Als tschechoslowakisches Staatsoberhaupt demokratisch legitimiert, arbeitete Václav Havel auf eine zügige Änderung der Verfassung hin, um Referenden wie auch die Stellung des Präsidenten als überparteiliche Instanz zu Lasten des Parlaments zu stärken. Seine Vorstellungen von einer „unpolitischen Politik“, die auch die Sehnsucht vieler westeuropäischer Intellektueller nach einer Neuerfindung der Demokratie seit 1989/90 widerspiegelt, zeugen von einem antiparlamentarischen Affekt und von seiner Schwäche als Politiker.

Die Herausgeber haben einen vorzüglichen Sammelband vorgelegt, der das Thema in seiner Breite und Vielfalt bilanziert und neue Perspektiven eröffnet. Die Zusammenstellung der Beiträge mutet – wie oft bei Tagungsbänden – mitunter etwas willkürlich an, steckt aber Felder für weitere Forschungen ab und weist auf das Desiderat einer europäischen Gesamtdarstellung hin. Der Band macht deutlich, wie lohnend kulturgeschichtliche Leitfragen und transnationale Vergleiche sind, auch wenn letztere in dem Band noch zu kurz kommen. Weiterführend wäre ein Blick auf die europäischen Liberalismen und deren Haltungen zur parlamentarischen Demokratie gewesen, denn Antiparlamentarismus ging oftmals einher mit Antiliberalismus. Wie der Antiparlamentarismus Gegenkräfte herausforderte und zur Veränderung des politischen Ideenguts und des parlamentarischen Systems beitrug, gehört ebenfalls in diesen Kontext. Auch das parlamentskritische Potential einer demokratischen Kultur jenseits der Institutionen bietet ein breites Spektrum für weitere Forschungen. Schlussendlich hat der Band das große Verdienst, auf die der Repräsentation inhärente Problematik hinzuweisen: den „Antiparlamentarismus als Reflex demokratischer Imperfektibilität“ (Recker / Schulz, S. 17).

Anmerkungen:
1 Vgl. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Frankfurt am Main 2016, S. 46–53.
2 Z.B. Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Berlin 2005; Ewald Grothe / Ulrich Sieg (Hrsg.), Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014; Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, München 2004; Andreas Schulz / Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2002; Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Frankfurt am Main 2018.
3 Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997; Jean Defrasne, L’Antiparlementarisme en France, Paris 1990.
4 So vor allem Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.