Rezensionsessay: Corona und die Geschichte der Gegenwart. Zeitenwenden (in) der zeithistorischen Forschung

: Pest und Corona. Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Freiburg im Breisgau 2020 : Herder Verlag, ISBN 978-3-451-38879-8 192 S. € 18,00

Florack, Martin; Korte, Karl-Rudolf; Schwanholz, Julia (Hrsg.): Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten. Frankfurt am Main 2021 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-51340-9 334 S. € 29,95

: Das Jahrhundert der Pandemien. Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19. Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Susanne Warmuth. München 2021 : Piper Verlag, ISBN 978-3-492-07083-6 476 S. € 24,00

: Deutschland im Notstand?. Politik und Recht während der Corona-Krise. Frankfurt am Main 2021 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-51341-6 258 S. € 26,95

: Corona und andere Weltuntergänge. Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft. Bielefeld 2021 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-5595-7 211 S. € 30,00

Rauchensteiner, Manfried; Gehler, Michael (Hrsg.): Corona und die Welt von gestern Köln 2021 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-21258-4 300 S. € 28,00

Reichardt, Sven (Hrsg.): Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Frankfurt am Main 2021 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-51458-1 323 S. € 29,95

: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. München 2021 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-77346-4 408 S. € 26,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), Münster

Der Einschnitt konnte tiefer kaum sein. Corona galt schnell als Zäsur, ja als Zeitenwende. „Alle sind sich derzeit einig“, schrieb im Herbst 2020 der Soziologe Frank Adloff, „dass COVID-19 uns in eine welthistorische Zäsur befördert hat. […] Ein Riss durchzieht nun unsere kollektiven Imaginationen.“1 Mit diesen Worten brachte Adloff eine Stimmung auf den Punkt, die im Jahr eins der Pandemie bei vielen Deutschen eine Dokumentationslust weckte: Mit Corona-Tagebüchern, Erlebnisberichten, Filmen und Fotos hielten sie ihre Beobachtungen fest. Der Slogan des Online-„coronarchivs“, „sharing is caring – become a part of history“2, brachte das „historische“ Zeitempfinden treffend auf den Punkt. Frank-Walter Steinmeier verlieh dem Gefühl einer Zeitenwende im April 2020 sogar präsidiale Weihen: „[…] die Welt danach wird eine andere sein.“3

Die Popularität der „Zeitenwende“-Deutung rief umgehend Historikerinnen und Historiker auf den Plan. Sie mahnten zur Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Zäsurensetzungen. Die Tiefe eines Einschnitts sei erst im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten, mitunter erst nach Jahrhunderten erkennbar. Zeitenwenden seien somit ein Befund aus der Retrospektive und die Besonderheiten der Coronapandemie im Übrigen keineswegs ausgemacht. In diesem Zusammenhang verwiesen Historikerinnen und Historiker nicht zuletzt auf tiefe Wurzeln gegenwärtiger Geschehnisse.4 Paul Nolte stellte den Zäsurcharakter der Pandemie sogar auf den Kopf. In einer frühen Einordnung schlug Nolte vor, die „Pfadabhängigkeiten“ des Pandemieregimes von 2020 mit seinen staatlichen Interventionstraditionen als „Kontinuitäten der Moderne“5 zu lesen, mit denen wiederum populäre Zäsuren wie der „Strukturbruch“ der 1970er-Jahre zur Diskussion stünden.

Auch wegen solcher Vorschläge machten sich Historiker¬innen und Historiker bereits 2020 auf, die Geschichte der Pandemie zu schreiben.6 Ihre Veröffentlichungen stellen die bislang wohl radikalste Form einer Geschichte der Gegenwart dar. Immerhin waren sie ein Versuch, Geschichte „in actu“7, in Echtzeit und „ohne Ende“ zu schreiben, ja eine „unendliche“8 bzw. eine „werdende Geschichte“, wie sie der österreichische Historiker Rauchensteiner bezeichnete (Einleitung in Rauchensteiner / Gehler, S. 10). Mit ihrem Sammelband präsentierten Manfried Rauchensteiner und Michael Gehler 2021 eine österreichische Coronageschichte, die zwei zentrale Motive vieler Publikationen offenlegt. Erstens galt Corona europaweit seit März/April 2020 als „sozialste aller Krankheiten“, betrafen das Virus und die Eindämmungsmaßnahmen doch sämtliche Bereiche und Ebenen der Gesellschaften. Die Beiträge des österreichischen Sammelbandes beschäftigen sich daher mit Alltag und Religiosität, mit Außen- ebenso wie mit Bildungs- und Kulturpolitik, mit der Europäischen Integration genauso wie mit globalen Wertschöpfungsketten, mit Wirtschaft und mit Wissenschaft.

Ein zweites zentrales Motiv vieler Coronageschichten ist der Befund eben jener „welthistorischen Zäsur“ (Rauchensteiner, Einleitung, S. 11), den auch Gehler und Rauchensteiner zur Begründung ihres Bandes hervorheben: Der „Umstand, dass kein Gegenwärtiger noch mit Vergleichbarem zu tun gehabt hat“ (ebd., S. 7), mache deutlich, warum es schon im Angesicht der Pandemie an der Zeit für eine „Bilanz“ sei. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gingen Martin Florack, Karl-Rudolf Korte und Julia Schwanholz mit ihrem Sammelband zur „Coronakratie“ noch einen Schritt weiter. Sie erhoben zwar nicht den Anspruch einer Gegenwartsdiagnose und zogen insofern keine Bilanz – obwohl sie durchaus überzeugend „Muster […] der Coronakratie“ (S. 20) präsentierten. Vielmehr verstanden sie ihr Buch als „informierte Spekulation“, die eine „Szenerie der vollendeten Zukunft“ eröffne. Florack, Korte und Schwanholz legten somit eine andere Geschichte der Gegenwart vor, nämlich eine Zeitgeschichte im Futur II: „Was wird gewesen sein?“ (S. 11f.) Von welcher Geschichte der Gegenwart reden wir also, wenn wir über Coronageschichte sprechen?

Die im Folgenden vorzustellenden Veröffentlichungen sind alle in den Jahren 2020/21 auf Deutsch erschienen. Obgleich nach wie vor Seuchen- und Coronageschichten hinzukommen9, lief die erste Publikationswelle in Deutschland Ende 2021 allmählich aus. Karl Heinz Roths Anfang Februar 2022 erschienener Band lag als vorerst letzte geschichtswissenschaftliche Corona-Monographie im deutschen Buchhandel.10 Das plötzliche Ende des Coronabooms ist schnell erklärt. Im Februar 2022 wurde die Pandemie bekanntermaßen von der nächsten „Zeitenwende“ überschattet (im Dezember 2022 zum „Wort des Jahres“ gekürt11), vom russischen Überfall auf die Ukraine. Seitdem war und ist erneut von einer welthistorischen Zäsur die Rede, nun allerdings mit Blick auf einen Krieg mitten in Europa. Auch der Ukraine-Krieg rief Historikerinnen und Historiker auf den Plan, die es nun mit ganz anderen Geschichten der Gegenwart zu tun bekamen.

Das Aufmerksamkeitsfenster für die Pandemie schloss sich im Frühjahr 2022 also ebenso schnell, wie es sich im Frühjahr 2020 geöffnet hatte. Es ist daher an der Zeit für eine Zwischenbilanz12 zur Coronageschichtsschreibung, die dieser Essay zieht. Ich konzentriere mich dafür auf acht Monographien und Sammelbände zur Corona- und Seuchengeschichte und ordne diese sowohl in weitere Forschungen zur Coronapandemie als auch in die Debatte zur Geschichte der Gegenwart ein. Coronageschichten eröffnen uns demnach nicht nur Perspektiven auf die jüngste Pandemie. Darüber hinaus spiegeln sie Potenziale und Probleme des Schreibens einer Geschichte der Gegenwart wider, die die zeithistorische Zunft schon eine ganze Weile beschäftigen. Aktuelle Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen einer Historisierung der neuesten „Zeitenwende“, nun also des russischen Überfalls auf die Ukraine13, schließen insofern unmittelbar an jene Auseinandersetzungen um Potenziale und Probleme einer Coronageschichte an, die im Folgenden präsentiert werden.14

Interdisziplinarität als Krisenerscheinung

Viele frühe Publikationen zur Coronapandemie sind Sammelbände und Themenhefte.15 Dieses Format dürfte vor allem den seit März 2020 steigenden Vermarktungsbedürfnissen und dem daraus resultierenden Zeitdruck geschuldet sein. Schon in den ersten Monaten der Pandemie überboten sich Verlagshäuser mit Vorankündigungen für Coronageschichten im Speziellen und Seuchengeschichten im Allgemeinen.

Sammelbände befriedigten aber noch in einer anderen Hinsicht gegenwärtige Bedürfnisse. Sie brachten unterschiedliche Fächer zwischen die Buchdeckel und beförderten den interdisziplinären Austausch. Im Angesicht einer schwer einzuordnenden neuen Bedrohung wuchs unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Wunsch nach Interdisziplinarität. Nicht zuletzt die Medizingeschichte kam plötzlich zu ganz neuen Ehren. Lange Zeit galt sie unter Historikerinnen und Historikern als „Orchideenfach“.16 Obwohl Medizinhistorikerinnen und -historiker der zeithistorischen Forschung immer wieder gute Angebote machten, wie sich Medizin- und Zeitgeschichte enger miteinander verzahnen ließen17, blieb die „allgemeine“ Geschichtswissenschaft lange Zeit zurückhaltend. Und obgleich neue Studien beispielsweise zu den deutsch-deutschen Gesundheitsministerien die Potenziale der Medizingeschichte für die Zeitgeschichte einmal mehr unterstrichen18, stand eine „Zeitgeschichte der Gesundheit“19 auf der forschungspolitischen Agenda bis Anfang 2020 weit unten. Erst die Pandemie katapultierte die Medizin- und Gesundheitsgeschichte auf einmal ins Rampenlicht.

Da Corona schnell als sozialste aller Krankheiten galt, war fächerübergreifendes Wissen am Beginn der Pandemie sehr gefragt. Interdisziplinarität ist somit auch eine Krisenerscheinung, wie neben den vielen Sammelbänden und Themenheften ebenso die im Jahr 2020 hastig aufgelegten Förderprogramme zur Coronapandemie von Deutscher Forschungsgemeinschaft (DFG) oder Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstreichen.20 Sozialwissenschaftliche Erhebungen zum Gesundheitsverhalten der Deutschen21 oder psychologische Forschungen zur Pandemie-Wahrnehmung, wie sie die COSMO-Studie (COVID-19 Snapshot Monitoring) an der Universität Erfurt seit Beginn der Pandemie bereitstellte22, politikwissenschaftliche Analysen von Parlamentsdebatten oder juristische Auseinandersetzungen mit dem „Ausnahmezustand“ waren für die zeithistorische Zunft zur Einordnung der Gegenwart ausgesprochen hilfreich, aber auch umgekehrt: Geschichtswissenschaftliche Expertise war seit 2020 für andere Disziplinen gefragt, um in Debatten „Orientierung“ zu geben und den „großen Rahmen“ aktueller Ereignisse abzustecken.

