M. Lengwiler: Risikopolitik im Sozialstaat

Cover
Titel
Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung (1870-1970)


Autor(en)
Lengwiler, Martin
Reihe
Industrielle Welt 69
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Speich, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, ETH Zürich

Das Versicherungsgeschäft ist eine trockene Angelegenheit. Hinter den Zahlenreihen und Berechnungsformeln steckt allerdings eine große Brisanz. Zum einen haben die modernen Sozialversicherungen den gesellschaftlichen Wandel wesentlich mitgeprägt. Und zum anderen haben die Unfallversicherung, die Altersvorsorge, die Arbeitslosen-, die Kranken- und die Pflegeversicherung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen eigenständigen Diskurs hervorgebracht, der seine Wurzeln in den Naturwissenschaften suchte, und damit seine soziale Genese erfolgreich verhüllte. Man muss der Sachlichkeit der Materie mit Wissen über Wissen, mithin also mit Theorie, auf den Grund gehen, um ihre soziale und politische Dimension zu klären. Gerade die Trockenheit macht den Reiz des Themas aus.

Martin Lengwilers Darstellung der Geschichte der Schweizerischen Unfallversicherung weiß um diesen Theoriebedarf und bringt viele relevante Einsichten hervor. Eine Fülle von Bezugspunkten wird in Aussicht gestellt. Sie reicht von Gøsta Esping-Andersens Kategorisierung des Sozialstaats über Theda Skocpols Rekonzeptualisierung von Staatlichkeit zu Michel Foucaults Gouvernementalitätsbegriff und weiter zur Risikosoziologie von Ulrich Beck. Die wissenssoziologischen Entwürfe von Helga Nowotny, Nico Stehr und Bruno Latour werden ebenso in Anschlag gebracht wie die Arbeiten zur Geschichte der wissenschaftlichen Quantifizierung von Theodore Porter oder Lorraine Daston.

Dieser reichhaltige Theoriepool ermöglicht es Lengwiler, die staatliche Unfallversicherungsanstalt der Schweiz (SUVA) gesellschaftsgeschichtlich einzubetten. Die Institution wird zum Gegenstand einer Studie gemacht, die exemplarisch das Potenzial der Verbindung von Sozial- und Wissenschaftsgeschichte aufzeigen will. In einem Dutzend Kapitel werden der Planungsprozess der SUVA, der in den 1870er-Jahren einsetzte, ihre Konstitutionsphase nach der eigentlichen Gründung 1918 und ihre Konsolidierungsphase, die von 1945 bis in die 1970er-Jahre hinein verfolgt wird, in eine einleuchtende Reihe gebracht. Dabei erweist sich die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen politischer Interessenartikulation und versicherungstechnischer Expertise, das heißt also die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft, als eigentliches Generalthema. Lengwiler stellt hier Tendenzen einer Verschiebung fest. In der politisch sehr umstrittenen Planungsphase konnten die Versicherungsfachleute entscheidende Handlungsanweisungen geben, weil ihr wissenschaftliches Expertentum allseits als neutral anerkannt wurde. Politik wurde verwissenschaftlicht. Im Zuge der Konstituierung und auch in der Konsolidierungsphase kam es dagegen immer wieder zu Konstellationen zwischen Wissenschaft und Politik, die man als Politisierung von Wissen charakterisieren kann. Lengwiler wendet sich aber gegen Peter Weingart, der die zunehmende Entgrenzung der zwei Gegenstandsbereiche als großen Trend beschrieben hat. Das Material zur SUVA zeigt, wie sehr Wissenschaft und Politik bereits im 19. Jahrhundert aufeinander verwiesen.

Das Buch ist überzeugend, weil es Licht auf kategoriale Vermischungen wirft. Wissenschaft wird nicht als über- oder außergeschichtliche Größe konzipiert, deren Einfluss auf den gesellschaftlichen Wandel vermessen werden kann. Vielmehr wird die Herstellung von versicherungstechnischem Wissen immer auf die entstehenden Institutionen des Sozialstaates zurückgebunden. So erscheint der Verwissenschaftlichungsprozess des Sozialen nicht als reiner Anwendungs- oder Verwertungsprozess, sondern als „interaktive und koevolutive Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Expertise und institutionellem Wirkungsfeld“ (S. 355). Das ist als Differenzierung der historischen Reflexion gemeint, die Lutz Raphael über das moderne Verwaltungswissen angestellt hat.

