A. Karsten: Italiens Fahrt in die Moderne

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Titel
Italiens Fahrt in die Moderne. Seekriegsführung und Staatsbildung im Kontext des Risorgimento


Autor(en)
Karsten, Arne
Reihe
Krieg und Konflikt 8
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Amerigo Caruso, Historisches Institut, Universität Greifswald

Am 20. Juli 1866 erlitt die italienische Marine vor der kleinen Insel Lissa/Vis in der mittleren Ost-Adria eine bittere Niederlage durch die habsburgische Kriegsflotte. Die Schiffe des 1861 gegründeten Königreichs Italien waren hochmodern und auch zahlenmäßig dem Gegner weit überlegen, sodass mit dem Einsatz der Marine hohe Erwartungen verknüpft waren. Nachdem die Offensive des Heeres in Venetien bereits Ende Juni kläglich gescheitert war, führte das eklatante Versagen der Flotte dazu, dass der sogenannte Dritte Italienische Unabhängigkeitskrieg zu einem vollständigen Debakel in militärischer, politischer und medialer Hinsicht wurde. Denn angesichts der chronischen politischen Instabilität, der Korruptionsskandale und der bürgerkriegsähnlichen Zustände im Süden des Landes war das geeinte Italien umso mehr auf außenpolitisch-militärische Erfolge angewiesen, um seine Fragilität zu verbergen und den Geist des Risorgimentos zu revitalisieren. Hier setzt Arne Karsten mit seiner Studie an und analysiert Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Seeschlacht von Lissa.

Die Arbeit ist in zwei Hauptteile über die (Vor-)Geschichte sowie die Folgen der Schlacht gegliedert und verfolgt eine politik-, militär- und mediengeschichtliche Fragestellung. Ziel ist es, einen Beitrag zur Geschichte von Nations- und Staatsbildung in Italien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu leisten. In der Einleitung setzt sich Karsten mit dem Forschungsstand zum speziellen Thema der Seeschlacht von Lissa detailliert auseinander, fasst die Ergebnisse der neueren Nationalismusforschung zusammen, aber bietet keine methodisch-theoretische Reflektion über die Geschichte von Öffentlichkeit und Medien, die in seiner Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Im ersten Teil werden dann die Hintergründe der Militärdebakel von 1866 ausführlich thematisiert. Karsten zufolge entstand der „Geburtsfehler“ der italienischen Kriegsmarine im Jahr 1860, als während Garibaldis Expedition gegen das Königreich beider Sizilien und später im Rahmen des piemontesischen Einmarsches in Süditalien zum ersten Einsatz der Flotte des zukünftigen Königreichs Italien kam. Karsten vertritt die These, dass die Aktivitäten der Marine, die ähnlich wie 1866 von Carlo Pellion Graf von Persano geleitet wurde, zwar zur Eroberung Süditaliens beitrugen, jedoch schwerwiegende Folgekosten generierten. Denn das Ziel Persanos und der piemontesischen Regierung unter Ministerpräsident Cavour war nicht, gegen die starke Flotte der süditalienischen Bourbonen zu kämpfen. Vielmehr wurde versucht, eine direkte Konfrontation zu vermeiden und durch Bestechungsgelder und Beförderungsversprechungen für die feindlichen Offiziere die Kampfbereitschaft der bourbonischen Marine zu untergraben, was auch großenteils gelang. Die süditalienischen Offiziere, die Fahneneid und Desertion begangen und damit den Ehrenkodex des Militärs verletzt hatten, wurden nach der Gründung des Einheitsstaates in die neue italienische Marine übernommen. Daraufhin entstand eine tiefe Kluft zwischen einer nord- und süditalienischen Fraktion im Offizierskorps. Auch das Doppelspiel, das die Flotte 1860 betrieb, indem sie offiziell gegen Garibaldi agierte, aber seine Freischärler de facto unterstützte, etablierte eine Praxis, wonach Befehle nur zum Schein gegeben wurden. Dies trug zur nachhaltigen Erosion des Befehl-Gehorsam-Prinzips bei.

Obwohl Karsten das Handicap, das bereits 1860 durch die Politik Cavour-Persano für die Entwicklung der italienischen Marine entstanden war, stark betont, liegen die ausschlaggebenden Gründe für die Niederlage von Lissa auch anderswo. Erstens stellte die mangelhafte Ausbildung der Matrosen und Kanoniere die Marine vor eine enorme Herausforderung, die sich im Laufe der 1860er-Jahren noch verschärfte, weil hochmoderne und dementsprechend technisch deutlich komplexere Schiffe gekauft wurden. Zweitens ist die antimeritokratische Beförderungspolitik zu nennen, die dazu führte, dass das Marineministerium und das Offizierskorps von unfähigen, überheblich-machtgewohnten und zudem untereinander zerstrittenen Akteuren dominiert waren. Drittens untergruben auch Versäumnisse auf der Ebene der strategischen Planung die Leistung der italienischen Marine, wie zum Beispiel das Fehlen eines modernen Kriegshafens an der Adriaküste und damit auch einer klaren Strategie im Fall eines erneuten Krieges gegen das Habsburgerreich. Viertens war der Angriff auf die Insel Lissa improvisiert und dilettantisch geführt. Auch über diese Aspekte berichtet Karsten in seiner Studie klar und ausführlich. Dabei handelt sich jedoch nicht um neue Erkenntnisse, sondern vielmehr um Interpretamente, die in der existierenden Literatur bereits ausführlich dargelegt wurden.1