Diese Aufgabenzuschreibung sorgte bei mancher Historikerin und manchem Historiker indes für Irritationen. Schließlich erhob sie einen Evidenzanspruch, dem die Geschichtswissenschaft nicht gerecht werden kann bzw. möchte. Darüber hinaus verkümmerte Geschichte im interdisziplinären Austausch schnell zu einem Argument, aus dem sich der Nutzen oder die Nachteile gegenwärtiger Maßnahmen abzuleiten schienen. Die relativ hemdsärmlichen Bezüge auf die „Spanische Grippe“ zur Begründung von Gesundheitsmaßnahmen 2020 und 2021 bieten für diese Aneignung von Geschichte nur ein Beispiel unter vielen. Insofern forderte der interdisziplinäre Austausch Historikerinnen und Historiker zur Klärung des eigenen Rollen- und Selbstverständnisses auf. Was ist der Beitrag zeithistorischer Forschungen für eine Geschichte der Gegenwart? Wo liegt ihr Mehrwert gegenüber anderen Fächern? Was also können Historikerinnen und Historiker zur Einordnung gegenwärtiger Phänomene beitragen?

Quellenvielfalt und Multiperspektivität: Welche Rolle spielt die Geschichtswissenschaft?

Tatsächlich schlagen sich in den vorliegenden Coronageschichten besondere Kompetenzen der Geschichtswissenschaft nieder. Historikerinnen und Historiker bringen erhebliche Expertise in der Quellenarbeit mit. Zwar werten auch andere Disziplinen ihre Quellen kritisch aus. So ist in der Medizin ebenso wie in den Erziehungs-, Politik- und Sozialwissenschaften eine Methodenkritik zur Reflexion der Erkenntnisgrenzen üblich. Der Konstanzer Politik- und Sozialwissenschaftler Sebastian Koos setzt sich in Sven Reichardts Sammelband zu den „Querdenkern“ beispielsweise sehr differenziert mit dem Setting seiner Untersuchung auseinander. Er reflektiert eigene Vorannahmen, aber auch die Situation der Befragungen oder den Aufbau der Fragebögen (Konturen einer heterogenen „Misstrauensgemeinschaft“: Die soziale Zusammensetzung der Corona-Proteste und die Motive ihrer Teilnehmer:innen, in: Reichardt, Misstrauensgemeinschaft, S. 67–89). In den Medienwissenschaften wiederum bilden Zusammenhänge zwischen Medienformat und Botschaft sowie die Rahmung durch Mediengesetze selbstverständliche Grundlagen für die Analyse von Medienbeiträgen. In dieser Hinsicht lässt sich also nicht von einer spezifischen Expertise der Geschichtswissenschaft sprechen.

Besondere Kompetenzen werden jedoch an der Quellenvielfalt deutlich. Denn Historikerinnen und Historiker arbeiten bei der Analyse der Coronapandemie sehr viel selbstverständlicher als andere Fächer mit unterschiedlichen Quellenarten. Dank eines Quellenmixes aus Medienberichten, Parlamentsdebatten, Behördendokumenten und Selbstzeugnissen, Gutachten und Befragungen, Werbung von Unternehmen, Filmen, Fotos und Objekten decken ihre Analysen somit viele Felder von Gesellschaft ab. Während andere Fächer auf Grundlage weniger Quellenarten oft relativ unvermittelt auf weite Bereiche einer Gesellschaft schließen, diversifiziert die Geschichtswissenschaft ihre Materialbasis und reflektiert damit die begrenzte Aussagekraft einzelner Quellengruppen. Darüber hinaus kontrastieren Historikerinnen und Historiker bestimmte Quellengattungen mit anderen, um Erkenntnisgrenzen spezifischer Dokumente aufzuzeigen und diese Grenzen mithilfe anderer Quellen zu überschreiten.

Sowohl Mark Honigsbaums Seuchengeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts als auch Adam Toozes Coronageschichte – beide Bücher wurden 2021 mit sehr kurzer Frist ins Deutsche übersetzt – geben für diese geschichtswissenschaftlichen Kompetenzen ein gutes Beispiel. Trotz des beindruckend weiten zeitlichen und geographischen Analyserahmens operiert Honigsbaum mit unterschiedlichen Quellenarten und damit auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern. Sein Buch „Das Jahrhundert der Pandemien“ dreht sich um Wissenschaft und Wirtschaft, um globale Gesundheitspolitik und lokale Maßnahmen, um Migration und Mobilität, um Umwelteinflüsse, Menschen- und Weltbilder. Bei Tooze wiederum dominiert zwar eine wirtschaftshistorische Perspektive. Seine Geschichte einer „Welt im Lockdown“ greift dennoch auf sozial- und kulturhistorische Fragen und eine entsprechende Bandbreite an Quellenarten zurück. Körperliche Erfahrungen des Virus spielen bei Tooze ebenso eine Rolle wie unterschiedliche Konsummuster und Lebensstile, Präventionskonzepte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Anlagestrategien von Notenbanken.

Auch wenn Multiperspektivität als catch-all-Begriff Karriere gemacht hat, ist dieser Befund keineswegs trivial. Denn Historikerinnen und Historiker eröffnen dank ihrer Quellenvielfalt nicht nur unterschiedliche Zugriffe auf Gesellschaften. Sie problematisieren darüber hinaus die Erkenntnisgrenzen einzelner Fächer bei der Erforschung von Gesellschaft und Gegenwart. Die Geschichtswissenschaft macht nachvollziehbar, dass unterschiedliche Quellenarten unterschiedliche Blickwinkel sowohl auf historische als auch auf heutige Gesellschaften eröffnen bzw. verschließen. Der Quellenmix ist letztlich also auch ein Plädoyer für Interdisziplinarität, um verschiedene Fachperspektiven auf Gesellschaft zusammenzubringen. Gerade bei Pandemien ist ein möglichst umfassendes Wissen nötig. In der „ZEIT“ brachte Andreas Sentker den Bedarf an interdisziplinären Pandemieforschungen treffend auf den Punkt, indem er eine „Abkehr von der Naturwissenschaftsfixiertheit“ forderte.23

Multiperspektivität mündet zudem in ein Plädoyer, dass wir es uns mit historischen Bezügen nicht zu einfach machen sollten. Wegen des allgemeinen Krisenempfindens verkam Geschichte in den Jahren 2020 und 2021 häufig zur Grabbelkiste, aus der man sich mit Argumenten für gegenwärtige Debatten munitionierte. In dieser Zeit griff eine regelrechte Analogiesucht um sich. Fieberhaft suchten Politikerinnen und Politiker ebenso wie Journalistinnen und Journalisten nach historischen Bezügen zur Gegenwart. Populäre Parallelen zwischen Seuchengeschichte und Coronagegenwart, insbesondere zwischen Pest, Pocken, „Spanischer Grippe“ und Corona, mündeten rasch in schlichte Schlagworte und schrille Schlagzeilen, die für Historikerinnen und Historiker wiederum zu Quellen geronnen, wie der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven als eine Lehre aus der Coronapandemie geschlussfolgert hat: „Der Umgang mit den vermeintlichen Parallelen aus der Geschichte wird damit selbst zum Gegenstand zeithistorischer Betrachtung.“24

Tatsächlich ließen populäre Parallelen zwischen Geschichte und Gegenwart schnell vergessen, dass ganze Gesellschaften eben nicht auf einfache Formeln zu bringen sind. Mochten Viren und Verbreitungswege der „Spanischen Grippe“ denen von Sars-CoV-2 auch ähneln – die Gesellschaften von 1918/19 und jene von 2020/21 ähnelten sich kaum. Vor diesem Hintergrund werden Vorbehalte nachvollziehbar, mit denen die Historikerin Margrit Pernau vor einfachen Bezügen zur Seuchengeschichte warnte. Geschichte sei eben „keine Lehrmeisterin“ in dem Sinne, dass wir historische Analogien zur Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen nutzen könnten: „Dass in der gegenwärtigen Krise einige Naturwissenschaftler:innen betonen, dass keine Pandemie wie die andere ist, aber ihre Hoffnung darauf setzen, dass die Reaktionen der Menschen über die Jahrhunderte hinweg ähnlich bleiben, während Historiker:innen oftmals gerade diesen sozialen Verhaltenswandel in den Vordergrund stellen und Wiederholungsstrukturen eher in den medizinischen und biologischen Vorgängen erwarten, sollte zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Annahmen von Wiederholungen in der Geschichte mahnen.“25 Die Geschichtswissenschaft stellt den Nutzen historischer Analogien nicht so sehr in Frage, weil Pandemien nicht in ähnlichen Mustern auftreten, sondern weil sie die Historizität des Sozialen und damit die Bedeutung gesellschaftlichen Wandels betont. In solchen berufsbedingten Bedenken gegenüber diachronen Analogien liegt somit ein weiterer Beitrag für eine Geschichte der Gegenwart: Historikerinnen und Historiker machen deutlich, dass nicht nur Geschichte kompliziert und kontingent ist, sondern ebenso die Gegenwart und damit auch „die“ Gesellschaft.

Autobiographisierungen: Reflexionen des eigenen Sehepunkts

Die Geschichtswissenschaft zeichnet sich meist durch eine gewisse Demut gegenüber großen Geschichten aus. Andere Disziplinen, Politik und öffentliche Medien tendieren demgegenüber dazu, historische Entwicklungen auf eindeutige Narrative zu bringen. Geschichte dient dann gern als Kontrastfolie, vor dem sich das Besondere bzw. das scheinbar Neue der Gegenwart umso kräftiger abzuzeichnen scheint. Oder Geschichte verkümmert zu einfachen Genealogien in dem Sinne, dass sich die Gegenwart geradezu folgerichtig aus einzelnen historischen Ursachen herleiten lasse. Insofern geht Geschichte in Krisenzeiten gern in Gleichsetzungen auf, in Parallelen zwischen damals und heute, aus denen sich Lösungswege für gegenwärtige Problemlagen aufzudrängen scheinen. Die „Gefahr von Vergleichen“26 habe ich an populären Parallelen zwischen Corona, Pest und „Spanischer Grippe“ bereits betont.

