Titel
Reichskanzler von Bülow. Architekt der deutschen Weltpolitik


Autor(en)
Fesser, Gerd
Erschienen
Leipzig 2003: Militzke Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Obst, Wuppertal

Obwohl er von 1897 bis 1909 zuerst als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, ab 1900 dann als Reichskanzler die deutsche Politik an leitender Stelle (mit-)gestaltete, ist Bernhard von Bülow von der Geschichtswissenschaft lange vernachlässigt worden. Zwar hat man ihn schon in der Zwischenkriegszeit als einen Wegbereiter des Ersten Weltkriegs und angesichts seines Byzantinismus als "typischen Wilhelministen" identifiziert, aber erst 1991 legte Gerd Fesser die erste Biografie Bülows mit wissenschaftlichem Anspruch vor. 1 Wer allerdings darin wie Lothar Machtan "eine Art Prolegomena zu der bis heute nicht geschriebenen ›großen‹ Bülow-Biografie2 sah, wird von der jetzt unter leicht verändertem Titel erschienenen überarbeiteten und erweiterten Neuauflage enttäuscht. Über weite Strecken beschränkt sich diese "Überarbeitung und Erweiterung" nämlich auf die – zudem nicht konsequent gehandhabte – Ergänzung von Fußnoten mit biografischen Angaben zu Personen oder weiterführender Literatur. Manches wird anders nuanciert, manches ergänzt, aber wesentlich neue Erkenntnisse finden sich nicht.

Ist damit der Gewinn der Neuauflage eher niedrig einzuschätzen, so ist dennoch sehr begrüßenswert, dass diese lange Zeit nicht mehr lieferbare Biografie Bülows jetzt wieder vorliegt. Sie beruht auf profunder Kenntnis der Archivquellen, insbesondere des Nachlasses Bülows selbst. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt naturgemäß auf den Jahren seiner Reichskanzlerschaft, aber auch die Sozialisation des jungen Bülow, seine Beteiligung am deutsch-französischen Krieg, die Herausbildung seiner politischen Anschauungen, seine ersten Bewährungsproben auf diplomatischem Gebiet als Vertreter des Deutschen Reiches in Bukarest und Rom, sowie die Zeit nach seiner Entlassung als Reichskanzler, seine Bemühungen um eine Rückkehr ins Amt und seine Stellung gegenüber der Revolution und der Weimarer Republik werden im Rahmen der insgesamt recht knappen Studie, die sich auch an einen nichtakademischen Leserkreis wendet, angemessen dargestellt.

Innerhalb der Jahre von Bülows Wirken an höchster Stelle steht die Außenpolitik, die ja auch die Domäne des gelernten Diplomaten Bülow war, im Mittelpunkt, so dass sich die entsprechenden Kapitel auch wie eine Einführung in die deutsche Außenpolitik zwischen 1895 und 1909 lesen. Hat Bülow die "Weltpolitik" auch nicht erfunden, so wurde er doch zu einem ihrer einflussreichsten Wortführer und Propagandisten: Die Formel vom "Platz an der Sonne" aus seiner ersten Reichstagsrede vom 6. Dezember 1897 steht sinnbildlich für diese expansive Politik, die für das Deutsche Reich ein Mitspracherecht in allen weltpolitischen Fragen einforderte. Abgesehen von diesem Anspruch setzte Bülow faktisch die Freihandpolitik seiner Vorgänger fort, die unter Ausnutzung des weltpolitischen Gegensatzes zwischen Großbritannien und Russland Erwerbungen für das Deutsche Reich anstrebte. Bülows Politik zwischen den beiden Flügelmächten war jedoch nur scheinbar neutral. Tatsächlich hatte sie eine deutliche antibritische und prorussische Tendenz. Bülow war gegenüber England stark voreingenommen und sah in der arrivierten Weltmacht den eifersüchtigen Hüter ihrer Stellung, der ein angemessener deutscher Einfluss in der Welt abgetrotzt werden müsse. Die verheerende Wirkung des Flottenbaus erkannte Bülow ebenso wenig rechtzeitig wie Tirpitz oder Holstein, geschweige denn Wilhelm II. Innenpolitisch verfolgte Bülow eine ambitionierte Sammlungspolitik, die über den Appell an einen mit imperialistischen Elementen durchsetzten Nationalismus und durch Schürung der Furcht vor dem Sozialismus alle Parteien außer der SPD zu einer Zusammenarbeit mit der Regierung bewegen sollte. Nach den Reichstagswahlen von 1907 gelang es ihm tatsächlich, den – allerdings kurzlebigen – Bülow-Block zu formieren, der von den Konservativen bis zu den Linksliberalen reichte. Richtungsweisend wurde die geschickte und umfangreiche Pressepolitik Bülows, sowie das Auftreten des Reichskanzlers als Redner, der virtuos populistisch an die Interessen und Empfindungen der Abgeordneten und der dahinterstehenden gesellschaftlichen Kräfte appellierte. Doch die weltpolitischen Visionen Bülows wendeten sich gegen ihren Vertreter, als die erhofften Erfolge ausblieben. Der Kanzler sah sich zunehmend der Kritik der nationalistischen Verbände ausgesetzt. "Ganz allmählich wurde der Treiber Bülow so zu einem Getriebenen." (S. 192)

