N. Beckenbach (Hg.): Wege zur Bürgergesellschaft

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Titel
Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Beckenbach, Niels
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 26
Erschienen
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scheiper, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Jedes Zeitalter, jede soziale Verflechtung bringt nach Ansicht des Herausgebers Niels Beckenbach ein spezifisches Arrangement von latenter oder manifester Gewalt hervor (S. 19). Die Vorstellung, mit menschenverachtender Gewalt eine egalitäre Gesellschaftsordnung etablieren zu können, ja zum Wohle aller auch über nationalstaatliche Grenzen hinaus etablieren zu müssen, scheint eine Kernsignatur der vom Fortschrittsgedanken dominierten Epoche der Moderne zu sein. Beckenbach unternimmt mit dem Sammelband einen ersten, vielversprechenden Anlauf zur historischen Analyse des Gewaltaspekts im geteilten Deutschland. In drei chronologisch und zweistaatlich gegliederten Abschnitten tragen Zeitzeugen mit ihren persönlichen Gewalterfahrungen vom unmittelbaren Kriegsende bis zum Terrorismus der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik dazu bei, erste Konturen von „destruktiver Sozialität“ im Prozess der Modernisierung zu rekonstruieren und zu entschlüsseln.

Die Texte sind teils in Essayform, teils als Interviews niedergelegt und werden mit analytischen Bausteinen Dieter Ohlmeiers und Beckenbachs selbst eröffnet bzw. beschlossen. Ohlmeier, Jahrgang 1935 und Emeritus für Psychoanalyse und Psychotherapie der Universität Kassel, skizziert die Möglichkeiten der psychoanalytischen Zeitdiagnose für das historische Verständnis gewaltförmiger Prozesse aus dem Blickwinkel der Anschläge des 11. September 2001. Zwischen selbst erlebten Bombennächten während des Zweiten Weltkrieges und diesem Datum hätten verdrängte und tabuierte Erfahrungshorizonte der Gewalt die Basiselemente gesellschaftlicher Strukturen und Handlungen in der Bundesrepublik zementiert. Ohlmeier weist auf die ständig konfligierenden menschlichen Antriebe kultureller Schöpfung im Rahmen der sozialen Gemeinschaft einerseits und der Befriedigung individueller Aggressionsneigungen andererseits hin. Gewalt entsteht nach seiner Lesart neu, wenn solche Antriebe persönlich und kollektiv tabuiert werden. Dieses Phänomen, aus dem das utopische Ziel einer umfassenden, endgültigen Therapie der Gesellschaft entstanden sei, verortet Ohlmeier in Teilen der 68er-Bewegung – obwohl es ebenso bei den gesellschaftspolitischen Modernisierern der ausgehenden 1960er-Jahre mit ihrem überschwänglichen Reformpathos vorzufinden war.1 Die von Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 diagnostizierte „Unfähigkeit zu trauern“ blockiert laut Ohlmeier unter veränderten Bedingungen auch nach dem 11. September 2001 ein erneutes Besinnen auf die kulturschöpferischen Elemente menschlicher Betätigung (S. 60ff.).

Vor dem Hintergrund des Unrechts, das seine Familie erlitten hat, setzte sich Ralph Giordano in der Nachkriegszeit mit der „Kontinuität des Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland“ auseinander. Die durch Ohnmacht und zugefügtes Leid aufsteigenden Aggressionen werden in seinem Beitrag plastisch beschrieben, bis hin zu einer Liste von Personen, die Giordano gemeinsam mit seinem Bruder zu töten beabsichtigte. Das Interview gewährt somit Einblicke in die subjektiven Folgen der Gewalt des NS-Regimes. Indem aber die Gewaltspirale von den Giordano-Brüdern durchbrochen wurde, zeigte sich eine individuelle menschliche Kulturleistung und persönliche Stärke, die als Beitrag zu einer deutschen Bürgergesellschaft zu verstehen sei.

Zivilcourage und eigenständiges Denken wurden in der SBZ/DDR in staatliche Kontrollbahnen gezwungen, wie die Beiträge von Hermann Kreutzer, Freya Klier, Ehrhardt Neubert und Jürgen Haschke verdeutlichen. Unter dem Eindruck der absolut gesetzten antifaschistischen Abkehr von jeglicher Vergangenheit bis 1945 berichten die Zeitzeugen von der Zwangsvereinigung der SPD und KPD (Hermann Kreutzer), dem Schicksal eines renitenten Bruders, der von frühester Kindheit an in die Mühlen des staatlichen Repressionsapparates geriet und schließlich Selbstmord beging (Freya Klier), der Oppositionsrolle der Kirche in der DDR (Ehrhart Neubert) und der Möglichkeit, sein subjektives Sozialempfinden ohne Zugriff staatlicher Ansprüche durch pflichtbewusste Arbeit und politische Enthaltsamkeit zu bewahren (Jürgen Haschke).