Eine weitere Erklärung für die Popularität von Parallelen und Analogien sind „Narrative als Form kollektiver Sinnstiftung“, die Frank Gadinger und Philipp Michaelis im Sammelband „Coronakratie“ als „universale Kulturtechnik […] der politischen Kommunikation“ für die Zeit der Coronapandemie erkunden (Narrative als Form kollektiver Sinnstiftung: Schwieriges Erzählen in Zeiten großer Ungewissheit, in: Florack / Korte / Schwanholz, Coronakratie, S. 79–89, hier S. 79). Dass das Schreiben einer Geschichte in Echtzeit aktuelle Bedürfnisse befriedigt und damit die Gefahr interpretativer Kurzschlüsse erhöht, dass heutige Deutungen eines unabgeschlossenen Ereignisses also morgen schon von neuen Entwicklungen eingeholt (und womöglich überholt) werden, ist vielen Autorinnen und Autoren von Coronageschichten durchaus bewusst. Mit diesem Problembewusstsein wird nachvollziehbar, warum mehrere Veröffentlichungen sehr persönliche Einordnungen der Lebenssituation liefern, die für historische Forschungsbeiträge eher ungewöhnlich sind. Mark Honigsbaum beispielsweise präsentiert sich selbst und sein Buch im Schlusskapitel folgendermaßen: „Diese Zeilen schreibe ich von meinem Krankenbett in London aus. Es ist der 26. März 2020, ich habe erhöhte Temperatur und huste. Da der National Health Service nicht über genügend Testkits verfügt, habe ich keine Chance herauszufinden, ob es sich um COVID-19 oder [um] eine gewöhnliche Erkältung handelt.“ (S. 398) In diesen wenigen Zeilen skizziert Honigsbaum sowohl sein Befinden zum Zeitpunkt des Schreibens als auch die großen Linien seiner Darstellung. Vor allem seine Kritik an der trügerischen Selbstsicherheit westlicher Gesundheitssysteme, die das gesamte Buch durchzieht, aber auch die Unsicherheit und Sorge über das, was die Zukunft bringen wird, verknüpfen sich zu seinem roten Faden durch das „Jahrhundert der Pandemien“. Eine ebenfalls sehr persönliche Selbstverortung bietet Adam Tooze in „Welt im Lockdown“, indem er die eigenen Erlebnisse mit dem Ziel des Buchs verbindet: „Es ist […] eine persönliche Strategie, um mit den intellektuellen und psychologischen Belastungen eines Moments fertig zu werden, der ansonsten überwältigend war.“ (S. 32)

Solche Selbstverortungen nenne ich Autobiographisierungen. Sie erfüllen eine narrative Funktion und sind beim Schreiben einer Geschichte der Gegenwart besonders verbreitet. Autobiographisierungen dokumentieren den persönlichen Kenntnisstand und sichern die eigene Darstellung vorsorglich gegen zukünftige Kritik ab. Mit der Dokumentation des eigenen „Sehepunkts“ wird also markiert, welches Wissen und welche Erfahrungen bei der Lektüre des Buchs vorausgesetzt werden können. Geradezu mustergültig findet sich eine solche Leseanweisung in der Coronageschichte von Matthias Lemke, der im ersten Kapitel „klare erkenntnistheoretische Grenzen“ seines eigenen Buchs aufzeigt: „Ich schreibe es als betroffener, kritischer Beobachter und ich schreibe es, ohne zu wissen, was alles noch kommen wird.“ (S. 8) Autobiographisierungen sind sowohl eine Praktik des Schreibens einer Geschichte der Gegenwart als auch eine Präventionsstrategie, um die eigene Darstellung gegen späteres Wissen zu immunisieren.

Darüber hinaus sind Autobiographisierungen ein Eingeständnis, dass Historikerinnen und Historiker mit persönlichen Präferenzen, mit politischen Einstellungen und eben nicht zuletzt mit viel Gefühl Geschichte schreiben. Besonders in dieser Hinsicht bergen Autobiographisierungen als Signum von Coronageschichten ein weiteres Potenzial einer Geschichte der Gegenwart. Sie münden in einen Appell zur autobiographischen Dokumentation, zur Offenlegung des eigenen Sehepunkts, also zur Reflexion jener persönlichen Hoffnungen und Befürchtungen, die Autorinnen und Autoren mit ihrem Sujet verbinden – und zwar im doppelten Wortsinne. Gerade weil das Schreiben einer Geschichte der Gegenwart so unmittelbar von aktuellen Eindrücken und persönlichen Erfahrungen abhängt, fordert diese Geschichte uns dazu auf, die Subjektivität und Standortgebundenheit explizit zum Thema und zum Ausgangspunkt der eigenen Darstellung zu machen.

Gegen große Erzählungen: Forschung als Palimpsest

Wie aber lässt sich eine Geschichte der Gegenwart schreiben, die auf keinen Endpunkt zuläuft und die vom Sehepunkt besonders stark geprägt ist? Die meisten Autorinnen und Autorinnen von Coronageschichten suchen ihr Heil im Modus der Vorläufigkeit und im Verzicht auf große Narrative. Ein Extrembeispiel bietet die Darstellung von Matthias Lemke. An die rundum überzeugende, gut hundertseitige Auseinandersetzung mit den Diskussionen des „Ausnahmezustands“ von 2020 im ersten Teil seines Buchs schließt Lemke im zweiten Teil eine Chronik der Coronapandemie vom 27. Januar bis zum 30. September 2020 an. Stellenweise enthält diese Chronik kluge Analysen, zum Beispiel zur Bundestagsdebatte um die Coronamaßnahmen am 13. März 2020, die einen – aus Lemkes Sicht übrigens erstaunlich ruhigen – Grundakkord der gesundheitspolitischen Diskussionen anschlug (S. 134–138). Zahlreiche Einträge der Chronik gehen allerdings kaum über wenige Sätze und damit über den Tenor knapper Schlagzeilen hinaus. Hier wären also weniger Vorläufigkeit und mehr Mut zu Narrativen wünschenswert gewesen.

Auch Heiner Fangerau und Alfons Labisch verzichten in ihrem Buch auf große Narrative und schreiben ihre Coronageschichte ganz bewusst im Modus der Vorläufigkeit. In dieser ersten monographischen Darstellung der Pandemie im deutschsprachigen Raum ist das Problem der Gegenwartsnähe besonders virulent. Bereits Ende April 2020 lag das e-Book vor, wenige Wochen später auch die Printfassung. Da Labisch und Fangerau das Forschungsfeld der Seuchengeschichte bereits seit Jahrzehnten beackern, hüten sie sich vor allzu schnellen Bezügen und simplen Einordnungen. Die Autoren bieten stattdessen mehrere Narrative an, die verschiedene, mitunter sogar widersprüchliche Entwicklungen der Gegenwart kontrastieren. So arbeiten Fangerau und Labisch zum einen die Bedeutung medialer Inszenierungen und Wahrnehmungsmuster für die Auseinandersetzung mit Pandemien heraus. Corona sei somit eine „skandalisierte Krankheit“27, die einen gewaltigen Ressourceneinsatz und weitgehende Gesundheitsmaßnahmen legitimierte. Gleichzeitig weisen sie nach, dass Corona keineswegs nur als „skandalisierte Krankheit“, sondern ebenso als „potenziell ‚echter Killer‘“ zu verstehen sei (S. 47), der wegen der Übertragung vom Tier auf den Menschen für das wachsende Risiko der „new emerging infectious diseases“ das bislang aktuellste Beispiel abgebe.

Bei ihrer Darstellung der Gesundheitspolitik von 2020 gehen Fangerau und Labisch ebenfalls tastend vor. Foucaults Konzept der „Biopolitik“ wird von Historikerinnen und Historikern häufig auf den Zweiklang von „Überwachen und Strafen“ reduziert und damit als staatliche Allmacht missverstanden, obwohl Foucault und andere die Grenzen und Ambivalenzen der „Biomacht“ von Anfang an betont haben.28 Fangerau und Labisch arbeiten sowohl diese Mehrdeutigkeit heraus, indem sie Foucaults bekannten Buchtitel als „Überwachen und Spaßen“ variieren und auf heutige Praktiken der digitalen Selbstoptimierung beziehen (S. 115). Darüber hinaus stellen sie dar, wie sehr Gesundheitspolitik während der Coronapandemie als Suchbewegung zu verstehen ist, die zudem einem fundamentalen Wertewandel geschuldet sei. Der 2020 erhobene Anspruch, „dass jedes Leben, ob jung oder alt, ob gesund oder krank, gerettet werden soll – koste es, was es wolle“ (S. 178), sei die eigentliche Zäsur einer Coronageschichte, die im historischen Vergleich mit früheren Pandemien wie der „Asiatischen Grippe“ von 1957 bis 1960 klar hervortrete.

Denkt man das Konzept des Buchs von Fangerau und Labisch weiter, ist die Auseinandersetzung mit der Coronapandemie letztlich eine Aufforderung, mit bekannten Narrativen zu brechen, um die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Gegenwart zu dokumentieren. Obwohl Adam Tooze durchaus für weit ausgreifende Narrative zu haben ist – er interpretiert die Pandemie als Symptom langfristiger Fehlentwicklungen globaler Finanzmärkte –, betont auch er die Grenzen großer Erzählungen. Seine Coronageschichte ist daher ebenfalls eine Reflexion über die Schwierigkeiten historischer Erkenntnis: „Jeder Versuch, einen narrativen Rahmen über den Tumult zu legen, den wir immer noch durchleben, ist zwangsläufig unvollständig und unterliegt der Revision.“ (S. 33) Zwar ist dies für die Historiographie riskant und mitunter frustrierend, weil die Halbwertszeit der eigenen Erkenntnisse überschaubar bleibe. Dafür offenbare die Coronageschichte, so Tooze, aber etwas ungemein „Wertvolles: ein tieferes Verständnis dessen, was der Satz, alle Geschichte sei Zeitgeschichte, wirklich bedeutet“ (S. 34). Die Probleme einer Geschichte der Gegenwart werfen uns somit auf Grundfragen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zurück: Wie können Historikerinnen und Historiker Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand gewinnen? Wie also können wir „auf Abstand gehen“ zu unseren eigenen Erfahrungen und gegenwärtigen Erlebnissen, um offen zu bleiben für die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Zeitgeschichte? Coronageschichte hält uns die Illusion historischer Distanz vor Augen und erklärt zeithistorisches Arbeiten zum Palimpsest. Einer Geschichte der Gegenwart, argumentiert Tooze, gehe es „nicht um eine endgültige Verlautbarung, sondern um ein Schreiben, das es zu überschreiben gilt“ (S. 342).

Coronageschichten liefern folglich selten große, geschweige denn geschlossene Erzählungen über die Jahre der Pandemie. Sie bieten jedoch etwas, das für die Geschichtswissenschaft einen nicht weniger großen Wert hat: Deutungsoffenheit. Zukünftige historische Forschungen können von der Multiperspektivität vieler Coronageschichten ebenso profitieren wie von der Dokumentation vielfältiger, mitunter widersprüchlicher Entwicklungen, die kurze Zeit später bereits in Vergessenheit gerieten. Während sich die Coronapandemie in der medialen Öffentlichkeit seit 2022 schon wieder in einfache Deutungen auflöste, heben Coronageschichten der Jahre 2020 und 2021 die Kontingenzerfahrungen und Ambivalenzen hervor und eröffnen späteren zeithistorischen Forschungen somit unterschiedliche Zugriffe auf die Pandemie. Vorläufigkeit und Vielfalt legen ein Fundament für künftige kritische Darstellungen.

