G. Wagner u.a. (Hrsg.): Max Weber Schriften 1900–1907

Titel
Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften. Schriften 1900–1907


Autor(en)
Weber, Max
Herausgeber
Wagner, Gerhard; In Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn
Reihe
Max Weber-Gesamtausgabe I/7
Erschienen
Tübingen 2018: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XV, 772 S.
Preis
€ 340,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

"Die Geschichte", so Weber 1906 beiläufig in einer Fußnote, frage, "solange sie empirische Wissenschaft bleiben will, nach den ‚objektiven‘ Gründen konkreter Vorgänge und nach der Folge konkreter ‚Taten‘", wolle aber nicht "über den ‚Täter‘ zu Gericht sitzen". Das unterscheide die Historie etwa vom modernen Recht, dieses "richtet sich gegen den Täter, nicht die Tat ... und fragt nach der subjektiven ‚Schuld‘" (S. 454). Beide, Historie wie Recht, suchten aber nach kausalen Erklärungen menschlichen Handelns. Von diesem gemeinsamen Weg biege das Recht jedoch wieder ab, weil es das Vorhandensein von Schuld abhängig mache von bestimmten subjektiven Voraussetzungen auf Seiten des Handelnden, etwa einer Absicht, oder der Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns absehen zu können. In der Bestimmung kausaler Ursachen menschlichen Handelns sah Weber zweifellos das erstrebenswerteste Ziel sozialwissenschaftlicher wie historischer Forschung. Mit am bekanntesten dürfte die Formulierung am Beginn der Religionssoziologie sein, mit der Weber seine globalgeschichtlich vergleichende Analyse der Entstehung des okzidentalen Kapitalismus beginnt: "welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten", denen entwicklungsgeschichtlich eine universelle Bedeutung zukam.1

Nach der Jahrhundertwende erschienen in einem relativ kurzen Zeitraum wesentliche Arbeiten Webers zur Methodologie, in denen er immer wieder darum rang, wie kausale Erklärungen erzielt werden können. Die Anfänge dieser Schriften, ebenso wie die seit dieser Zeit erscheinenden Ausführungen zur Protestantischen Ethik, reichen zurück in die Phase seiner Erkrankung zwischen 1897 und etwa 1902/03.2 Der Streit auf der historisch-empirischen Ebene über die Entstehung des Kapitalismus fand somit in zeitlicher Nähe zu den theoretischen und methodologischen Grundlagenbestimmungen einer historischen Sozialwissenschaft statt, die Max Weber in den Jahren davor veröffentlichte. Die methodologischen und theoretischen Texte – alle in den Jahren zwischen 1903 und 1907 veröffentlicht, bis auf ein Vorwort Webers zu einer Arbeit Marianne Webers (1900) 3 – sind großteils bereits in der "Wissenschaftslehre" leicht greifbar.4

Sie sind jetzt jedoch in einem der letzten noch fehlenden Bände der Max Weber Gesamtausgabe erneut publiziert worden. Durch die editorischen Einführungen und die Erläuterungen von Gerhard Wagner, der in diesem Band seine Hinweise eher knapp hält, kann man sie ohne Mühen in den werkgeschichtlichen Kontext bei Weber und die zeitgenössischen wissenschaftlichen Bezüge einordnen, die Literaturhinweise und -kommentare erleichtern ein vertiefendes Lesen. Die Ausführlichkeit der Kommentare und der inhaltlichen Einführungen variiert in den Bänden der Gesamtausgabe. Als wissenschaftliche Edition bewegt sich diese in Bezug auf ihren kommentierenden und kontextualisierenden Umfang insgesamt eher im Mittelfeld. Das kommt ihr zu Gute, da nicht jede Banalität erläutert wird, aber das historische Umfeld, in dem die Texte entstanden, in den Grundzügen dargestellt wird. Die Editoren skizzieren Grundpositionen der Forschung, auch der Rezeption, aber enthalten sich des Nachweises „grauhaariger Belesenheit“, wie es der von Weber geschätzte Friedrich Nietzsche bespöttelt hätte. Mit dem nun auch erschienenen Nachtragsband zu den Briefen (Band II/11: Briefe. Nachträge und Gesamtregister, herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2019) ist die Max Weber Gesamtausgabe abgeschlossen, bis auf den angekündigten Band mit den Vorlesungen zur "Praktischen Nationalökonomie".5

Wissenschaftsgeschichtlich nimmt Weber in diesen Texten Stellung zu Grundkontroversen der Jahrhundertwende, etwa dem Methodenstreit in der Nationalökonomie. Das ergab (und ergibt) aber kein zusammenhängendes theoretisches Gefüge, Weber reagierte eher situativ auf Anfragen oder auf Texte anderer. Die Aufsätze sind somit Teil einer zeitgenössischen Gelehrtendebatte, mit bisweilen durchaus scharfen Tönen. Einige der Arbeiten blieben auch insofern eher Fragment, da Weber die Argumentation zwar ausbauen wollte, dies aber nicht geschah.

