S. Rau u.a. (Hgg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne

Cover
Titel
Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Rau, Susanne; Schwerhoff, Gerd
Reihe
Norm und Struktur 21
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rebekka von Mallinckrodt, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Angesichts der inzwischen zahllosen Publikationen zur vormodernen Öffentlichkeit stimmt ein weiteres Buch zum Thema erst einmal skeptisch. Die von Susanne Rau und Gerd Schwerhoff herausgegebenen Beiträge, die den Ertrag einer Dresdener Tagung vom Dezember 2001 darbieten, stellen jedoch qualitativ eine wirkliche Bereicherung der Forschungsdiskussion dar. Das liegt zunächst einmal am gleichermaßen konzisen wie über den Einzelfall hinausstrebenden Ansatz. Öffentlichkeit wird hier auf spezifische Räume bezogen und kann so am Fallbeispiel bzw. anhand von Raumtypen sehr präzise herausgearbeitet werden. Zugleich werden Räume aber nicht als gegebene, geografische bzw. materielle Größen angenommen, sondern als soziale Konstruktionen untersucht. Anregung hierfür gaben die Arbeiten der Soziologin Martina Löw 1, die selbst ein Schlusswort zu den einzelnen Untersuchungen beisteuert. Räume sind daher weder einfach Bühnen noch Rahmen, sondern selbst Objekt sozialen Handelns (S. 22f.). Dabei konzentrieren sich die Beiträge mit Rathaus und Marktplatz (Teil 3), Wirtshaus (Teil 1) und Kirchenraum (Teil 4) auf die zentralen Orte der vormodernen Gemeinde. Eine vierte Gruppe von Aufsätzen nimmt mit den Stadträumen eine erweitere Perspektive ein und gibt dabei zugleich einen Ausblick auf das von den Initiatoren angestrebte Programm: „Fernziel einer Analyse hätte zu sein, die zunächst isoliert voneinander betrachteten öffentlichen Räume in ihrer Vernetzung untereinander zu betrachten und so die frühneuzeitliche Stadt als Kommunikationsraum insgesamt in den Blick zu nehmen.“ (S. 47) Dies kann freilich ebenso wie die in Aussicht gestellte Untersuchung weiterer Plätze wie Brunnen, Mühlen, Spinnstuben und Gericht nicht alles in einem Sammelband geschehen. Die vorgenommene Selbstbeschränkung führt vielmehr, selbst wenn sich nicht alle Autoren gleichermaßen streng an das Konzept halten, zu einer erfreulichen Kohärenz der Sammlung und zu Synergieeffekten, die andere Tagungsbände häufiger vermissen lassen.