Das Bewusstsein für Kontingenz und Ambivalenz ist umso wichtiger, weil die Pandemie nicht erst nach einiger Zeit, sondern zum Teil schon in zeitgenössischen Darstellungen in allzu einfachen Narrativen aufging. Auf dieses Problem weist der Sozialwissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel hin. Er beschreibt „Corona und andere Weltuntergänge“ als eine Geschichte der Krisenhermeneutik mit erstaunlich tiefen Wurzeln. Zum einen ordnet Nagel Coronadeutungen in populäre Krisenwahrnehmungen des 20. und 21. Jahrhunderts ein – vom „Club of Rome“ über den „Kampf der Kulturen“ bis hin zu den Klimaprotesten vergangener Jahre. Zum anderen geht Nagel zeitlich noch viel weiter zurück und bezieht Corona-Deutungen auf die biblische Apokalyptik. Zwar überstrapaziert er seine Exegese gelegentlich, zum Beispiel in seiner Analyse der Regierungserklärung Angela Merkels vom April 2020, mit der die Bundeskanzlerin die Deutschen zur Konsequenz bei den Eindämmungsmaßnahmen ermahnte: „Dieses puritanisch anmutende Statement lässt sich […] als klassisch-apokalyptische Rhetorik im Gewand epideiktischer Rede charakterisieren. Es erinnert zudem an Praktiken der Selbstkasteiung als Instrument der Reinigung und Vorbereitung auf das künftige Heil.“ (S. 62)

Unterm Strich ist Nagels Darstellung der apokalyptischen Krisenwahrnehmung während der Coronapandemie allerdings aus drei Gründen hilfreich. So arbeitet der Verfasser an apokalyptischen Deutungen der Pandemie erstens eine Besonderheit der Coronakrise heraus, die im Gegensatz zu anderen globalen Krisen im Alltagsleben aller Menschen „deutlich und umfassend spürbar“ gewesen sei (S. 52). Selbst ansonsten eher abgeklärte Diagnostiker wie Georg Seeßlen neigten im Angesicht der Pandemie demnach zu apokalyptischen Interpretationen. Zweitens zeichnet Nagel die lange Tradition dieser Interpretationen nach und macht nachvollziehbar, dass „auch in modernen Gesellschaften ein eigenständiges Genre apokalyptischer Krisenhermeneutik wirksam ist“ (S. 187). Damit lässt sich Nagels Buch drittens auch als Appell an die sozialwissenschaftliche und zeithistorische Forschung lesen, die ihre eigenen Narrative stärker reflektieren sollte. Auf diese Erkenntnis der Coronageschichte wies ebenso die Berliner Historikerin Laetitia Lenel hin. In ihrer kritischen Rezension zweier Coronageschichten („Lockdown“ von Adam Tooze und mein eigenes Buch „Auf Abstand“) belegt sie überzeugend, dass Historikerinnen und Historiker einen erheblichen Anteil an Krisenwahrnehmungen haben.29 So analysiert Lenel narrative Konventionen der Geschichtswissenschaft, die gern Umbruchs- und Überraschungsmomente hervorhebe und daher häufig in Krisendiagnosen münde. Darüber hinaus sei die Krise für die Zunft ein narratives Legitimationsmittel, das die Relevanz historischer Forschungen begründe.30

Die ungebrochene Attraktivität der Apokalypse im Feuilleton, im Politik- und im Wissenschaftsbetrieb hängt laut Nagel außerdem damit zusammen, dass solche Darstellungen einen „Gestus der Offenbarung“ beförderten (S. 187), der wiederum Handlungsfähigkeit bzw. Handlungszwänge suggeriere.31 Die „apokalyptische Deutung der Pandemie“ war somit ein Erklärungsversuch, der auch unter Historikerinnen und Historikerin verfing, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Demnach brachte die Pandemie „andere, tiefgreifendere Krisen ans Licht […]. Je nach Position bezieht sich dies auf die Krise des Kapitalismus, die Krise der liberalen Demokratie, die Krise der Globalisierung oder die Krise der Mensch-Umwelt-Beziehungen.“ (S. 76) Apokalyptische Deutungen der Pandemie machen insofern nachvollziehbar, warum Corona selten als Ursache der Krise verstanden wurde, sondern als Symptom und Katalysator.

Brandbeschleuniger: Die Pandemie als Symptom und Katalysator

Geschichtswissenschaft schützt vor Überraschungen. Das 2020 und 2021 verbreitete Gefühl einer Zeitenwende war im Angesicht der neuartigen Bedrohung und darauf folgender einschneidender Maßnahmen zwar sehr nachvollziehbar. Forschungen zur Coronageschichte stellten den Neuigkeitswert vieler Entwicklungen indes von Anfang an in Frage. Zunächst einmal machten Historikerinnen und Historiker klar, dass Seuchen selbst in Europa niemals weg waren. So täuscht die morbide Strahlkraft der Pestzüge des 14. Jahrhunderts als europäischer Erinnerungsort schnell darüber hinweg, dass Seuchen keineswegs nur als ein „mittelalterliches“ oder frühneuzeitliches Phänomen, sondern mehr noch als modernes Problem zu verstehen sind.

Schon deshalb durchschreitet Mark Honigsbaum eben nicht das 14. oder 15. Jahrhundert als „Jahrhundert der Pandemien“, wofür angesichts der Hochphase des „schwarzen Todes“ eigentlich viel sprechen würde, sondern das 20. und 21. Jahrhundert. Honigsbaum liest die Moderne als Brandbeschleuniger für die „Emergenz von Krankheiten“ infolge von „Störungen des ökologischen Gleichgewichts oder Veränderungen der Umwelt“ (S. 21). Touristen- und Migrationsströme ebenso wie die im Kolonialismus institutionalisierten weltweiten Wertschöpfungsketten und Arbeitswege erhöhten sowohl die Wahrscheinlichkeit für Mutationen als auch ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit. Mit einer überraschenden Erkenntnis zeigt Honigsbaum diese Zusammenhänge am Beispiel von Aids / HIV auf, an einer Infektionskrankheit also, die wir gemeinhin mit den 1980er-Jahren verbinden.32 Honigsbaum legt dagegen die tiefen Wurzeln von Aids offen und weist nach, dass das Virus bereits während der 1960er-Jahre, wahrscheinlich sogar schon während der 1920er-Jahre in Afrika zirkulierte. Vor allem der Bau „neuer Straßen und Bahnstrecken“ (S. 243) durch die französische Kolonialmacht habe dem Virus den Weg in afrikanische Städte sowie anschließend gen USA und Europa geebnet. Für Corona und die Vorgängerinnen gelte dieser Zusammenhang zwischen Globalisierungsprozessen und Seuchen-Emergenz erst recht. Schließlich hatten schon Sars und Ebola medizinische Probleme einer zunehmenden Vernetzung „meist entlegener Weltgegenden“ (S. 327) mit globalen Infrastrukturen aufgedeckt.

Auch in dieser Hinsicht stellt Corona für Honigsbaum keine Neuigkeit dar. Vielmehr passten die Entstehung und Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus erschreckend gut in das Bild, das der Autor für die gesamte Seuchengeschichte des 20. Jahrhunderts zeichnet. Seine Erkenntnis aus dem „Jahrhundert der Pandemien“ lässt sich folglich auf einen knappen Satz bringen: Nicht Viren sind das Problem, sondern Menschen. Honigsbaum beschreibt Corona nämlich als Symptom für weitreichende Globalisierungsprozesse seit dem späten 19. Jahrhundert. Solche historischen Einordnungen erweitern die Coronageschichte zur Gesellschaftsgeschichte in dem Sinne, dass unterschiedliche gesellschaftliche Felder in ihren Wechselwirkungen und globalen Zusammenhängen hervortreten. Bisherige Coronageschichten erzählen daher von Menschen und sozialen Veränderungen, weniger von Viren und medizinischer Forschung. In dieser Perspektive erscheint die Pandemie dann keineswegs als schockartiges, singuläres Ereignis, sondern als Effekt langfristiger Wandlungsprozesse.

Wie Honigsbaum versteht auch Tooze menschliche Umwelteinflüsse als wesentlichen Faktor für das Auftreten neuer Seuchen. Corona war demnach „der natürliche ‚Blowback‘, vor dem Umweltschützer schon lange gewarnt hatten“ (S. 12). Bezeichnender noch ist Corona für Tooze als Symptom in ganz anderer Hinsicht, nämlich als Ausdruck tiefgreifender Verwerfungen auf den Finanzmärkten, die wiederum mit Veränderungen seit den 1970er-Jahren zusammenhingen. Kurz gesagt beschreibt Tooze die Pandemie von 2020/21 als „umfassende Krise des neoliberalen Zeitalters“ (S. 32). Für diese Lesart greift er auf eigene Forschungen zurück, nicht zuletzt auf sein früheres Buch „Crashed“, das die Umbrüche im Kontext der Finanzkrise seit 2007 ausleuchtet.33 Hier, in der damaligen Fiskalpolitik, sieht Tooze eine Erklärung für die beispiellosen finanzpolitischen Reaktionen seit 2020. Umfassende Konjunkturmaßnahmen vieler Regierungen und Interventionen großer Notenbanken waren demnach eine Reaktion auf das Versagen von 2007/08. Corona markiert so den Höhepunkt einer Repolitisierung der Märkte und die Rückkehr staatlicher Kontrollansprüche gegenüber der Wirtschaft, sodass Tooze in der Pandemie sogar „das Totenglöckchen des Neoliberalismus“ läuten hörte (S. 22). Bedeutsam sei Corona nicht so sehr als Pandemie an sich, für die es viele Vorläuferinnen gebe, sondern als Indikator für eine beispiellose ökonomische Entwicklung: „In der Geschichte des modernen Kapitalismus hat es noch nie einen Moment gegeben, in dem fast 95% der Volkswirtschaften auf der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten, wie es in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Fall war.“ (S. 13)

Toozes Interpretation der Pandemie als Symptom globaler Finanzströme knüpft also an neuere Seuchengeschichten wie diejenige von Honigsbaum an, setzt indes einen stärkeren wirtschaftshistorischen Fokus. Vor diesem Hintergrund kann Tooze die große Bereitschaft zu weitgehenden Interventionen erklären. Mitunter stellt seine ökonomische Perspektive die Pandemie indes sehr in den Schatten. Mehrere Kapitel der „Welt im Lockdown“ konzentrieren sich ganz auf fiskalpolitische Konzepte und kommen fast ohne Bezug auf die Pandemie aus (v.a. die Kapitel 6–8, S. 127–197). Für Tooze ist Corona vielleicht auch deshalb ein Symptom, weil sich die Pandemie damit umso geschmeidiger in frühere Narrative einpassen lässt. Dieser Einwand betrifft allerdings nicht nur Toozes Darstellung, sondern letztlich alle Coronageschichten. Je stärker sich Historikerinnen und Historiker um eine tiefe gesellschaftsgeschichtliche Einordnung bemühen, desto schneller geraten das Virus und damit das Spezifische der Pandemiejahre aus dem Blick.