Klassifizierungen als „bourgeoise Führungskräfte“, „Asoziale“, „Kirchgänger“ und „Unpolitische“ dienten in der DDR zur Ordnung der Gesellschaft und wurden mit entsprechenden Maßregeln des Repressionsapparates bedacht, die von Folter und jahrelanger Haft, ständiger bevormundender Überwachung, versuchter Infiltration bis hin zur „Arbeitstherapie“ reichten. Die individuellen Folgen schlugen sich in fortgesetzter politischer Widerständigkeit gegen jede Art staatlicher Eingriffe, in paranoiden Beeinträchtigungen des Alltagslebens, einer Rückbesinnung auf Religiosität und einer völligen Abneigung gegen alles Politische nieder.

Für die Bundesrepublik zeigt das Interview mit dem verstorbenen ehemaligen Staatsschutzbeamten Manfred Kittlaus, in welche Wechselwirkung die Polizei in den 1970er-Jahren mit den Medien und den terroristischen Gruppierungen in Berlin geriet. Kittlaus legt dar, wie die Kategorien des Militärischen im generationellen Wandel auch aus der Kriminalpolizeiarbeit verbannt wurden und zivileren Handlungsmaßstäben in Konfrontation mit terroristischer Gewalt Platz machten.2 Die gesellschaftliche Bedeutung der „68er“ steht im Mittelpunkt des Interviews mit Bettina Röhl, der 1962 geborenen Tochter Ulrike Meinhofs und Klaus Rainer Röhls. Sie klassifiziert die „68er“ als Gewaltapologeten, die sich jeder demokratischen Reform verschlossen und diese Eigenschaft im Rahmen der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte zu einer Liberalisierungsmär umgeschrieben hätten. Damit gerät der Beitrag zu einer undifferenzierten Abrechnung mit einer nicht einmal genau bestimmten Gruppe.

Beckenbach analysiert abschließend die „Geburt der RAF aus dem Wahn“. Er macht eine mit 1968 beginnende Aufbruchssituation aus, die sich politisch im Beginn der sozialliberalen Koalition niederschlug (S. 240). Daraus sei, frei nach Marcuse, die „nachindustrielle Gesellschaft“ entstanden, die sich auf den Fundamenten von „Wohlstandsspirale“ und „Automationszeitalter“ nicht mehr der Askese und Leistungsprämierung, sondern der Kunst, Phantasie und dem Spiel bis hin zu einer permissiven Sexualmoral gewidmet habe. Hierin liege der Kern der Konfrontation von „68er“- und Kriegsgeneration. Überbetonungen beider Seiten sorgten laut Beckenbach schließlich für den Umschlag der kulturschöpferischen Elemente der „68er“ – die sie aus den gemeinsamen Anliegen gegen den Vietnam-Krieg, der nationalsozialistischen Vergangenheit und insbesondere aus dem transnationalen studentisch-zivilgesellschaftlichen Protest bezogen – in eine Debatte um Formen der Interessendurchsetzung jenseits der systemimmanenten parlamentarisch-diskursiven Formen. Der Weg in die Gewalt über die Diskussion ihrer Anwendung zeichnete sich demnach frühzeitig ab. Beckenbach gelingt mit dieser Sicht auf „Gewalt als intellektuelle Kopfgeburt“ eine anregende, wenn auch nicht für die Gesamtheit der „68er“ stichhaltige Erklärung. Seine eigene Zugehörigkeit zu eben jener Generation verbaut zuweilen den Blick auf die bereits Ende der 1960er-Jahre erreichten Liberalisierungen rechts- und sozialstaatlicher Provenienz.3

Einige chronologische Fehler im Buch (z.B. S. 196, 246) sind offensichtlich einer eiligen Schlussredaktion geschuldet. Ebenso sorgt die unmittelbare Transkription der Interviews zuweilen für Verständnisschwierigkeiten bei den Lesern/innen (Haschke, Kittlaus). Problematisch bleibt der psychoanalytische Ansatz, wie er von Ohlmeier angeführt wird, da er sich bis heute der empirischen Verifikation weitgehend entzieht. Der Workshop-Charakter der Zeitzeugensammlung bietet aber einen ersten Fundus für weitere Analyseschritte. Die impliziten Koordinaten einer im Titel auftauchenden, jedoch nicht näher definierten „Bürgergesellschaft“ können von den Lesern/innen selbst erschlossen werden, da sie von den Zeitzeugen – zumeist ex negativo – zu erfahren sind. So dezidiert auf die Psychoanalyse einzugehen, ist daher durchaus zu begrüßen, zumal längere Zeit vernachlässigte Arbeiten dabei wieder zur Geltung kommen und interdisziplinären Projekten das Wort geredet wird. Wenn man die Vorgehensweise mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen der jüngsten Zeit verknüpfen würde4, ergäben sich daraus vermutlich noch produktivere Ergebnisse, die eine empirische und naturwissenschaftliche Stütze hätten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Metzler, Gabriele, Politische Konzeptionen von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der Industriegesellschaft, Paderborn 2005.
2 Siehe als zeithistorische Darstellung: Weinhauer, Klaus, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003.
3 Grundlegend zum politischen und gesellschaftlichen Wandel: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl-Christian (Hgg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.
4 Einführend: Spitzer, Manfred, Wie funktioniert das Gehirn? Auf dem Weg zu einer neuen Lernwissenschaft, Stuttgart 2005.

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