P. Fridenson u.a. (Hgg.): La France et le temps de travail (1814-2004)

Cover
Titel
La France et le temps de travail (1814-2004).


Herausgeber
Fridenson, Patrick; Reynaud, Bénédicte
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 23,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Hartmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Es klingt so, als sei es das Ende einer schönen, langen Erfolgsgeschichte. Das Prinzip der linearen Entwicklung steigender Produktivität und damit einhergehender degressiver Arbeitsbelastung für den Einzelnen bei gleich bleibender oder steigender Bezahlung wird dieser Tage von Politikern, Unternehmerverbänden und nicht zuletzt den Gewerkschaften zu Grabe getragen und damit ein tragender Erfolgsmythos der Industrialisierung untergraben. Und nicht nur in Deutschland werden die revisionistischen Phantasien vieler Verantwortlicher in Wirtschaft und Politik von der Wiedereinführung von 42, 45 oder gar 50-Stunden Wochen beflügelt. Seit den Unruhen vor einem Jahr weiß auch Frankreich, auf wie wackeligen Füßen das 35-Stunden-Gesetz von Martine Aubry von 1997 steht. Die Fronten zwischen den verschiedenen Verhandlungspartner verhärten sich seit längerer Zeit zusehends. Unendlich weit entfernt scheinen die Phantasien von Paul Lafargue nach einer Begrenzung menschlicher Arbeit auf maximal drei Stunden täglich oder die vermeintlich wissenschaftlichere Analyse von Keynes, der für das Jahr 2030 eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vorher sagte.

Es ist dieser Kontext, der das französische Wissenschaftlerteam um den Historiker Patrick Fridenson und die Ökonomin Bénédicte Reynaud zu einer Erforschung der französischen Geschichte der Arbeitszeit in den letzten 200 Jahren anregte. Die Gruppe setzt sich aus sechs Wirtschaftswissenschaftlern, zwei Historikern und einer Soziologin zusammen, eine Kombination, die genügend Kompetenz auf sich versammelt, um einen interessanten, chronologisch und thematisch geschlossenen Blick auf die Arbeitszeit in Frankreich zwischen 1814 und 2004 zu werfen. Um es vorwegzunehmen: Die Gruppe schafft es mit ihrem Buch die erstaunliche Forschungslücke der Geschichte der Arbeitszeit zumindest in ihrem Land zu einem guten Teil zu schließen. Bisherige Vorarbeiten dürfen mit diesem Werk als überholt bewertet werden.1 Dem Bestreben der Herausgeber nach einer umfassenden Analyse des Zusammenspiels sozialer Kräfte in der Konstruktion von Normen und dem gleichzeitigen Anspruch, den internationalen Rahmen nie aus dem Blick zu verlieren, um die „exception francaise“ (S. 9) zu relativieren, können die Beiträge weitgehend gerecht werden. Gleichzeitig versteht sich das Buch als wissenschaftlicher Beitrag zu einer aktuellen Diskussion in Frankreich, ein Anspruch, den es schon durch seine ungewöhnliche Periodisierung hervorhebt (1814-2004, und dass obwohl sicherlich alle Beträge noch 2003 abgeschlossen wurden).

Der originellen und interdisziplinären Herangehensweise entspricht es, dass es eben nicht Historiker sind, die im ersten Beitrag ihren Blick am weitesten in das 19. Jahrhundert zurückschweifen lassen, sondern zwei Ökonomen. Jérôme Bourdieu und Bénédicte Reynaud entfernen sich in ihrer Analyse dabei nicht weit von Foucault, wenn sie über das 19. Jahrhundert eine kontinuierliche Unterminierung des Handlungsspielraums der Arbeiter durch die betriebliche Disziplinierung beobachten und als Folge daraus zunächst den Arbeitern eine marginale potentielle Verhandlungsposition u.a. in den Aushandlungen von Arbeitszeiten attestieren. Durch die komplexe Gemengelage von unterschiedlichen Interessenbewegungen im 19. Jahrhundert, sowohl auf diskursiver, als auch auf praktischer Ebene, entwickelten sich erst allmählich Argumente, wie das der Notwendigkeit von Regenerationsphasen für menschliche Arbeit und damit die Integration von Freizeit in eine ökonomisch-rationale Logik. Die Autoren machen hierbei durchaus auch die Querverbindungen zu anderen diskursiven Strängen, wie der öffentlichen Hygiene- oder Moralvorstellung deutlich, die einen bestimmten Druck auf die Arbeiter ausgeübt haben und unterstreichen die Rolle von Wohlfahrtsstaat und Gesundheitssystem in diesem Zusammenhang.