Offen bleibt in „Welt im Lockdown“ zudem die Frage, wie sich ein globaler Gleichklang staatlicher Interventionslust erklären lässt. So konstatiert Tooze für das erste Pandemiejahr eine wechselseitige Normierung unter dem Leitkonzept des Lockdowns: „Mitte März [2020] handelte die ganze Welt unter dem Zwang der gegenseitigen Beobachtung und Nachahmung. Das Herunterfahren, der Shutdown, wurde zur Norm.“ (S. 18) So überzeugend dieser Befund auf den ersten Blick für weite Teile Asiens und Westeuropas klingen mag, so erklärungsbedürftig bleibt er für andere Weltregionen. Darüber hinaus offenbart ein zweiter Blick schon auf die Eindämmungsmaßnahmen in Europa gravierende Gegensätze in der Umsetzung des Lockdowns. Schweden wird von Tooze selbst als markantes Beispiel für Abweichungen genannt. Aber auch sonst setzten Mitgliedsländer der Europäischen Union 2020 auf unterschiedliche „einzelstaatliche Maßnahmen“, von denen die EU-Kommission folglich „auf dem kalten Fuß erwischt wurde“ (Michael Gehler, Europa wachte langsam auf, handelte verspätet und ringt weiter mit sich. Die EU und ihr Umgang mit der Corona-Krise 2020, in: Rauchensteiner / Gehler, Corona, S. 67–94, hier S. 68).34 Darüber hinaus kann selbst beim Blick auf eine tiefere Ebene, auf Ebene der Bundesländer und Regionen, von einer Norm des Lockdowns keine Rede sein. Schon die unterschiedlichen Quarantänebestimmungen, Versammlungs- und Ausgangsbeschränkungen der Bundesländer zeichnen vielmehr ein buntes Bild, das Matthias Lemke in seinem Buch auch mit Rückgriff auf unterschiedliche Landesverfassungen überzeugend darstellt (S. 105–120). Während in Bayern vergleichsweise früh abendliche Ausgangsbeschränkungen umgesetzt wurden, gaben sich andere Länder sehr viel lockerer, und zwar nicht nur die „lässigen Rheinländer“35, wie die Coronabekämpfung in Nordrhein-Westfalen im März 2021 von der „ZEIT“ beschrieben wurde. Bundesländer wie Schleswig-Holstein griffen wiederum zu besonderen, mitunter sehr drastischen Maßnahmen, um Entschlossenheit und Tatkraft zu demonstrieren. So wurden im Mai und Juni 2020 Spaziergänger aus Hamburg an der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein zurückgewiesen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.36 Der Lockdown als Legitimationsmittel von Landes- und Kommunalpolitik macht insofern deutlich, dass Eindämmungsmaßnahmen nicht nur im globalen Rahmen, sondern ebenso im jeweiligen politischen Kontext konkreter Entscheidungsbefugnisse betrachtet werden sollten.

Obwohl Tooze also fiskalpolitische Entwicklungen als Triebfeder der Pandemiebekämpfung sowie den „Lockdown“ als globales Leitkonzept stellenweise überzeichnet, ist sein wirtschaftshistorischer Fokus auf Corona höchst anregend, nicht zuletzt für eine Geschichte der Gegenwart im Allgemeinen. Denn erst die Einbeziehung wirtschafts- und finanzpolitischer Kontexte und Konzepte erlaubt eine fundierte Analyse der sozialen Voraussetzungen, Verarbeitungen und Folgen der Pandemie. So wurden und werden die Nachwirkungen von Corona zumindest in Deutschland mittlerweile immer seltener an gesundheitlichen Folgen debattiert. „Long Covid“ und die erschreckend hohe Sterblichkeit von bis zu 1.000 Toten pro Woche nach gut drei Jahren Pandemie37 verkümmerten dabei fast schon zur Nebensächlichkeit. Als gravierender gelten seit 2022 hingegen wirtschaftliche Folgen, zumal diese durch ein weiteres Extremereignis, den russischen Krieg gegen die Ukraine, verstärkt wurden.

Tiefe Einblicke in gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Pandemie offenbart der Sammelband des Konstanzer Historikers Sven Reichardt zur Geschichte der „Querdenker“. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind in diesem Fall mitunter wörtlich zu nehmen, machte „Querdenken“ doch mit Demonstrationszügen und Spaziergängen auf der Straße Stimmung. In ihrer Einführung des Sammelbandes entwerfen Boris Holzer, Sebastian Koos und andere zunächst das Sozialprofil einer Protestbewegung als „Misstrauensgemeinschaft“, die zugleich den Sammelband betitelt. Misstrauen sei in zweifacher Hinsicht konstitutiv für die Bewegung und eine Art „Anker“ ihrer „kollektiven Identität“ (S. 12). Einerseits verbinde diese Bewegung die starke Ablehnung der Infektionsschutzmaßnahmen, andererseits definiere sich „Querdenken“ durch ein fundamentales Misstrauen gegenüber Politik, Rechtsstaat, Wissenschaft und „Mainstream-Medien“ als emanzipatorische Bewegung, die ihr „Gegenwissen“ zu verbreiten suche.

Das Konzept der „Misstrauensgemeinschaft“ ist für die Einordnung der Proteste auch deshalb so überzeugend, weil es die große Anschlussfähigkeit der „Querdenker“ für unterschiedliche politische Strömungen und Milieus erklärt. „Querdenken“ sorgte von Anfang an für Irritationen, weil in der bunten Bewegung „Reichsbürger“, Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten ebenso zusammenfanden wie Liberale, Esoteriker oder Gruppen der Umwelt- und Friedensbewegung. Sozialwissenschaftliche Studien von Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei unterfütterten diesen Eindruck bereits 2020 empirisch.38 Ihre Initialzündung erhielten die Proteste im Frühjahr 2020 demnach aus der kapitalismuskritischen Szene in Berlin, die als „Demokratischer Widerstand“ zum Vorreiter der Corona-Proteste wurde. Bis ins Jahr 2022 hinein galt die gleichnamige Zeitung auf Corona-Demos im Übrigen als Leitmedium.39 Reichardts Sammelband untermauert den Befund einer großen Anschlussfähigkeit auf Grundlage teilnehmender Beobachtungen, Befragungen sowie dank der Auswertung digitaler Kommunikationsmittel, durch die unterschiedliche Milieus leichter als früher zusammenfanden. Die „Misstrauensgemeinschaft“ ist somit ein plausibles Konzept, um das gewaltige Mobilisierungspotenzial der Kritik an den Maßnahmen zu erklären, auch in Abgrenzung von früheren Protestbewegungen der Bundesrepublik, die sich sehr viel stärker an einzelnen Parteien und spezifischen Milieus ausrichteten. Die Heterogenität von „Querdenken“ war keine Schwäche der Bewegung, sondern ihre Stärke – und die Voraussetzung für einen hohen Mobilisierungsgrad, den der Soziologe Sebastian Koos in diesem Band hervorhebt.

Auch wegen dieser überzeugenden Ergebnisse bietet Reichardts Sammelband ein Musterbeispiel, wie geschichts- und sozialwissenschaftliche Expertise zur Versachlichung gegenwärtiger Debatten beitragen kann. Aufgeladene Diskussionen um die Coronaproteste und abfällige Charakterisierungen der Protestierenden als „Aluhüte“ waren angesichts verbreiteter Sorgen vor dem unbekannten Virus zwar nachvollziehbar. Hilfreich waren solche Zuschreibungen allerdings nicht. Die berechtigte Kritik an einer fehlenden Ambiguitätstoleranz, die sich auf den Coronademos in manichäischen Weltbildern und wirren Verschwörungstheorien manifestierte, griff insofern zu kurz, als auch das Stereotyp des „Aluhuts“ letztlich die Vielfalt des Protests aus dem Blick verlor. Zweifellos fanden sich auf den Demos Rechtsextreme und „Reichsbürger“ ein, mit denen eine Auseinandersetzung unergiebig oder gar gefährlich war. Andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren für politische Diskussionen hingegen durchaus erreichbar, sodass „oberflächliche Beobachtungen“ von „Covidioten“ der Bandbreite des Protests nicht gerecht wurden, wie Boris Holzer, Sebastian Koos und andere konstatieren (S. 18).

Eine weitere Erkenntnis der Coronageschichte ist der Wandel des Protests. Während sich zu Beginn der Pandemie ein Großteil der Demonstrierenden aus dem linken und alternativen Spektrum speiste, verschob sich die Basis allmählich ins rechte Lager. Angriffe auf das Robert-Koch-Institut, auf Journalistinnen und Journalisten oder der „Sturm auf den Reichstag“ Ende August 2020 markierten eine Radikalisierung.40 Der Wandel wiederum bietet eine Erklärung für die Beobachtung, dass das Abflauen der Pandemie kein Ende der Proteste mit sich brachte. Für rechte Gruppen und Parteien war Corona ein willkommenes Vehikel, um Stimmung zu machen gegen „die da oben“ und die „Systempresse“, die von der Lebenswirklichkeit „der Menschen“ keine Ahnung hätten. Auch in diesem Fall, bei der Erforschung der Protestgeschichte, ist Corona nicht nur eine Ursache, sondern ebenso ein Ausdruck langfristiger Entwicklungen und tiefsitzender Vorstellungen, aus denen sich Erkenntnisse für eine Geschichte der Gegenwart gewinnen lassen. So arbeitet die Gruppe um Reichardt heraus, dass die Proteste als Zeichen populistischer Strömungen zu verstehen sind, die seit mehreren Jahren an Zulauf gewonnen haben. Bezüge zur Gelbwesten-Bewegung in Frankreich oder zu den Montagsdemonstrationen in Deutschland wurden von „Querdenken“ zum Teil sehr bewusst selbst gesetzt. Zudem sei „Querdenken“ symptomatisch für eine digitale Transformation sozialer Proteste im 21. Jahrhundert. Digitale Medien verbreiteten nämlich nicht nur „Gegenwissen“. Sie legten auch die Basis für spezifische Organisations- und Kommunikationsformen: „Sie boten eine technische Infrastruktur, um Protestaktionen in kurzer Zeit zu organisieren und überregional miteinander zu vernetzen. Darüber hinaus stellten sie eine Informationsökologie bereit, in der sich die Skepsis über konkrete politische Entscheidungen schnell und unkompliziert mit sehr viel allgemeineren und weitreichenden Formen des ‚Gegenwissens‘ verknüpfen konnte.“ (S. 20)

Kurz gesagt bettet die Deutung von Corona als Symptom die Pandemie tief in gesellschaftliche Entwicklungen ein. Globalisierungsphänomene und digitale Transformation, Populismus und zurückgehende Milieubindungen, die Ökonomisierung von Gesundheit41 und verschärfte soziale Ungleichheit sind Prozesse, die sich in den Coronageschichten wie unter einem Brennglas abzeichnen. Auch in dieser Hinsicht birgt Corona große Potenziale für eine Gesellschaftsgeschichte des 21. Jahrhunderts. Allerdings verweisen diese Potenziale zugleich auf ein Problem. Als Symptom und Katalysator droht die Pandemie hinter großen gesellschaftlichen Trends zu verschwinden. Corona verkommt dann zu einem bloßen Ausdruck oder gar Abklatsch tiefgehender sozialer Prozesse. Diese Suche nach Symptomen ist wiederum symptomatisch für eine Geschichte der Gegenwart. Der Bezug auf allgemeine Trends hilft zwar bei der gesellschaftlichen Einordnung aktueller Krisen, deren Ende wir noch nicht absehen können. Eine solche Geschichte verleitet allerdings dazu, das Besondere und Neue aus dem Blick zu verlieren.

