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Titel
Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914


Autor(en)
Hoffmann, Stefan-Ludwig
Reihe
Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ellen Latzin, Augsburg

Für den französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville war der Zusammenhang zwischen Geselligkeit und Demokratie eindeutig: Ohne die geselligen Vereinigungen, so formulierte er in seinem Klassiker „De la Démocratie en Amérique“ (1835/1840), habe das demokratische Gemeinwesen – dessen Zeitalter er auch in Europa anbrechen sah – keinerlei dauerhafte Grundlage. Allein der Verein könne im Spannungsfeld zwischen vereinzeltem Individuum und sozial engagiertem Bürger als Kitt einer zunehmend heterogenen Gesellschaft wirken.

Ausgehend von Tocquevilles Gedanken über das Vereinswesen, widmet sich Stefan-Ludwig Hoffmann in einer kompakten Überblicksdarstellung dem Begriffspaar Demokratie und Geselligkeit und lenkt so den Blick auf die historische Dimension eines hochaktuellen Themas der politischen Diskussion: die Zivilgesellschaft. Der gut lesbare Band gliedert sich in drei Hauptteile: die chronologische und systematische Darstellung, die einen Bogen von der Spätzeit der Aufklärung ab 1750 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs spannt; zentrale Themen und Fragestellungen der Forschung; sowie eine kommentierte Auswahlbibliografie mit rund 470 Titeln.

Dieses Konzept orientiert sich unverkennbar an den seit vielen Jahren in der Geschichtswissenschaft etablierten Reihen des Oldenbourg Verlags (Grundriß der Geschichte sowie Enzyklopädie deutscher Geschichte). Der innovative Wert der Studie liegt daher nicht in der wohlbekannten Gliederung, sondern im methodischen Ansatz: Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht legt damit den Grundstein für die thematische Reihe „Synthesen“, in der zentrale Probleme der europäischen Geschichte international vergleichend vorgestellt werden. Zugleich erhebt die Reihe den Anspruch, die Trennung von ost- und westeuropäischer Historiografie zu überwinden.

Methodischer Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden ersten Bandes sind die „transnationale Verflechtung“ (S. 16) geselliger Vereine sowie ihre räumliche Ausdehnung bis nach Mittel- und Osteuropa, also in Staaten, die nicht als bürgerliche Gesellschaften verfasst waren und von der Forschung lange nicht beachtet wurden. Der geografische Untersuchungsraum erstreckt sich daher von den klassischen angelsächsischen Vorbildern des Vereinswesen, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, über Frankreich und die deutschen Staaten bis zur Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn sowie nach Russland. Geschickt nimmt Hoffmann die dichotomische Gegenüberstellung von modernem Westen und rückschrittlichem Osten unter die Lupe und verknüpft zentrale Ergebnisse westeuropäischer Untersuchungen mit der neuesten Forschung zu Bürgertum, Öffentlichkeit und Vereinswesen in Mittel- und Osteuropa, zeigt Verflechtungen und Parallelen, aber auch nationale bzw. regionale Unterschiede. Die wichtigste thematische Einschränkung besteht darin, dass sich die Darstellung nur mit den geselligen Assoziationen, nicht jedoch mit politischen Vereinigungen und Parteienbildung, und auch nur am Rande mit der informellen Geselligkeit befasst, etwa in Teestuben oder Kaffeehäusern.

Ausgehend von Ideen der Aufklärung – Tugend, Bildung, Beförderung des Gemeinwohls – nahm das Assoziationswesen in Europa bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen derartigen Aufschwung in Form von Lesegesellschaften, Logen und Sozietäten des Adels und der Gebildeten, dass mit Ulrich im Hof schon lange vom „geselligen Jahrhundert“ zu sprechen ist. Im internationalen Vergleich ist ein quantitatives West-Ost-Gefälle nicht zu übersehen. Andererseits unterlagen die geselligen Vereine in Mittel- und Osteuropa einer wesentlich stärkeren staatlichen Kontrolle, die in Westeuropa erst mit der zunehmenden Politisierung der Aufklärung gegen Ende des Jahrhunderts Realität wurde.

Das „goldene Zeitalter“ (S. 35) des Vereinswesens im Vormärz knüpfte organisatorisch und personell zunächst an die Geselligkeit der Aufklärung an, auch wenn sich nun in erster Linie die aufstrebenden bürgerlichen Schichten organisierten. Allerdings dienten die Vereine in ihrem erzieherisch-moralischen Anspruch zunehmend nicht mehr nur der Verbesserung der eigenen Person, sondern wirkten auch nach außen, etwa in den zahllosen Reformvereinen zur Abschaffung von sozialen Missständen wie Prostitution, Alkoholismus, Armut oder Sklaverei, die sich von Westen aus über die nationalen Grenzen hinweg langfristig bis nach Russland ausbreiteten. Die Bürger organisierten sich zunehmend in einem engmaschigen Netz geselliger Vereine, auch in Gegenden, die erst jüngst ins Blickfeld der Forschung rückten, etwa in der französischen Provinz. Allerdings macht Hoffmann deutlich, dass die These von der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Lothar Gall) im Vereinswesen des Vormärz eher als zeitgenössisches liberales Ideal denn als Realität zu verstehen ist: Neuere Lokalstudien bestätigen durchgehend das internationale Phänomen eines nach innen egalitären, nach außen jedoch sozial exklusiven Vereinswesens, das etwa Frauen, andere Konfessionen oder Schwarze radikal von der Mitgliedschaft ausschloss, trotz Vereinsnamen wie „Harmonie“, „Freiheit“ oder „Eintracht“. Auch dieser Befund ist jedoch regional zu differenzieren: die ungarischen Provinzvereine waren beispielsweise weit weniger exklusiv und ließen mitunter Frauen, Juden oder Handwerker als Mitglieder zu.