Theoretische Grundsatzüberlegungen und methodische Kontroversen sind keine leichte Kost. Leser des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", dessen Herausgeber Weber seit 1904 zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé war, beklagten bald den "unpraktischen Charakter" der dort publizierten Artikel. Weber reagierte darauf mit einem "längeren Pausieren" in seinem methodologischen Schaffen (S. 27) – auch das ist ein Grund, warum die Texte zeitlich auf wenige Erscheinungsjahre konzentriert sind. Inhaltlich kann man mehrere Debatten und Problemfelder unterscheiden, auf die sich Webers Texte beziehen.

Erstens ist der Methodenstreit in der Nationalökonomie zu nennen, zwischen den beiden Hauptantipoden Menger und Schmoller. In ihm ging es vor allem um die Frage, ob sich die Sozialwissenschaften um die Ermittlung allgemeingültiger, überzeitlicher Gesetze bemühen (Menger), oder ob sie als historisch-empirische Wissenschaft konkrete Zusammenhänge und historisch-individuelle Gegebenheiten, das heißt einzigartige Erscheinungen, untersuchen sollten (Schmoller). Webers Position war letztlich eine vermittelnde, indem er nach verallgemeinernden Bedingungen fragte, die er als Voraussetzungen ansah, um konkrete Geschehnisse verstehen und erklären zu können.6

Zweitens wäre die Auseinandersetzung Webers mit Eduard Meyer zu nennen, und damit explizit mit der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Weber sezierte gewissermaßen die erkenntnistheoretischen Grundlagen von Meyers "Zur Theorie und Methodik der Geschichte", wobei ihm die Kritik länger gerät als Meyers Bändchen. Letzteres charakterisiert er als "Krankheitsbericht nicht des Arztes, sondern des Patienten selber" (S. 384), und entwickelt mit seiner Kritik an Meyer einige analytische Angebote, wie der Historiker Phänomene wie Zufall, Freiheit oder Notwendigkeit verstehen und analysieren kann. Immer wieder bemängelt Weber, wie sehr "die Geschichtslogik noch im argen liegt" (S. 451), denn zu grundsätzlichen Fragen, wie etwa der Feststellung von „historischer Bedeutung“ eines Geschehens hätten sich Historiker bisher kaum geäußert. Webers Angebot beruhte auf der Theorie der "objektiven Möglichkeit"7, im Kern eine Darlegung, wie der Historiker methodisch geregelt zu kausalen Erklärungen gelangen kann. Hierbei, so Weber, komme es nicht auf Ermittlung abstrakter, allgemeiner Gesetzlichkeiten an, sondern auf die "Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen" (S. 454). Wolle man einen konkreten „Erfolg“ einer einzelnen „Ursache“ zurechnen, so müsse man den Handlungsverlauf in Teile zerlegen. Man solle sich von den historischen Komponenten des Verlaufs ein Element "abgeändert denken" und sich fragen, ob unter den geänderten Bedingungen nach unseren allgemeinen Erfahrungsregeln dann der gleiche Erfolg oder "welcher andere" zu erwarten wäre (S. 457). Sei keine relevante Veränderung zu erwarten, dann sei jenes Element "in der Tat kausal bedeutungslos" (S. 470).

Drittens geht es im Objektivitätsaufsatz, geschrieben als programmatische Selbstverortung nach dem Wechsel in der Leitung des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", vor allem um das Problem objektiver Erkenntnis in den Erfahrungswissenschaften, die sich stets im Spannungsfeld zwischen konkurrierenden politischen Wertungen befänden. Webers Antwort auf das Problem der Objektivität in einer pluralisierten Welt, bestimmt durch politische Deutungskämpfe, lag nicht in einer Forderung nach Enthaltsamkeit in diesen Auseinandersetzungen. "Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche Objektivität haben keinerlei innere Verwandtschaft" (S. 157), erklärte er, sich damit in eine Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft stellend, für die Johann Gustav Droysen der bekannteste Gegner aller Wünsche nach "eunuchischer Objektivität" (Droysen) war.8