Geschichte schreiben im digitalen Zeitalter

Gerade weil „Querdenken“ im Sammelband von Sven Reichardt als parteien-, milieu- und lagerübergreifendes Sammelbecken einer „Misstrauensgemeinschaft“ verstanden wird, hätten die Autorinnen und Autoren der Aufsätze vereinzelt noch explizitere historische Bezüge zwischen heutigen und älteren Protestbewegungen herstellen können. So liegen die ebenfalls sehr bunten Bewegungen der Impfgegner im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Vergleichsgröße für „Querdenken“ geradezu auf der Hand. Allein die organisierten deutschen Impfgegner zählten in Spitzenzeiten immerhin um die 320.000 Mitglieder. Sie brachten rechte, konservative, liberale und linke Akteure im Kampf für körperliche Selbstbestimmung und Freiheitsrechte zusammen sowie Verschwörungstheorien in Umlauf, die heutigen Fake News verblüffend oft ähneln.42 Die kruden, häufig aberwitzigen Vorstellungen von Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretikern täuschen schnell darüber hinweg, dass Verschwörungstheorien in sich durchaus „sinnvoll“ sind: Sie stiften Sinn, indem sie Erklärungen für neue Bedrohungen anbieten und Handlungsmächtigkeit suggerieren – und das im Übrigen schon seit der Antike.43 Verschwörungstheorien sind daher viel zu ergiebige Quellen für zeitgenössische Bedrohungswahrnehmungen, als dass man sie als bloße Spinnerei abtun sollte. Johannes Pantenburg, Sven Reichardt und Benedikt Sepp weisen dieses Potenzial für „Querdenken“ nach, das „anthroposophische Wissensbestände“ und das verbreitete „Körpergefühl“ gegen „eine materialistisch-technische Welt in Anschlag“ gebracht habe (Wissensparallelwelten der „Querdenker“, in: Reichardt, Misstrauensgemeinschaft, S. 29–65, hier S. 48). Auch hier lassen sich im Übrigen tiefe Wurzeln der Coronageschichte nachvollziehen, beispielsweise in der Modernekritik europäischer Impfgegner.44

Dass selbst die in Reichardts Sammelband vertretenen Historikerinnen und Historiker entsprechende Bezüge häufig außen vor lassen, hat mit einem weiteren überzeugenden Befund des Buchs zu tun, der das Mobilisierungspotenzial der „Misstrauensgemeinschaft“ nachvollziehbar macht. In der Einführung ebenso wie in den Aufsätzen von Boris Holzer und Isabell Otto wird „Querdenken“ nämlich als digitale Praxis charakterisiert. Kommunikationsplattformen wie Telegram seien zum einen eine „Radikalisierungsmaschine“ (Einleitung, S. 17). Sie ermöglichten Nachrichten-Gruppen von bis zu 200.000 Mitgliedern und verwandelten anonyme Gruppen-Nachrichten quasi automatisch in Posts für eine unbegrenzte Anzahl von Abonnentinnen und Abonnenten. Zum anderen bildeten Social Media wie YouTube, Facebook, Twitter oder TikTok eine ideale Infrastruktur für überregionale Netzwerke. „Querdenken“ sei auch deshalb ein Kind seiner Zeit, weil die Bewegung als eine spezifische „Konstellation der medialen Teilhabe zu verstehen“ sei, „die speziell an die soziotechnischen Strukturen und Machtbeziehungen digital vernetzter Medien gebunden ist“, wie Otto hervorhebt („Querdenken“ in Smartphone-Gemeinschaften. Digitale Skills und Medienmisstrauen in einem Telegram-Gruppenchat, in: Reichardt, Misstrauensgemeinschaft, S. 159–182, hier S. 178; siehe dort auch Boris Holzer, Zwischen Protest und Parodie: Strukturen der „Querdenken“-Kommunikation auf Telegram [und anderswo], S. 125–157).

Dieser Befund unterstreicht ein weiteres Potenzial von Coronageschichten für die Geschichte der Gegenwart: Sie machen den Wandel öffentlicher Kommunikation im digitalen Zeitalter und damit verbundene Effekte greifbar. Diesem überzeugenden Ansatz steht allerdings zugleich ein fundamentales Problem gegenüber – die prekäre Quellenlage. Einerseits ist „Querdenken“ wie keine andere Protestbewegung digital in einem solchen Ausmaß dokumentiert, dass Historikerinnen und Historiker von der Überlieferungslage im Grunde nur schwärmen können. Andererseits gehen jeden Tag zahlreiche dieser Quellen für die Forschung unweigerlich verloren, weil eine systematische Archivierung von Netz-Quellen zumindest in Deutschland nach wie vor ein Desiderat darstellt. Diese Beobachtung ist umso bedrückender, weil der Archivar Frank M. Bischoff und der Zeithistoriker Kiran Klaus Patel für die Sicherung und Interpretation digitaler Quellen bereits 2020 mit guten Gründen ein engeres Zusammengehen von Zeitgeschichte und Archiven gefordert haben.45

Obwohl mehrere Landes- und Kommunalarchive seit längerem an einer systematischen Sicherung von Webseiten und E-Mails arbeiten, steht die Archivierung von Twitter, YouTube und Facebook in Deutschland noch am Anfang – von Chatprogrammen wie WhatsApp oder Telegram ganz zu schweigen. Das Problem ist umso gravierender, wenn wir in die Anmerkungsapparate der hier rezensierten Bücher blicken. Bereits heute ist ein Teil der von ihnen zitierten Webseiten und Online-Ressourcen nicht mehr abrufbar. Der Rückzug zahlreicher Accounts von der Plattform Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk im Jahr 2022 erhöht die Gefahr einer digitalen Demenz noch. Fatal ist auch der Eindruck, den wichtige Zeitzeugnisse der Pandemie wie das Buch des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn hinterlassen. Spahns „Innenansichten einer Krise“ beruhen fast vollständig auf digitalen Quellenangaben, deren Überlieferungsdauer gering sein dürfte.46 Selbst die in der Wissenschaft üblichen Belege von Internetquellen mit der pflichtschuldigen Angabe des letzten Abrufdatums – wie auch in diesem Essay – suggerieren letztlich nur eine nachprüfbare Überlieferung. Und auch die private Sammlung von Screenshots oder das Ausdrucken digitaler Quellen bieten keine Lösungen gegen die drohende digitale Demenz, im Gegenteil: Privatsammlungen machen ein Nachprüfen von Belegen und damit ein Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens unmöglich.47 Die Coronageschichte mündet somit in den erneuten Appell, dass Archive und Geschichtswissenschaft die digitale Überlieferung stärker als bisher gemeinsam angehen müssen. Wenn wir in Zukunft eine Geschichte der Gegenwart schreiben möchten, müssen wir digitale Quellen konsequenter zur Grundlage von Forschung und Lehre machen.

Auf Abstand zur Gegenwart gehen

Seit einigen Jahren setzt sich die zeithistorische Forschung intensiv mit „Zeitenwenden“ auseinander und nimmt die allerjüngste Zeitgeschichte in den Blick.48 Studien zur Geschichte der Coronapandemie, zum russischen Überfall auf die Ukraine, zur digitalen Transformation, zum Populismus und zur Demokratiegeschichte im 21. Jahrhundert erhalten besonders oft eine Signatur der Zeitenwende und stehen damit unter dem Eindruck, dass etablierte Narrative zur Geschichte der Moderne weniger greifen als je zuvor.49 Doch nicht nur die Moderne veränderte sich im 21. Jahrhundert, sondern ebenso die Geschichtswissenschaft selbst. Am offensichtlichsten ist dies bei der digitalen Transformation von Quellen, Publikationen und Public History, aber auch mit Blick auf politische Rahmenbedingungen in Zeiten des Rechtspopulismus oder eines Rollenwandels von Historikerinnen und Historikern – vom „Public Intellectual“ zum Experten.50

Coronageschichte als Geschichte der Gegenwart ist damit eine Aufforderung, über die Grundlagen der (zeit-)historischen Zunft nachzudenken. Wann ist die Gegenwart reif für historische Forschungen, was also ist überhaupt die Geschichte einer Geschichte der Gegenwart? Und welche spezifischen geschichtswissenschaftlichen Kompetenzen sind zur Einordnung gegenwärtiger und gegenwartsnaher Entwicklungen besonders wichtig? Solche Fragen sind keineswegs neu. Die Aufarbeitung der DDR- und der Transformationsgeschichte begann im Grunde mit dem Mauerfall. Und schon frühe Analysen des „Dritten Reichs“ schrieben Zeitgeschichte in actu, als ein Ende des Nationalsozialismus noch nicht absehbar war.51 Immer wieder lieferten sich Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften Auseinandersetzungen beim Abstecken ihrer Forschungsfelder und damit um ihr disziplinäres Selbstverständnis. Die Geschichte der Gegenwart und die soziologisch geprägte Zeitdiagnostik haben also mittlerweile selbst eine lange Geschichte.

Dennoch gibt es einen markanten Wandel zeithistorischen Arbeitens im 21. Jahrhundert. Der lange Zeit gängige Rückzug auf archivalische Schutzfristen, die einen Zugriff auf Quellen frühestens nach 30 Jahren erlaubten, spielt heute kaum noch eine Rolle. Zum einen waren und sind viele Archive schon lange bemüht, Historikerinnen und Historikern mit Ausnahmegenehmigungen die Überlieferung der jüngsten Zeit zu erschließen. Zum anderen sind wesentliche Quellenarten heute digital und damit schneller als je zuvor verfügbar. Bundestagsprotokolle mit den Debatten über das Infektionsschutzgesetz beispielsweise standen 2020 und 2021 innerhalb weniger Tage als PDF-Dateien im Netz. Pressemeldungen von Ministerien, Behörden und Ämtern, Gutachten, Erlasse oder Protokolle – zum Beispiel die Aufzeichnungen der berüchtigten Bund-Länder-Konferenzen während der zweiten und dritten Coronawellen 2020/21 – wurden sogar in unterschiedlichen Verlaufsversionen innerhalb kürzester Frist digital angeboten. Noch größer ist der Effekt für die Überlieferung gesellschaftlicher Gruppen, sozialer Bewegungen und Proteste, die mittlerweile ganz überwiegend digital kommunizieren. „Querdenken“ ist zumindest in dieser Hinsicht tatsächlich ein Symptom und keine Ausnahme. Diese vorerst jüngste Protestbewegung steht paradigmatisch für einen digitalen Wandel von Öffentlichkeit, insbesondere von Gegen- und Teilöffentlichkeiten.

Ebenso groß wie berechtigt ist daher die Sorge der Archive, dass bislang klassische Überlieferungen für soziale Bewegungen – von Plakaten über Flyer bis hin zu Broschüren – kaum noch in Papierform abgegeben werden. Für das „Archiv der sozialen Demokratie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung haben Annabel Walz und Andreas Marquet die digitale Transformation der Überlieferung zu sozialen Bewegungen und politischen Parteien entsprechend auf den Punkt gebracht. Demnach „findet bei der umfangreichen Sammlung von Flugblättern und Flugschriften kaum mehr Zuwachs statt, weil digitale Kommunikationsformen sie zu großen Teilen ersetzt haben. Dabei haben soziale Medien eine besondere Stellung eingenommen.“52 Und nicht zuletzt befindet sich die Fachöffentlichkeit selbst in der digitalen Transformation, schaffen digitale Öffentlichkeitsarbeit, Vermittlungsangebote und Public History durch Podcasts, Websites und Social Media neue Formate und Kanäle der internen und externen Wissenschaftskommunikation.