Nach einem ersten einführenden Abschnitt folgt in Kapitel 2 eine konzise Darstellung der Expertenrolle in der frühen Planungsphase des SUVA-Projekts. Kapitel 3 geht der Frage nach, wie die Debatte um die Soziale Frage im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Entwicklung der Wissenschaften rückwirkte. Hier berührt Lengwiler freilich ein zu großes Feld. Welche Rolle die quantifizierenden Methoden eines Adolphe Quételet auf die (Nicht-)Entstehung der qualitativen Sozialforschung in der Schweiz hatte, bleibt unklar. Immer wieder scheint ein unplausibler Gegensatz zwischen probabilistischen Gesetzmäßigkeiten und naturwissenschaftlichem Szientismus auf, der weiter hätte erörtert werden müssen. Überzeugend ist hingegen Kapitel 4, das die frühen Experimente mit konkurrierenden Formen von Risikokalkulation umreißt, die bis zum Zweiten Weltkrieg stattfanden. Kapitel 5 blickt auf die Arbeitsmedizin und verfolgt den Diskurs der Lebensversicherungsmedizin während Kapitel 6 den beschränkten Erfolg von Unfallverhütungsstrategien vor 1945 darstellt. Kapitel 7 bringt einen geschlechtergeschichtlichen Blick auf die Entstehung der statistischen „Unfallpersönlichkeit“. Und Kapitel 8 summiert die wichtigsten Kontroversen der Konstitutionsphase: den Prämienstreit mit der Arbeitgeberschaft, die Vertrauenskrise mit den Gewerkschaften und den Honorarstreit mit der ärztlichen Standesgesellschaft. Dass diese drei Konflikte überwunden werden konnten, begründet die Rede von der Konsolidierungsphase nach 1945. Lengwiler rekonstruiert den Betrieb des Unfallversicherungsgeschäfts in der Nachkriegszeit exemplarisch am Beispiel der Silikose (Kapitel 9 und 10). Kapitel 11 öffnet dann eine Außenperspektive auf den Schweizer Fall, indem der Aufstieg der Risikoforschung umrissen wird. Kapitel 12 bringt überzeugendes Material zur Internalisierung der Risikoprävention durch die Versicherten. Als Beispiel dienen hier die Verkehrsunfälle. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse (Kapitel 13) schließt die Arbeit ab.

Die SUVA selbst war nicht nur Agent, sondern zugleich auch ein Produkt der Verwissenschaftlichung des Sozialen. Obwohl die Institution eigentlich im Zentrum der Arbeit steht, rückt sie gleichwohl immer wieder an deren Rand. Oder anders formuliert: Die einzelnen Kapitel des Buchs greifen Problembereiche heraus, die weit über das Schweizer Beispiel hinaus weisen. Oft nimmt Lengwiler eine vergleichende Perspektive zu anderen europäischen Ländern oder zu den USA ein und zeigt die internationale Verwobenheit der Entstehungsgeschichte des Sozialstaates gut auf. Hoch anzurechnen ist ihm auch, dass er am Beispiel der Silikose und der Verkehrssicherheit die Perspektive der Versicherten mit ins Bild nimmt. Wenn die Wissenschafts- mit der Sozialgeschichte verbunden werden soll, ist diese Erweiterung unabdingbar. Sie macht deutlich, dass die Sicherungsapparaturen moderner Sozialstaatlichkeit nicht so sehr die vielfältigen Risiken des hochindustrialisierten Lebens und Wirtschaftens zu einer Normalität gemacht haben, wie es etwa François Ewald postulierte, sondern zunächst und vor allem dem Präventionsgedanken eine alltägliche Realität verliehen haben.

Lengwiler zeigt, wie sich das komplexe Wissen über das Soziale am Schnittfeld zwischen der politischen Genese des Sozialstaats und der soziokulturellen Entstehung einer Wissensgesellschaft konkretisierte. Allerdings vermag er diesen Prozess historiografisch nicht ganz zu bändigen. Man kann ihm gewiss keine Theoriefeindlichkeit vorwerfen und auch nicht fehlenden Mut zu prononcierten Thesen. Aber wann er warum mit welchem Ansatz arbeitet, wird nicht immer klar. Zu viele theoretische Positionen werden referiert und zu zahlreiche Gegenthesen aus dem empirischen Material entwickelt, so dass letztlich kein überzeugendes Gesamtbild entsteht. Streckenweise bleibt das Buch deshalb leider ähnlich trocken wie sein Gegenstand.

Trotz dieser Unentschiedenheit schließt Lengwiler das komplizierte Feld der Versicherungsgeschichte auf und bietet viele Anregungen für weitere Untersuchungen. Seine SUVA-Geschichte gehört in die schmale, aber wichtige Schweizer Forschungstradition zur Verbindung von Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte, zu der man auch Rudolf Jauns Arbeit zum Scientific Management (1986), David Gugerlis Diskursgeschichte des elektrischen Stroms (1996) oder Jakob Tanners Zusammenschau der Geschichte der Ernährungswissenschaft, der Industriearbeit und der Volksernährung (1999) zählen kann. Die Tradition wird hoffentlich weiter geführt, denn das Thema ist längst nicht ausgeschöpft.

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