Seine langjährige starke Position als Reichskanzler verdankte Bülow nicht zuletzt dem Vertrauen, das ihm Wilhelm II., der von ihm als "seinem Bismarck" sprach, durch mehr als ein Jahrzehnt entgegenbrachte. Schon der aufstrebende Diplomat hatte den Monarchen sehr sorgfältig beobachtet und stellte die Präsentation seiner Politik als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und als Reichskanzler ganz auf die Person des Kaisers ein: "Wie kein anderer Reichskanzler vor und nach ihm verstand Bülow es in den ersten Jahren seiner Amtszeit, Wilhelm II. durch eine Kombination von Schmeichelei und vorsichtiger Beharrlichkeit weitgehend zu lenken." (S. 191) Fesser verfolgt die langsame Entfremdung zwischen dem Reichskanzler und dem Monarchen, die über die Krisen um den Björkövertrag und die Entlassung Podbielskis, den Vertrauensverlust wegen des Misserfolgs der Algeciras-Konferenz und der drohenden Einkreisung bis zum Bruch während der "Daily Telegraph"-Affäre führte. Beispielhaft wird hier die Bedeutung der persönlichen Beziehung zwischen Kanzler und Monarch für die Geschichte des Zweiten Deutschen Kaiserreiches unter Wilhelm II. vorgeführt. Angesichts der Machtfülle des Staatsoberhauptes, seines Strebens nach einem "persönlichen Regiment" und seines komplizierten Charakters waren ein gutes Einvernehmen mit dem Kaiser und seine permanente Beeinflussung und Steuerung für die verantwortlichen Leiter der Politik eine zwingende Notwendigkeit.

Bei dem Balanceakt zwischen Anschaulichkeit und Lebendigkeit einerseits und Wissenschaftlichkeit und Analyse andererseits neigt die Darstellung bisweilen zur Vereinfachung. Dazu nur ein Beispiel: Zur Affäre um den Björkövertrag konstatiert Fesser lediglich, dass sich Bülow und Wilhelm II. "ihre Komödie von Rücktrittsgesuch und Selbstmorddrohung [hätten] sparen können", da das Bündnis von russischer Seite ohnehin nicht ratifiziert wurde (S. 112). Die Motive Bülows für seinen Konfrontationskurs gegenüber dem Monarchen in dieser Angelegenheit werden nur beiläufig gestreift. Dabei handelte es sich immerhin um einen der wenigen Fälle, in denen der Reichskanzler das persönliche Verhältnis zum Kaiser aufs Spiel setzte, dessen sorgfältige Pflege er sonst als unabdingbar für seine Stellung betrachtete. Auch auf eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur verzichtet Fesser weitgehend. Lediglich die These Peter Winzens wird knapp zurückgewiesen, Bülow habe seit seinem Antritt des Staatssekretariats konsequent ein "Weltmachtkonzept" verfolgt 3, das vorsah, bei einem als unvermeidlich angesehenen russisch-englischen Krieg gegen Großbritannien einzutreten und die englische Weltherrschaft aus den Angeln zu heben (S. 76f.).