Geschichte der Gegenwart ist also eine ständige Übung, auf Distanz zu sich selbst und zur eigenen Zeit gehen zu können. Damit stellt eine Geschichte der Gegenwart der zeithistorischen Zunft die Aufgabe, den eigenen Sehepunkt zum Ausgangspunkt einer Selbstreflexion über die Grenzen der Erkenntnis zu machen. Auch für dieses Vorhaben bringen Historikerinnen und Historiker besondere Kompetenzen mit. Sie können zumindest partiell auf Abstand gehen zur Gegenwart und zur eigenen Gesellschaft, sie können dank spezifischer Quellenarbeit multiperspektivische Einblicke auf gesellschaftlichen Wandel eröffnen, Diversität und Kontingenz also quasi erschreiben. Geschichte der Gegenwart bedeutet somit auch, dass wir es uns nicht zu einfach machen dürfen: weder mit der Geschichte noch mit der Gegenwart. Viele Coronageschichten sorgen für eine produktive Verunsicherung vorschneller Annahmen, sie hinterfragen populäre Parallelen, gängige Genealogien und historische Herleitungen. Ihre wichtigsten Erkenntnisse ziehen die Coronageschichten daher nicht aus der Seuchengeschichte in dem Sinne, dass frühere Pandemien als Bezugspunkte aktuelle Phänomene erklären, geschweige denn einfache Lösungen bieten. Produktiv wird die Verunsicherung hingegen durch eine zeithistorische Einordnung gegenwärtiger Prozesse, die scheinbar Nebensächliches oder Allgemeines als Voraussetzung und Folge aktueller Krisen beschreibt. Eine Geschichte der Gegenwart macht außerdem die Gegenwart als Prozess beobachtbar. „Die“ Coronapandemie, das zeigen vorliegende Coronageschichten eindrucksvoll, gab es nicht. Vielmehr ist die Pandemie ein dynamischer Prozess mit mehreren Phasen, den unterschiedliche, mitunter parallel verlaufende und widersprüchliche Entwicklungen prägten.

Für diese gleichsam mitwandernde Geschichte der Gegenwart ist noch viel zu tun. Vorliegende Arbeiten zur Coronageschichte eröffnen künftigen Forschungen mindestens zwei Perspektiven. Erstens wird Coronageschichte im Kontext der „Polykrise“ des 21. Jahrhunderts zu lesen sein. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erregen heute auch deshalb weniger Aufmerksamkeit als noch 2021, weil sie von denen des Ukrainekriegs überlagert werden. Allerdings kann Corona als Voraussetzung sowohl für wirtschaftliche Verschärfungen seit 2022 wie auch für politische Vermittlungsversuche betrachtet werden, in Deutschland zum Beispiel in Bezug auf die Praxis großzügiger Kompensationsleistungen, die nicht zuletzt als sozialer Kitt für demokratische Gesellschaften dienen sollen. Vom Coronabonus zur Gaspreisbremse war es kein weiter Weg.

Die Polykrise ist zweitens eine Geschichte sich öffnender und schließender Aufmerksamkeitsfenster, zu denen in Zukunft ebenfalls einiges zu forschen sein wird: Corona, Klimawandel und Kriege prägten politische Handlungsräume und gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster in unterschiedlichen Phasen mit unterschiedlicher Intensität – und beeinflussten sich wechselseitig. Ein ebenso wichtiges wie erschreckendes Ergebnis der Coronageschichten ist nämlich die Beobachtung, wie begrenzt die mediale Aufmerksamkeitsspanne im Angesicht einer langen Krise sein kann und wie die „Krise“ womöglich in eine „neue Normalität“ mündet.53

In Räumen die Zeit lesen

Coronageschichten der Zukunft sollten daher Vergleiche und Transfers stärker berücksichtigen. Obwohl große Darstellungen wie diejenigen von Mark Honigsbaum und Adam Tooze einen globalen Blick auf die aktuelle Pandemie eröffnen, leisten sie keinen systematischen Vergleich. Der britische Historiker Peter Baldwin hat in seiner Monographie von 2021 zumindest schon einmal eine international vergleichende Perspektive auf die Bekämpfung der ersten Welle vom Frühjahr 2020 eröffnet. Er arbeitet drei Muster im Umgang mit Corona heraus: von einer strikten Isolationspolitik über gezielte Quarantäne- und Testmaßnahmen bis hin zu pragmatischen Einzelschritten für eine langsamere Ausbreitung.54 In komparativer Perspektive wäre also noch viel zu tun. Schon der europäische Vergleich bleibt lohnend, um den unterschiedlichen nationalen Kontexten, Traditionen und Pfadabhängigkeiten, den Deutungen der Pandemie und den Praktiken ihrer Bekämpfung, aber auch den Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen nachzugehen. Christian J. Jäggis Studie zur Coronageschichte in der Schweiz oder Manfried Rauchensteiners und Michael Gehlers österreichische Coronageschichte (S. 9) verweisen beispielsweise auf Gemeinsamkeiten zu Deutschland, aber ebenso auf gravierende Unterschiede, zum Beispiel durch die Nähe Österreichs und der Schweiz zu Italien, durch die Skandalisierung des Skiorts Ischgl als erster europäischer Hotspot im Februar / März 2020 oder durch vergleichsweise frühe Lockerungen und Bagatellisierungen des Virus.55 Jens Beckerts Aufsatz zur Geschichte sozialer Ungleichheit in den USA 2020 oder die Beiträge zur Rolle der Religion während der Coronapandemie in Saudi-Arabien und in Iran von Noël van den Heuvel und Ulrike Freitag, aber ebenso die Geschichte lateinamerikanischer Proteste gegen Coronamaßnahmen von Stefan Rinke und nicht zuletzt die Studie von Martin Löhnig u.a. über „Pandemic Poland“ laden zum Vergleich geradezu ein.56 Den globalsten Zugriff auf die Coronageschichte bietet bislang übrigens ein ebenso voluminöser wie beeindruckender Bildband.57 Diese „Weltgeschichte“ der Pandemie (laut Verlagswerbung58) erschien im Oktober 2021 und präsentiert rund 500 Abbildungen aus 151 Ländern. Der Bildband formuliert daher nicht zuletzt ein Plädoyer für eine Visual History der Pandemie, die bislang noch nicht geschrieben ist.

Den Nutzen von Vergleichen unterstreichen ebenso die Regional- und die Stadtgeschichte. Corona hielt zwar die gesamte Welt in Atem. Vor Ort wurde die Pandemie jedoch unterschiedlich wahrgenommen und angegangen. Besonders häufig fürchteten sich die Deutschen im ersten Pandemiejahr beispielsweise vor Nordrhein-Westfalen (NRW) als bundesrepublikanischem „Seuchenherd“. Hotspots wie der Kreis Heinsberg, den selbst die ehrwürdige „Times“ im März 2020 zum „deutschen Wuhan“ erklärte, oder ein großer COVID-19-Ausbruch im fleischverarbeitenden Konzern Tönnies wenige Monate später brachten das Bundesland immer wieder in Verruf. NRW machte daher verhältnismäßig früh sowohl mit Feldversuchen und Eindämmungsmaßnahmen als auch mit neuen Alltagsritualen wie dem „Heinsberger Gruß“ (Ellenbogen an Ellenbogen) von sich reden.59 Auch die Folgen der Pandemie unterscheiden sich in regionaler und lokaler Perspektive erheblich. Deutschlands markantestes Beispiel einer Art Krisengewinnlerin ist wohl die Stadt Mainz, die als Biontech-Standort dank sprudelnder Gewerbesteuereinnahmen ungleich bessere Voraussetzungen zur Krisenbewältigung hat als andere deutsche Städte.

Ebenso ergiebig wie nationale, regionale und lokale Vergleiche sind Studien zur globalen Verflechtung. Da Pandemien per se weltumspannende Ereignisse sind, liegt die Perspektive einer histoire croisée zunächst einmal nahe. Der Teufel steckt indes im Detail, wie bereits Adam Toozes These vom „Lockdown“ als globaler Leitnorm zeigt. Die Geschichte der Pandemien ist somit eine Geschichte weltweiter Interaktionen und nationaler Grenzziehungen, die indes spezifische lokale, regionale und nationale Aneignungen und Aushandlungen sichtbar macht. Eine zukünftige Coronageschichte kann insofern einer „Glokalgeschichte“ neue Impulse geben, die globale Verflechtungen auf soziale und lokale Räume zurückführt und umgekehrt unterschiedliche Aneignungen von Welt „vor Ort“ berücksichtigt. Auch das ist also ein Befund der Coronageschichte: Während einer Pandemie wird die Welt zu einem Dorf, da wir weltweit ähnliche Ängste und Hoffnungen teilen.60 Aber jedes Dorf ist zugleich eine eigene Welt.

Fazit: Sujets und Subjekte einer Geschichte der Gegenwart

Zeitenwenden sind nicht deshalb ein Sujet der zeithistorischen Forschung, weil wir in letzter Zeit ständig welthistorische Zäsuren durchlebt hätten. Viele Historikerinnen und Historiker wiesen bereits beim Ausbruch der Pandemie 2020 oder mit Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 auf die mittel- und langfristigen Wurzeln gegenwärtiger Umbruchserfahrungen hin. Und trotzdem passt die Zeitenwende als Beschreibung, um gegenwärtige Trends der (nicht nur) zeithistorischen Forschung zu markieren. Seit mehreren Jahren diskutieren Historikerinnen und -historiker generell wieder besonders intensiv ihr Verhältnis zur Zeit, genau genommen: ihr Verhältnis zur Gegenwart.61 Zuvor galt die „Geschichte der Gegenwart“ meist als recht pragmatischer Epochenbegriff, in der Regel zur Bezeichnung der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte seit den 1970er-Jahren. Inzwischen steht mit der Geschichte der Gegenwart dagegen vermehrt das Selbstverständnis der (zeit-)historischen Zunft im Fokus. Dabei geht es zunächst einmal um die uralte Frage, wie Historikerinnen und Historiker Distanz zu sich selbst gewinnen und auf Abstand zur Gegenwart gehen können.62 Die Antworten auf diese Frage sind zweifellos hilfreich, um das Untersuchungsfeld einer Geschichte der Gegenwart präziser greifen zu können.

