K. Priem u.a. (Hrsg.): Fabricating Modern Societies

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Title
Fabricating Modern Societies. Education, Bodies, and Minds in the Age of Steel


Editor(s)
Priem, Karin; Herman, Frederik
Published
Extent
246 S.
Price
€ 105,93
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karin Büchter, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut Schmidt Universität Hamburg

Bei diesem Band handelt es sich um eine Beitragssammlung, die aus verschiedenen Perspektiven die Verschränkung von industriellen, technologischen, soziokulturellen und sozialtechnologischen Ideen und Praxen zur „Fabrikation“ moderner Gesellschaften thematisiert. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Werk, das die Industrialisierung und ihre sozialen Effekte historiographisch rekonstruiert und dabei besonders auf die die Modernisierung begleitenden medialen und diskursiven Realitätskonstruktionen eingeht.

Die Hintergrundkulisse bildet die Industrialisierung in Luxemburg am Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert und in den Zwischenkriegsjahren. Ein wichtiger Bezugspunkt der explorativen Analysen sind das 1911 aus der Fusion von drei bereits bestehenden Unternehmen hervorgegangene luxemburgische Stahlunternehmen Aciéries réunies de Burbach-Eich-Dudelange (Arbed), ein „Global Player“ im Stahl- und Eisengeschäft und bis zum Niedergang der Stahlindustrie in den späten 1980er-Jahren der größte Arbeitgeber des Landes. Dieses Unternehmen steht für jene Unternehmen, die sich auch in den Nachbarländern seit Ende des 19. Jahrhunderts darum bemühten, die sozialen und individuellen Folgen der Industrialisierung durch Wohlfahrt, Gesundheitsförderung und Bildung auszugleichen. Um die technologische und soziale Modernität zu dokumentieren, internationale Beziehungen und Einflüsse zu pflegen und neue Arbeitskräfte zu gewinnen, nutzten die Unternehmen unterschiedliche Medien. Arbed besaß eine Fotoabteilung (service photographique), die bis in die 1970er-Jahre existierte. Der Bestand an Medien des 1913/14 gegründeten Instituts Émil Metz (IEM), die Arbed-Berufsschule in Dudelange und Vorzeigeobjekt für die Initiativen von Arbed im Bildungsbereich, war Anlass für die durch den Luxembourg National Research Fund (FNR) geförderten Projekte „Fabricating Modern Societies: Industries of Reform as Educational Responses to Social Challenges“ (FAMOSO 1 und 2).

Die Beiträge des Buches, die Ergebnisse aus den beiden Projekten sowie aus thematisch verwandten Recherchen umfassen, fangen einen Teil der gelebten und widersprüchlichen industriellen und soziokulturellen Geschichte des Unternehmens und seines Umfeldes ein. Dazu greifen sie auf Einzelfotografien, Filme, Grafiken, Werbebroschüren, Firmenalben, populäre Zeitschriften, Reiseberichte und sonstige Primärquellen zurück.1 In den einzelnen Beiträgen sind – leider mitunter etwas klein – Bilder von Arbeitern, Lehrlingen, Industriellen und Mitgliedern ihres Umkreises, Reisebegegnungen, von Fürsorgeeinrichtungen, Werks- und Lernräumen, von medizinischen Geräten, Darstellungen von Versuchen und Messungen abgedruckt und werden in die Analysen einbezogen. Zudem werden unterschiedlich ausführlich Einzelpersönlichkeiten vorgestellt: beispielsweise Caroline Rosalie Laure Edmée Metz-Tesch, Witwe von Emile Metz, einem der führenden Industriellen Luxembourgs, die das Institut Emile Metz gründete; oder Aline Mayrisch de Saint Hubert, Frau des Arbed Direktors Emile Mayrisch, Philanthropin und Intellektuelle, die sich um das öffentliche Gesundheitswesen kümmerte und Führungspositionen beim Roten Kreuz in Luxemburg und der Luxemburger Anti-Tuberkulose-Liga bekleidete. Einzelne Beiträge geben Einblicke in die Industrialisierung anderer Länder, vermitteln dabei einen Eindruck von der wirtschaftlichen und soziokulturellen Position Luxemburgs im Untersuchungszeitraum und von der Verschiedenartigkeit gesellschaftlicher Ausprägung industrieller Entwicklung.