So gibt B. Ann Tlusty in der Sektion über Wirtshäuser zunächst einen Überblick über die je nach Zeit und Raum variable öffentliche bzw. private Nutzung von Wirtshäusern in der deutschen Stadt des 16. und 17. Jahrhunderts. An den Konfliktlinien zwischen den privaten Rechten des Hausbesitzers einerseits und der aus dem Mittelalter überkommenen Tradition der Gastfreundschaft andererseits bzw. dem Wirtshaus als Schauplatz illegaler Aktivitäten auf der einen und Versuchen, den Wirt als verlängerten Arm der Obrigkeit zu instrumentalisieren, auf der anderen Seite lassen sich vielfältige Erkenntnisse für die Frühe Neuzeit gewinnen. Die variable Nutzung „öffentlicher“ und „privater“ Räume lässt aber nicht darauf schließen, dass es diese Unterscheidung nicht gab, noch dass sie willkürlich gehandhabt wurde. Vielmehr verdeutlichen Prozessakten, dass in der Regel alle Beteiligten mit den Grenzlinien vertraut waren. Beat Kümin konzentriert sich in seinem Beitrag anhand zweier Fallstudien aus der reformierten Stadtrepublik Bern und dem katholischen Herzogtum bzw. Kurfürstentum Bayern auf das Verhältnis von Wirtshaus und Obrigkeit. In zwei Teilen behandelt er zunächst Formen der politischen Instrumentalisierung sowie die politische Auseinandersetzung um Zahl und Funktion gastgewerblicher Einrichtungen. Seine Schlussfolgerung, dass „Hochburgen der Gemeindehoheit wie das eidgenössische Bern […] Städten, Dörfern und Tälern weitergehende Gestaltungsmöglichkeiten [erlaubten] als adelig-monarchisch geprägte Territorien wie Bayern“ (S. 96), überrascht so erst einmal nicht. Am faszinierendsten sind deshalb in den jeweiligen Sektionen die Beiträge, die sich einem konkreten Fallbeispiel widmen und daraus ihre Schlussfolgerungen entwickeln, wie Barbara Krug-Richter, die sich in derselben Sektion dem Reihebraurecht in der Herrschaft Canstein widmet. Ausschank und Beherbergung waren hier nicht einem bestimmten Ort zugewiesen, sondern gingen in den Dörfern reihum, so dass sich die Privathäuser für eine bestimmte Periode in Wirtshäuser verwandelten. Frauen oblag nicht nur der Ausschank des Bieres, sie waren dort auch häufiger als in den professionellen Gasthäusern anzutreffen. Das Verhalten der Gäste bei innerfamiliären Auseinandersetzungen zeigt, dass selbst zu Zeiten des Ausschankes, in denen alle Räume des Hauses einbezogen wurden, konventionelle Vorstellungen von „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ weiterwirkten. Zugleich veränderte der Schankbetrieb die Privatsphäre: „Wer regelmäßig sein Bier in der Stube des Nachbarn trank, hatte auch außerhalb der offiziellen Schankzeiten offensichtlich wenig Hemmungen, die Schwellen desselben Hauses zu übertreten, und sei es auch „nur“, um einen Konflikt zu schlichten. Der reihum gehende Ausschank von Bier und Branntwein […] verlagerte die Grenzen zur „Privatsphäre“ in den Innenbereich der Häuser. Stube und Diele blieben auch jenseits der Wirtshauszeiten zumindest halböffentliche Räume.“ (S. 115) In dieser präzisen Darstellung von Übergängen, Überlappungen, Ambivalenzen und Aushandlungsprozessen bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Konventionen, die über den Einzelfall hinausweisen und damit besonders das Forschungsinteresse des Dresdener SFBs an Institutionalität verdeutlichen, liegt die Stärke des Konzepts und der Beiträge, die sich eng daran anschließen. Denn, wie Uwe Dörk in dem unmittelbar darauf folgenden Beitrag über den „Strukturwandel von Öffentlichkeit in der frühneuzeitlichen Stadt am Beispiel Berns“ zu Recht vermerkt: „Mit dem Akzent auf Ereignis und Vielgestaltigkeit wird der Vormoderne aber jener Ort der Reproduktion gemeingültigen Wissens abgesprochen, obwohl zahlreiche Beobachtungen gerade von seiner vitalen Existenz zeugen.“ (S. 122)

Der zweite Teil, der Beiträge über Stadträume zusammenfasst, ist im Unterschied zu den anderen Sektionen der heterogenste. Nur zwei der vier Beiträge beschäftigen sich tatsächlich vorwiegend mit dem städtischen Raum unter Einbeziehung von Wegen und Verbindungen (der bereits genannt Text Uwe Dörks sowie Susanne Claudine Pils erste Vorstöße zum Thema „Frauen und Öffentlichkeit in der frühneuzeitlichen Stadt“), während Frank Hatjes Beitrag über den Hamburger Konfessionskonflikt zu Beginn des 18. Jahrhunderts, der sich an der baulichen Erweiterung des kaiserlichen Gesandtschaftsquartiers zur Abhaltung katholischer Gottesdienste in der lutherischen Stadt entzündete, und Joachim Eibachs Abhandlung über „Das Haus: zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.-18. Jahrhundert)“ wohl einfach keinen Platz in den anderen Sektionen fanden. Diese Kritik ist jedoch zu vernachlässigen, denn wieder sind es die mikroskopischen Beiträge, die die überraschendsten Ergebnisse erbringen und die fruchtbarsten Fragen aufwerfen. Dem monografischen, inhaltsgesättigten Artikel von Joachim Eibach steht die Fallstudie von Frank Hatje gegenüber: War die geplante zweigeschossige Kapelle in Hamburg als öffentlicher Raum anzusehen, weil ihr Hauptzugang zur Straße hin lag, oder aber als „privat“ bzw. exemt anzusehen, weil sie zur kaiserlichen Gesandtschaft gehörte? Die Einwohner Hamburgs nahmen vor allem die Provokation durch ein für den gesandtschaftlichen Gottesdienst offensichtlich zu großes Gebäude direkt gegenüber der lutherischen Hauptkirche St. Michaelis wahr, das zudem dem gegenreformatorischen Heiligen Karl Borromäus geweiht war. Raum war hier Konfliktplatz und Bedeutungsträger zugleich.

Alle Beiträge des Sammelbandes können in einer Rezension nicht gewürdigt werden. Die Gewichtung mag jedoch deutlich machen, dass die Ausweitung des Dresdener Konzeptes auf städtische Räume zwar in langfristiger Perspektive plausibel erscheint, die Fruchtbarkeit seiner Anwendung auf einzelne Raumtypen aber noch lange nicht erschöpft ist.

Anmerkung:
1 Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

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