Doch auch die Geschichte der Verkürzung der Arbeitszeit war nicht linear, wie es uns der Blick in einige Zeitungen heute glauben machen will. Stattdessen, so unterstreicht Patrick Fridenson in seinem Beitrag immer wieder, war diese Entwicklung geprägt von unterschiedlichsten divergierenden Interessen und situativen Verhandlungslogiken, die diese Geschichte von historischen Pfaden abhängig macht (S. 70ff.). Gleichzeitig bettet er diese Entwicklungen immer wieder in einen internationalen Kontext ein, in dem die französischen Interessen weder singulär noch in ihrer Entwicklung unabhängig waren. Aus dem Beispiel der Verhandlungen und Arbeitskämpfe zwischen 1814 und 1932 liest er immer wieder die Dysfunktionalitäten, die aus den divergierenden Interessen selbst nach der gesetzgeberischen Umsetzung resultierten. An Hand mehrerer Beispiele aus der Zwischenkriegszeit zeigt er überzeugend die Pertinenz einmal ins Spiel gebrachter Forderungen und die Dynamik, die solche Bestrebungen entwickelten und die Tatsache, dass unvermittelt oder in direktem Konkurrenzverhältnis verschiedenste Forderungen nebeneinander stehen konnten.

Eine besondere Illustration dieser Feststellung bietet der Beitrag von Alain Chatriot, in dem er die Entwicklung hin zu der 40-Stunden-Gesetzgebung im Jahre 1938 darstellt. Dieses Gesetz, eines der emphatischsten Projekte der Volksfrontregierung von Léon Blum, war unter diesen besonderen nationalen wie internationalen, politischen Umständen erst Recht auf Aushandlungsprozesse angewiesen, die nicht alleine in Regierungskreisen gemacht werden konnten. Zunächst hebt er hierbei die Rolle von Medien, aber auch internationalen Akteuren, wie dem Internationalen Büro für Arbeit in Genf hervor. Als zentralen Ort dieser Prozesse macht Chatriot anschließend den Conseil national économique aus, in dem die unterschiedlichen nationalen Akteure eine Möglichkeit fanden miteinander ins Gespräch zu kommen und so ihre Interessen zu koordinieren.

Könnte man den Beiträgen bis hierhin den Vorwurf machen, die praktische Umsetzung in den Unternehmen aus dem Blick gelassen zu haben, so schließt Eric Pezet diese Lücke, wenn auch erst für die Epoche zwischen 1940 und den 1970er-Jahren. Mit reichhaltigem Datenmaterial zeigt er, dass die effektive Arbeitszeit in Frankreich bis in die1970er-Jahre niemals auf die angestrebten 40 Stunden abgesunken ist, sondern die zahlreichen Ausnahmen die gemachten Beschlüsse wesentlich relativierten. Alle Ambiguitäten der Verhandlungsführungen finden sich dabei in dem Conseil économique et social wieder (S. 123f.). Schon früh erlangten Übereinkünfte in einzelnen Unternehmen, wie Renault 1955 eine wesentliche Bedeutung (S. 125), die allerdings damals einen progressiven Charakter hatten und somit nur begrenzt mit den traurigen Gegenstücken bei DaimlerChrysler oder Siemens in der aktuellen Situation vergleichbar sind.