Entgegen der verbreiteten These vom Niedergang des Vereinswesens nach 1860 betont Hoffmann, die „Vereinigungswut“ (S. 56) habe erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht – und das nicht nur im vereinigungsfreudigen Westeuropa. So existierten in der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie um 1870 rund 8000 gesellige Vereine, bis 1910 stieg ihre Zahl auf über 103.000 an; in Russland entstanden allein zwischen 1906 und 1909 schätzungsweise 4800 neue Vereine. Zugleich vollzog sich in diesem Zeitraum die „soziale Demokratisierung“ (S. 86) des Vereinswesens: Angesichts der sozialen Exklusivität der bürgerlichen Vereine organisierten sich untere Mittelschichten, Arbeiter, Frauen oder Sozialisten in neuen Vereinstypen mit ganz eigenen Vorstellungen von Geselligkeit. Parallel zur Genese der kommerziellen Massenkultur kamen neue Vereinigungsinteressen auf, etwa Sport und andere Freizeitaktivitäten. Vereine stiegen zum Massenphänomen auf, so dass Max Weber 1910 spitz bemerkte: „Man muß ja glauben: das ist nicht mehr zu überbieten, seitdem sich auch ‚Vereins-Enthebungs-Organisationen gebildet haben“ (S. 92).

Auch die zunehmende Nationalisierung und Ethnisierung der Vereine trug wesentlich zum Vereinsboom am Ende des Jahrhunderts bei, was bereits in Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“ literarischen Niederschlag fand: „Die Völker gehen nicht mehr in die Kirche. Sie gehen in nationale Vereine“ (S. 77). Die jüngere historische Forschung hat jedoch gezeigt, dass der Umgang mit dem Nationalismus durchaus vielfältiger Natur war: der Preßburger Gesangsverein versuchte etwa 1902 den ethnisch-politischen Spannungen zu widerstehen und blieb ausdrücklich zweisprachig. Auch anderswo – insbesondere im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn – gab es erfolgreiche Versuche, im Verein an mehrfachen Loyalitäten festzuhalten.

Wie ist Tocquevilles eingangs erwähnte These zu bewerten? Hoffmann arbeitet durchgehend präzise heraus, wie das gesellige Vereinswesen trotz seiner vermeintlich unpolitischen Motivation als „Schule der Demokratie“ (S. 18) eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entstehung der kontinentaleuropäischen Demokratien spielte. Im Kleinen machten (mehrheitlich) Männer seit der Aufklärung erste Erfahrungen mit einem soziale und konfessionelle Grenzen oftmals überschreitenden Miteinander, mit demokratischen Praktiken und Verhaltensmustern – und das in mehr oder weniger ausgeprägter Form in weiten Teilen Europas, wie die Fülle neuerer Lokal- und mikrohistorischer Studien beweist. Allerdings besaß die im Liberalismus gepflegte Geselligkeit auch eine „elitäre Kehrseite“ (S. 103), die lange Zeit zur Exklusion weiter Teile der Gesellschaft führte, schließlich eine heterogene Vielfalt von Vereinigungen nach sich zog und in die großen Massenorganisationen und Interessenverbände mündete. Die von Tocqueville postulierte Zwangsläufigkeit von Demokratie und Geselligkeit müsse daher, so bilanziert Hoffmann den Forschungsstand, immer am Einzelfall überprüft werden (S. 97).

Der transnationale Anspruch des Bandes wird auch in der nach Ländern gegliederten Bibliographie eingelöst, wobei allerdings auch die bislang bestehenden Forschungsdefizite zu Mittel- und Osteuropa sehr deutlich werden, gerade im Vergleich mit den langjährigen Forschungserträgen aus dem angelsächsischen Raum. Eine besondere Dynamik hat die Forschung insgesamt durch eine Fülle neuerer Lokalstudien erhalten, die einen Großteil des Literaturverzeichnisses ausmachen. Auf ein großes Manko der Darstellung, die sich vor allem an Studierende der Geschichtswissenschaft wendet, sei jedoch in diesem Zusammenhang hingewiesen: die Bibliografie umfasst keinerlei Quelleneditionen.

Auf einer 144-seitigen Überblicksdarstellung bleiben Details naturgemäß auf der Strecke. Auch kommen diejenigen Vereinigungen zu kurz, die sich zwar der Vereinsstrukturen bedienten, jedoch von äußerster Radikalität oder gar Feindschaft zur Demokratie geprägt waren, etwa die Illuminaten oder der Ku Klux Klan. Dennoch gelingt es Hoffmann, auf knappstem Raum ein facettenreiches, differenziertes Bild des Assoziationswesens in den Vereinigten Staaten und Europa sowie der aktuellen Forschungstendenzen zu zeichnen. Gerade der methodische Ansatz der Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte verlässt ausgetretene Pfade der älteren Forschung und weitet die Perspektive.