In einem ansprechenden literarischen Stil beschreiben Karin Priem und Frederik Herman in der Einleitung, wie Luxemburg als junge Nation im Maschinen- und Stahlzeitalter einen rasanten Industrialisierungsprozess durchlief und zu einem bedeutenden Katalysator für die nationale Identitätsbildung wurde. Industrielle Kultur-, Sozial- und Psychotechniken im 19./20. Jahrhundert ermöglichten das Eindringen des industriellen Geistes in die Lebenswelten der Arbeiter und ihrer Familien sowie die Vermessung und Ökonomisierung der arbeitenden Subjekte. Diese Erkenntnisse sind in der sozialhistoriographischen Industrialisierungsforschung nicht neu. Entsprechend greifen die einzelnen Beiträge je nach ihrer Perspektive auf einschlägige Studien und Theorien zurück. Das Besondere an diesem Band sind der Fall Luxemburg in seinem internationalen Umfeld, der bislang nicht erschlossene umfassende Fund an Primärquellen als Materialbasis, das Beschreiben der Gleichzeitigkeit von Industrialisierung und sozialer, kultureller, nationaler Identitätsbildung; aber vor allem ist es die Art der Verknüpfung einzelner Aspekte der Industrialisierung, die über deterministische und entfremdungstheoretische Interpretationen hinausgeht.

Beschrieben wird die Verflochtenheit von industrieller Hegemonie mit Sozialkapitalbildung in internationalen, wissenschaftlichen und politischen Netzwerken. Interessant ist der Aspekt des „eclectic philanthrocapitalism“ (Fendler), der im Laufe des Bandes immer wieder belegt wird. Reformideen der Industriellen waren häufig Resultate aus Diskussionen in lokalen, nationalen und globalen Netzwerken, an denen neben den Industriellen Mediziner, Architekten, Künstler, Politiker, Schriftsteller und Pädagogen beteiligt waren. Auch Reisen, die die Industriellen und ihre Familien in unterschiedliche Länder unternahmen, gaben ihnen Impulse für Veränderungen. Die Industriellen waren insofern „eclectic philanthrocapitalists“, als sie es verstanden, widersprüchliche politische und philosophische Strömungen, Ideen und Werte wie sozialistisch-progressive, utopische und traditionalistische, egalitäre, paternalistische und romantische zu verknüpfen, um über solche hybriden Denkstile eine breite Akzeptanz zu erreichen. Diese Denk- und Kommunikationsstrategie und die Nutzung vielfältiger Kommunikationskanäle zu diesem Zweck machte sie zu besonders effizienten Reformern, die politische Entscheidungsträger, Regierungsbeamte und traditionsorientierte Kirchenvertreter übertrumpften.

Gezeigt wird, dass die Kolonisierung und Entpolitisierung nicht nur durch eine Reihe an sozialtechnologischen Instrumenten erfolgten, sondern subtiler noch durch die medial gestützte Kontrolle des Blicks der Massen. Anhand von einzelnen Text- und Bildanalysen wird deutlich, dass bildliche und sprachliche Repräsentationen die Wahrnehmungen von Technik, sozialem und individuellem Körper lenkten, beispielsweise durch besondere Positionierung eines Arbeiters im Umgang mit Technik, oder wenn es heißt, der menschliche Körper sei „Motor oder Fabrik“. Solche Präsentationen eröffneten die Möglichkeit einer neuen Sicht- und Denkweise über die Welt, die Gesellschaft und den Menschen und lieferten Interpretationsschemata für Industrialisierung.

Der Band umfasst drei Hauptteile. Der erste Teil – Modeling Subjectivities – beinhaltet drei Beiträge, die sich mit der visualisierten Formung von Individuum und Gesellschaft im Stahlzeitalter befassen. Analysiert werden die bildliche Bedeutungsgebung und Ästhetisierung von Arbeit sowie die Darstellung sozialer Schicksale. Im nächsten Beitrag wird untersucht, wie und welche Subjektivitäten der Arbeitenden, Unternehmern und von führenden Frauen der Stahlindustrie durch die im IEM gefundenen Glasplatten konstruiert wurden. Ein weiterer Beitrag nimmt die Lesenden mit auf eine Asienreise, bei der Suche nach alternativen Ansätzen zur industriell-kapitalistischen Zivilisation. Thematisiert wird, wie sich die europäische kapitalistische Oberschicht, involviert in Geschäftsbeziehungen und intellektuelle Netzwerke, präsentierte und in dem Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach einem idealisierten und spirituellen Orient und der Desillusionierung gefangen war.