Doch diese Entwicklung einer Verbesserung der Arbeitssituation unterlag natürlich einem grundlegenden Paradigmenwechsel mit dem tendenziellen Krisenbewusstsein, dass sich in den westlichen Gesellschaften ab den 1970er-Jahren entwickelte. Jacques Freyssinet stellt dabei fest, dass die Aktivitäten auf dem Feld der Arbeitszeit „eine Komponente der Arbeitspolitik und der Wettbewerbspolitik werden“ (S. 133), mithin die Eingliederung einer sozialen Frage in einen wirtschaftlichen Kontext stattfand. Mit der Abnahme der Vollarbeitsstellen und der tendenziellen Diversifizierung des Kataloges nachgefragter Arbeitsverhältnis ging die tendenzielle Gesamtregulierung von Lebenszeit einher. Der Teilzeitbeschäftigte wurde zukünftig vielmehr in den Maßstäben von Zeitersparnis gesehen und somit die nicht gearbeitete Zeit implizit in ein ökonomisches Kalkül miteinbezogen.

Eine weitere Illustration der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aushandlungsprozesse in diesen Phasen der Arbeitszeitverkürzung bietet die sich an den Regierungswechsel von 1997 von Konservativen zu Sozialisten anschließende Gesetzgebung. Philippe Askenazy, Cathérine Bloch-London und Muriel Roger richten damit ihren Blick auf das aktuellste Kapitel des Buches, das auch in seinen politischen Implikationen recht weit geht. Deutlich wird in ihrer Darstellung die keynesianistische Logik, die hinter dem Projekt der Loi-Aubry stand. Die Verkürzung der Arbeitszeit, so das Gesetz, sollte mit massiven staatlichen Hilfen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verbunden sein. Was staatliche und politische Entschlossenheit durchaus hätten befördern sollen, wurde blockiert durch die strukturelle Schwäche der Verhandlungspartner, insbesondere der Gewerkschaften, die nie eine wirkliche Absicherung der gemachten Verträge sicherstellen konnte. Die Unternehmer jedenfalls, so das Fazit der drei Autoren, hätten auch in Zukunft sicher kein Interesse, die einmal erreichte Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen wieder in Frage zu stellen und das ungeachtet aller strukturellen Schwächen dieses Gesetzes.

Sowohl der historische Beitrag zu einer aktuellen Diskussion, als auch der interdisziplinäre Ansatz zeitigen im vorgelegten Buch wertvolle Ergebnisse, und wohl selten hat das Erscheinen eines solchen historischen Buches so eingeleuchtet, wie bei diesem. Umso stärker stellt sich die fast klassische Frage, die sich Rezensenten am Ende der Lektüre eines fremdsprachigen Buches stellen: Warum gibt es ähnliches nicht für Deutschland? Gerade in der aktuellen politischen Situation sollten Historiker sich über das Potential ihrer Analysen in der politischen Debatte klar werden. Doch es ist nicht der einzige Wunsch, der bei der Lektüre eines solchen Buches offen bleibt. Schreibt man eine Geschichte der Arbeitszeit, so sollte man sich über das Gegenteil klar sein, über die Frage nach der Freizeit.2 Unter welchen Umständen trennte man die Arbeit von der Freizeit, wer waren Profiteure eines solchen Prozesses? Ist es heute noch möglich, Freizeit als etwas anderes als die notwendige und institutionalisierte Erholung von Arbeit aufzufassen? Die Geschichte der Arbeit sollte die Geschichte der Freizeit herausfordern.

Anmerkungen:
1 So Guedj, Francois; Vindt, Gérard, Le temps de travail. Une histoire conflictuelle, Paris 1997.
2 Angedacht, aber nicht ausformuliert sind solche Überlegungen in: Blanchard, Ian (Hg.), Labour and Leisure in Historical Perspective. Thirteenth to Twentieth centuries, Stuttgart 1994.

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