Während Droysen als Historiker und politischer Zeitgenosse, als "Berufspreusse" (Wilfried Nippel), weit mehr politisierte, als es nach den Regeln seiner „Historik“ zulässig gewesen wäre, differenzierte Weber in seinem Wirken konsequent zwischen politischen Wertsetzungen und wissenschaftlichen Aussagen. Er unterschied Werturteile und Wertbeziehungen, die unvermeidlich und gewollt seien, von der Fähigkeit, empirische Wirklichkeit innerhalb dieser Zwecksetzungen methodisch geregelt so zu erfassen, daß sie auch "von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß" (S. 155). Schon in diesem Bild mag für manche heute eine Provokation liegen. Weber ging es dabei auch darum, den Kulturwissenschaften eine politische Stellungnahme als Wissenschaft zu ermöglichen. Dafür müsse man, so sein Credo, die eigenen Wertbeziehungen offenlegen, innerhalb dieser Bedingungen könnten dann durch gedanklich präzise Abstraktionen (Idealtypen) und Methoden wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Nur so sei eine wissenschaftliche Verständigung über politische Lagergrenzen hinweg, zwischen „dem Europäer“ und „dem Chinesen“ überhaupt möglich. Konkret ging es bei der Spannung zwischen Wissenschaft und Politik um 1900 zum einen um Analyse der politischen Gegenwart und die Stellung zur sozialen Frage und zur sozialen Reform, damit um die Deutungskonkurrenz zwischen dem bürgerlichen Professor und dem Sozialdemokraten im "Verein für Socialpolitik" bzw. der deutschen Öffentlichkeit. Wissenschaft könne zeigen, so Weber, was unter explizierbaren Bedingungen vielleicht möglich oder was erwartbar sei, nicht aber, was politisch richtig sei. Webers Objektivitätsaufsatz skizziert damit einen Weg, auf dem politische Zwecksetzungen und wissenschaftliche Erkenntnisbildung zugleich möglich sind, ohne sich dabei in Kulturrelativismen zu verirren oder sich in ideologisch motivierten Begrenzungen zu verfangen. In diesem Sinne kann man Webers Objektivitätsaufsatz auch als Kommentar zu einem Aphorismus Nietzsches lesen. "Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen."9

Zweifellos sind heutzutage nicht nur diese Zusammenhänge, sondern auch Webers Kategorien zur Problemanalyse weiterhin aktuell. In den gegenwärtigen Diskussionen über Probleme des Kapitalismus oder von Religion in der säkularen Moderne dürfte der Griff zur Weberschen Gesamtausgabe nicht der schlechteste sein, ermöglicht sie doch auch einen Einstieg in den historischen Erfahrungsraum der politisch-sozialen Selbstverständigung über diese Grundprobleme der Moderne. Nicht zuletzt in den heutigen schrillen Identitätskämpfen könnte sich eine Lektüre in seinen Objektivitätsaufsatz oder des Textes zur "Wertfreiheit" als im besten Sinne ernüchternd erweisen. Daß einer der vehementesten "Entzauberer" der Welt nun mit dieser Gesamtausgabe gewissermaßen seine Heiligsprechung als Klassiker erfahren hat, würde er den Herausgebern wohl verziehen haben.

Anmerkungen:
1 Zitiert nach Wolfgang Schluchter / Ursula Bube, Max Weber Gesamtausgabe Band 1/18: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920, Tübingen 2016, S. 101.
2 Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber: Die protestantische Ethik, Band 2. Kritiken und Antikritiken, Gütersloh 1978.
3 Es sollte Mariannes Webers Dissertation werden, über Fichtes Sozialismus und dessen Verhältnis zu Marx; das Verfahren konnte nicht durchgeführt werden, weil sie kein Abitur hatte.
4 Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen 1988 (1. Aufl. 1922, noch von Weber selbst betreut). Die späteren theoretischen Texte von Weber finden sich in der Gesamtausgabe in folgendem Band: Johannes Weiß / Sabine Frommer (Hrsg.), Max Weber Gesamtausgabe Band I/12. Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908–1917, Tübingen 2018.
5 Band II/11 enthält das Gesamtregister zu den Briefen; die Textbände der Ausgabe verfügen jeweils über ein eigenes Register.
6 "Soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären" wird als Ziel der "Soziologie" am Beginn von "Wirtschaft und Gesellschaft" bestimmt. Zitiert nach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980 (1. Aufl. 1921/22), S. 1.
7 Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, in: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften, S. 447–80 im besprochenen Band.
8 Zitiert nach Peter Leyh (Hrsg.), Johann Gustav Droysen: Historik, Stuttgart 1977, S. 236. (Droysen polemisierte mit dieser Formulierung gegen Wilhelm Wachsmuth.)
9 Zitiert nach Giorgio Colli / Mazzion Montinari (Hrsg.), Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Band 2), München 1988, S. 317.