Der zweite Teil – Mapping Bodies und Senses – untersucht, wie das IEM wissenschaftliche Ansätze nutzte, um den Körper der Auszubildenden und ihre psycho-physischen und sensorischen Interaktionen mit der Technosphäre zu testen. Thematisiert werden verschiedene Formen des sensorischen Lernens, die darauf abzielten, Körperwissen und verkörperte berufliche Fähigkeiten zu generieren sowie das emotionale Wohlbefinden und die psychologische Bindung der Arbeiter an die Technosphäre zu optimieren. Herausgearbeitet wird der Aspekt der Intimität zwischen Mensch und Technik.2 In einem anderen Beitrag des zweiten Teils wird gezeigt, wie mechanische Geräte und Werkzeuge eine effiziente und unermüdliche Arbeiterschaft schufen, und wie Körper und Sinne von Arbeitern durch maschinelle Beobachtung kartiert, gemessen und geformt wurden.

Im dritten Teil – Engineering Social Change – geht es um Initiativen und Kampagnen lokaler Industrieller und ihrer Netzwerke zur Kontrolle des Konsumverhaltens und zur Gesundheitserziehung der Arbeitenden. Dargestellt wird, wie Unternehmen im Bereich der Tuberkuloseprävention und -behandlung von pädagogischen Konzepten und dem Gedanken inspiriert waren, einen neuen Bürgersinn der Arbeiterklasse zu schaffen. Zudem wird veranschaulicht, wie die utopischen sozialen Ideen und ökonomischen Rationalitäten von Arbed und das so genannte Luxemburger Modell der korporativen Sozialfürsorge international adaptiert wurden. Im Fokus steht die brasilianischen Stadt Minas Gerais und ihre Sozial- und Bildungsinitiativen als Machttechnologien. Der letzte Beitrag befasst sich aus sozial-ökologischer Perspektive mit der US-amerikanischen Stahlstadt Gary, Indiana, die für progressive Stadtplanung stand, jedoch im Gegensatz zu Luxemburg nach und nach kraftloser wurde.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr gehaltvolles und lesenswertes Buch, dessen Beiträge weniger den Anspruch verfolgen, über die Historiographien neue soziale Theorien zu entwerfen, sondern deren Ertrag vielmehr in der Exploration ganz konkreter industrieller Sozial- und Technosphären, in der Verknüpfung von mehreren Blickwinkeln, in der Gleichsetzung von textlichen und bildlichen Quellen, in der Quellennähe der Beiträge und in der detaillierten Analyse besteht, durch die die Lesenden ein Gespür für die damalige Atmosphäre, das Leben und die Dinge bekommen. Die Lesbarkeit der einzelnen Beiträge auch für nicht historiographisch Forschende wird dadurch begünstigt, dass sich die Autor:innen nicht deduktiv etwa an soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Metatheorien abarbeiten, sondern gefundene Gegenstände detailliert beschreiben, zurückhaltend und vorsichtig interpretieren, die Reichweite ihrer Aussagen reflektieren und Fragen offen lassen. Gleichzeitig sind die Beiträge weit von anekdotischer Historiographie entfernt. Hierzu tragen die Theoriebezüge und Auseinandersetzungen mit vergleichbaren Befunden bei.

Anmerkungen:
1 Vgl. ähnlich Karin Büchter / Martin Kipp (Hrsg.), Berufspädagogisch-historische Medienanalyse. Bilder, Fotos, Zeitschriften und Werkbibliotheken, Oldenburg 2007, http://oops.uni-oldenburg.de/770/1/bueber07.pdf (30.04.2021).
2 Vgl. hierzu auch Martina Heßler (Hrsg.), Technikemotionen. Paderborn 2020.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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