Im zweiten Teil widmet sich Karsten den destabilisierenden Folgen der Schlacht, insbesondere dem aufsehenerregenden Prozess gegen Persano, der katastrophalen Informationspolitik der Regierung und den medialen Kontroversen, die bis zum Ersten Weltkrieg fortgeführt wurden. Auch hier erweist sich Karstens Arbeit als wenig innovativ und dabei eher deskriptiv als analytisch. Dieser Eindruck verschärft sich beim Lesen des zweiten Teils, der im Wesentlich aus langen Zitaten aus der Presse besteht. Diese sind per se nicht uninteressant, wirken jedoch aufgrund ihrer großen Anzahl ermüdend. Das Quellenkorpus besteht fast ausschließlich aus italienischen und deutschen Zeitungen, wohingegen Archivmaterial kaum hinzugezogen wird. Offizielle Dokumente und Briefe werden zwar verwendet, jedoch stammen sie aus älteren italienischen Studien, die der Autor als Quelleneditionen systematisch benutzt (vgl. S. 150–154, 242f., 254f.). Zum Teil werden auch resümierende Passagen und Thesen aus der italienischen Forschungsliteratur entnommen und in deutscher Sprache wiedergegeben (S. 121).

Ein weiterer problematischer Aspekt dieser Studie ist die weitgehend unvollständige Auseinandersetzung mit der aktuellen Risorgimentoforschung, insbesondere mit Arbeiten, welche die kontroverse Entstehung und Vulnerabilität des neugegründeten italienischen Nationalstaates untersuchen.2 Des Weiteren wird die 2016 erschienene Monographie des französischen Militärhistorikers Hubert Heyriès über den Krieg von 1866 in Italien lediglich in einer Fußnote unkommentiert erwähnt, obwohl diese Studie zahlreiche Aspekte fokussiert, die auch im Zentrum der Arbeit von Arne Karsten stehen.3 Auch weitere wichtige Neuerscheinungen, welche die medialen und politischen Debatten im Kontext des Aufbaus moderner Kriegsflotten in Europa vor dem Ersten Weltkrieg untersuchen, bleiben unberücksichtigt.4 Dabei hätten diese Studien eine Gelegenheit gegeben, die hochgespannten Erwartungen und destabilisierenden Enttäuschungsprozesse, die die italienische Marine generierte, landesübergreifend zu vergleichen.

Alles in Allem lässt sich eine zwiespältige, eher negative Bilanz ziehen. Karstens Studie bleibt kleinteilig auf die Geschichte der italienischen Marine in den 1860er-Jahren fokussiert und basiert zudem auf einer wenig innovativen und methodisch-theoretisch nicht stark reflektierten Quellenbasis. Diese Lücken erscheinen um so schwerwiegender, weil es sich hier um eine Habilitationsschrift handelt. Gegen Ende seiner Arbeit thematisiert Karsten die kontroverse Erinnerungskultur nach der Schlacht von Lissa, bietet jedoch keinen Ausblick auf die Entwicklung der italienischen Marine im Zusammenhang mit der kolonialen Expansion ab den 1880er-Jahren oder im Zeitalter der Weltkriege. Trotz aller Kritik ist als positiver Aspekt hervorzuheben, dass diese Arbeit einen partiellen, aber in der rezenten deutschsprachigen Literatur fehlenden Überblick über die Krise des jungen italienischen Nationalstaates gibt.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Hubert Heyriès, Italia 1866. Storia di una guerra perduta e vinta, Bologna 2016, S. 85–107 und 125–134.
2 Vgl. beispielhaft Arianna Arisi Rota, 1869: il Risorgimento alla deriva. Affari e politica nel caso Lobbia, Bologna 2015; Roberto Romani, Sensibilities of the Risorgimento. Reason and Passions in Political Thought, Leiden 2018; Carmine Pinto, La guerra per il Mezzogiorno. Italiani, borbonici e briganti 1860–1870, Rom 2019.
3 Siehe Anm. 1.
4 Vgl. Sebastian Rojek, Versunkene Hoffnungen. Die Deutsche Marine im Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen 1871–1930, Berlin 2017.

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