Peter Winzen hat in einer Rezension der Erstauflage Fesser "Apologie und Verharmlosung der insgesamt doch außerordentlich verhängnisvollen Rolle Bülows" vorgeworfen. 4 Diese Einschätzung vermag der Rezensent weder bezüglich der Erstausgabe noch bezüglich der Neuauflage zu teilen: Zwar stützt sich die Darstellung in untergeordneten Details bisweilen auf die als Quelle nur bedingt tauglichen, die Vorgänge oft entstellenden "Denkwürdigkeiten" des Fürsten. Auch hätte z. B. Bülows fragwürdige Strategie, sich durch widersprüchliche Zusagen an die Oberste Heeresleitung, an alle Parteien und gesellschaftlichen Kräfte im Weltkrieg noch einmal den Weg ins Reichskanzleramt zu bahnen, eine kritischere Bewertung verdient. Aber insgesamt benennt Fesser die gewaltigen Defizite der Bülowschen Politik unzweideutig: Seinem Nachfolger Bethmann Hollweg hinterließ er eine latente innenpolitische Krise. Bülows auf Expansion und Hochrüstung, zeitweise auch auf Konfrontation ausgerichtete Außenpolitik verschlechterte die politischen Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten und endete in der Isolierung Deutschlands (S. 139f., 191); seine Handhabung der Bosnischen Annexionskrise verschärfte den deutsch-russischen sowie den österreichisch-serbischen Gegensatz, entfremdete Italien dem Dreibund, festigte die Tripelentente und prägte damit wesentlich die politische Ausgangssituation vom Juli 1914. Fesser zählt daher Bülow zu Recht neben Wilhelm II., Tirpitz und Bethmann Hollweg "zu jenen Exponenten des deutschen Kaiserreiches, welche im weiteren Sinne eine Hauptverantwortung für die Katastrophe der Jahre 1914 bis 1918 tragen" (S. 193). Und auch die menschlichen Schattenseiten Bülows – sein Hang zur Intrige, seine Selbstgerechtigkeit, seine Oberflächlichkeit – werden nicht verschwiegen. Gegenüber der Dämonisierung des vierten Reichskanzlers, die sich vor allem an den "Denkwürdigkeiten" entzündete, bewahrt Fesser jedoch Distanz und grenzt sich damit deutlich gegen die ebenfalls dieses Jahr erschienene Biografie Bülows von Peter Winzen ab. 5 Er betont, dass sich die Empörung nicht nur dagegen richtete, dass der Exkanzler in seinen "Denkwürdigkeiten" sich allzu selbstgefällig darstellte, ihm ungünstige Sachverhalte unbekümmert verdrehte und etliche seiner Zeitgenossen genüsslich boshaft schilderte. Vielmehr wurde Bülow auch deshalb verdammt und seine Person verächtlich gemacht, weil er in seinen Memoiren zahlreiche peinliche und entlarvende Seitenblicke auf die "bessere Gesellschaft" und die politische Kultur des untergegangenen Kaiserreiches gewagt hatte.

Anmerkungen:
1 Fesser, Gerd, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Eine Biographie, Berlin 1991.
2 Lothar Machtans Rez. zu: Fesser, Gerd, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow, in: ZfG 41 (1993), S. 252–254, Zitat S. 253.
3 Vgl. Winzen, Peter, Bülows Weltmachtkonzept. Untersuchungen zur Frühphase seiner Außenpolitik 1897–1901 (Schriften des Bundesarchivs 22), Boppard 1977.
4 Peter Winzens Rez. zu: Fesser, Gerd, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow, in: HZ 258 (1994), S. 234–235, Zitat S. 235.
5 Winzen, Peter, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Weltmachtstratege ohne Fortune – Wegbereiter der großen Katastrophe (Persönlichkeit und Geschichte 163), Göttingen 2003.

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