Allerdings stellt eine solche Geschichte nicht nur das Sujet der Zeitgeschichte, sondern ebenso ihre Subjekte in den Fokus, nämlich Historikerinnen und Historiker als Deutende von Gegenwart. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade in letzter Zeit zahlreiche Beiträge erschienen sind, die „Geschichtliche Grundfragen“63 und damit das Selbstverständnis der Schreibenden problematisieren. Wie politisch darf bzw. muss (Zeit-)Geschichte heute sein?64 Wo liegt die Grenze zwischen „Aktivismus und Wissenschaft“?65 Was genau ist die Gegenwartsrelevanz der deutschen Geschichtswissenschaft, sowohl im Vergleich zu den Sozial- und Politikwissenschaften als auch gegenüber der Geschichtswissenschaft im angelsächsischen Raum, die geringere Berührungsängste zur Geschichte der Gegenwart zeigt? Die Antworten auf diese Fragen könnten schließlich jenen „Social Studies of the Social Sciences“ weiteren Auftrieb geben, die für die Geschichtswissenschaft eine „empirisch gestützte Reflexivität qualitativen Forschungshandelns“ voranbringen möchten, wie es der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller fordert: „Von uns selbst sprechen wir“.66

In Debatten um die Geschichte der Gegenwart geht es also nicht allein um die Historisierung angeblicher Zeitenwenden, beispielsweise während der Pandemie oder in der Ukraine. Es geht ebenso um das Selbstverständnis der Zunft. Der Osteuropa-Historiker Andreas Hilger verweist daher auf das große Potenzial aktueller Debatten, „die Selbstzweifel offenlegen, Lücken des Fachs benennen und engagiert Entwicklungschancen diskutieren“, um zu einer „besseren allgemeinen Wahrnehmung“ der Osteuropäischen Geschichte beizutragen67 – und vielleicht, so könnte man ergänzen, auch der Geschichtswissenschaft insgesamt. Zeitenwenden als Impuls für eine Standortbestimmung und Selbstverortung könnten der Zunft insofern neue Wege in die Öffentlichkeit ebnen – kein ganz geringes Verdienst einer Geschichte der Gegenwart. Die Zeitenwende fordert uns also auch dazu auf, historische Forschung nicht allein vom Sujet, sondern ebenso von den Subjekten her zu denken und unseren eigenen Anteil an Zeitenwenden zu reflektieren.

Anmerkungen:
1 Frank Adloff, Zeit, Angst und (k)ein Ende der Hybris, in: Michael Volkmer / Karin Werner (Hrsg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld 2020, S. 145–153, hier S. 145, S. 152.
2 Vgl. die Website https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de (31.03.2023), und dazu die Rezension von Marian Kulig, in: H-Soz-Kult, 01.04.2023, https://www.hsozkult.de/webreview/id/reon-135281 (01.04.2023).
3 Fernsehansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Corona-Pandemie, 11.04.2020, S. 2, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2020/04/200411-TV-Ansprache-Corona.pdf (31.03.2023).
4 Vgl. u.a. Cornelius Borck, Soziologisches zur Pandemie VI. Eine Sammlung aktueller Wortmeldungen, in: Soziopolis, 10.07.2020, https://www.soziopolis.de/soziologisches-zur-pandemie-vi.html (31.03.2023); Karl-Heinz Leven, A Sound of Thunder. Von Pest, Grippe und Corona, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 73 (2022), S. 372–386.
5 Paul Nolte, Corona-Dispositive. Regularisierungen der Moderne in zeithistorischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 416–428, hier S. 426.
6 Im deutschsprachigen Raum erschien im Dezember 2020 das von Paul Nolte, Ute Frevert und Sven Reichardt herausgegebene Themenheft von „Geschichte und Gesellschaft“ (Heft 3/2020) mit dem Titel „Corona – Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven“ als einer der frühesten und wichtigsten Impulse zur Historisierung der Pandemie. Eine hervorragende Einordnung von COVID-19 in die Seuchengeschichte sowie eine Skizze erster Befunde der Coronageschichte aus medizingeschichtlicher Perspektive boten kurze Zeit später Jörg Vögele / Luisa Rittershaus / Katharina Schuler, Epidemics and Pandemics – the Historical Perspective: Introduction, in: Historical Social Research Supplement 33 (2021), S. 7–33, bes. S. 23–27, https://doi.org/10.12759/hsr.suppl.33.2021.7-33 (31.03.2023).
7 Martin Sabrow, Geschichte im Ausnahmezustand. Vier Thesen über Corona und die gesellschaftspolitischen Folgen, in: Deutschland Archiv, 01.05.2020, https://www.bpb.de/308316 (31.03.2023).
8 Vgl. weitere Literaturhinweise bei Malte Thießen, Geschichte ohne Ende. Corona und die jüngste Zeitgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 73 (2022), S. 431–449.
9 Kürzlich erschienen ist das Themenheft „COVID-19ff.“ von Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Heft 3–4/2022, mit Beiträgen zur Coronageschichte u.a. von Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon, Christoph Butterwegge, Roland Lhotta, Philipp Ther; sowie das Themenheft „Pandemie – Krise – Protest“ von Totalitarismus und Demokratie 19 (2022), Heft 2, https://www.vr-elibrary.de/toc/tode/19/2 (12.04.2023). Angekündigt sind: Karl-Heinz Leven, Seuchen. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Wien 2023; Alexander Krämer / Michael Medzech (Hrsg.), Covid-19 pandisziplinär und international. Gesundheitswissenschaftliche, gesellschaftspolitische und philosophische Hintergründe, Wiesbaden 2023; Kristopher Lovell (Hrsg.), #Record COVID19. Historicizing Experiences of the Pandemic, Berlin 2024.
10 Karl Heinz Roth, Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und die Folgen, München 2022.
11 Siehe https://gfds.de/wort-des-jahres-2022/ (31.03.2023).
12 Andere Disziplinen haben beim Bilanzieren mitunter geringere Skrupel. So präsentierte die Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler bereits im November 2020 „die“ Corona-Bilanz im Heyne-Verlag: Gertrud Höhler, Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Corona-Bilanz, München 2020.
13 Zur Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen der Historisierung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vgl. u.a. die Podiumsdiskussion des Verbands der Osteuropahistorikerinnen und -historiker zur „Zeitenwende in der Osteuropäischen Geschichte. Die Disziplin debattiert Russlands Krieg gegen die Ukraine“, 03.06.2022, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/voh_kolloquium221 (31.03.2023); Franziska Davies, Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der „Zeitenwende“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 73 (2023), Heft 10–11, S. 28–32, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/krieg-in-der-ukraine-2023/518833/ende-der-ostpolitik/ (31.03.2023); Martin Schulze-Wessel, Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, München 2023, v.a. S. 7–19.
14 Mein Essay ist das Ergebnis eines ebenso anregenden wie angenehmen Austausches mit Jan-Holger Kirsch vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), mit Claudia Prinz von der Humboldt-Universität zu Berlin sowie mit Teilnehmenden der von Reinhild Kreis organisierten Tagung „Geschichte der Gegenwart – Gegenwart der Geschichte“ im November 2022, auf der ich Befunde dieses Beitrags präsentieren durfte, und nicht zuletzt mit den Kolleginnen und Kollegen im Kolloquium des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Ihnen allen sei hiermit für Ergänzungs- und Verbesserungsvorschläge herzlich gedankt. In den inhaltlichen Zusammenhang des vorliegenden Themas gehört auch der H-Soz-Kult-Podcast „Geschichte schreiben in Echtzeit?“, veröffentlicht am 28.03.2023, bei dem mich Christine Bartlitz vom ZZF Potsdam befragt hat: https://www.hsozkult.de/webnews/id/webnews-135253 (31.03.2023).
15 Vgl. neben den bisher und im Folgenden genannten Publikationen v.a. das Themenheft „Corona-Krise“ von Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), Heft 35–37, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/314355/corona-krise/ (31.03.2023), u.a. mit Beiträgen von Frank Biess und Philipp Ther, sowie das von Jörg Vögele, Luisa Rittershaus und Katharina Schuler herausgegebene Themenheft „Epidemics and Pandemics – the Historical Perspective“ als Supplement 33 von Historical Social Research (2021), https://www.gesis.org/hsr/aktuelle-hefte/2021/suppl-33-epidemics-and-pandemics (31.03.2023), und nicht zuletzt zahlreiche geschichtswissenschaftliche Beiträge zur Seuchen- und Coronageschichte im Sammelband von Anne-Sophie Friedel u.a. (Red.), Corona. Pandemie und Krise, Bonn 2021. Der letztgenannte Band versammelt sowohl neue als auch aktualisierte Aufsätze früherer APuZ-Hefte und ist kostenlos downloadbar unter https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/SR10714_Corona_Pandemie_und_Krise_ba_210517.pdf (31.03.2023).
16 Vgl. jetzt die fundierte Übersicht und überzeugende Einordnung von Axel Hüntelmann / Susanne Michl / Livia Prüll, Medizingeschichte – Zeitgeschichte der Medizin, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 06.12.2022, https://docupedia.de/zg/Huentelmann_michl_pruell_medizingeschichte_v1_de_2022 (31.03.2023).
17 Vgl. u.a. frühere Überblicke zu Perspektiven und Schwerpunkten einer Zeitgeschichte der Medizin bei Frank Huisman / John H. Warner (Hrsg.), Locating Medical History. The Stories and their Meanings, Baltimore 2004; Thomas Schlich, Zeitgeschichte der Medizin: Herangehensweisen und Probleme, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 269–298; Hans-Georg Hofer / Lutz Sauerteig, Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin, in: ebd., S. 105–141.
18 Beide Studien wurden als Kooperationsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam vor Beginn der Coronapandemie begonnen. Vgl. jetzt die Ergebnisse von Lutz Kreller / Franziska Kuschel, Vom „Volkskörper“ zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2022; Jutta Braun, Politische Medizin. Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1950 bis 1970, Göttingen 2023.
19 Malte Thießen, Gesunde Zeiten. Perspektiven einer bundesdeutschen Zeitgeschichte der Gesundheit, in: Frank Bajohr u.a. (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 259–272; breiter und ausführlicher ders., Medizingeschichte in der Erweiterung. Perspektiven für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 535–599, https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd53/24_thiessen.pdf (31.03.2023).
20 Die DFG legte am 10. August 2020 eine „Fokus-Förderung COVID-19“ auf, das BMBF bot bereits seit März 2020 – so die Selbstdarstellung – „Förderprogramme mit einem Gesamtvolumen von fast 1,8 Milliarde Euro“. Vgl. https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/coronaviren-im-fokus-die-bmbf-forschungsforderung-15598.php (31.03.2023).
21 Einen guten Überblick deutschsprachiger Forschungsbeiträge der Sozialwissenschaften zu den „gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie“ bietet das „Corona-Forschungsarchiv“ des SOFI (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen): https://cofo-sofi.de (31.03.2023). Vgl. jetzt auch das von Corinna Kleinert und Michael Gebel herausgegebene Themenheft „The Covid-19 Pandemic and its Impact on Social Inequalities“, Soziale Welt 74 (2023), Heft 1.
22 Siehe https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/ (31.03.2023).
23 Andreas Sentker, Verräterische Muster, in: ZEIT, 29.12.2022, S. 31–32, hier S. 32.
24 Leven, Sound of Thunder, S. 386.
25 Margrit Pernau, Aus der Geschichte lernen? Die Rolle der Historiker:innen in der Krise, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 563–574, hier S. 571.
26 Merle Eisenberg, Dangerous Comparisons – Historical Pandemics and Covid-19, in: Manuela Gerlof / Rabea Rittgerodt (Hrsg.), 13 Perspectives on the Pandemic. Thinking in a State of Exception, Berlin 2020, S. 11–15, https://blog.degruyter.com/wp-content/uploads/2021/02/DG_13perspectives_humanities.pdf (31.03.2023).
27 Vgl. bereits Alfons Labisch, „Skandalisierte Krankheiten“ und „echte Killer“ – zur Wahrnehmung von Krankheiten in Presse und Öffentlichkeit, in: Michael Andel u.a. (Hrsg.), Propaganda, (Selbst-)Zensur, Sensation. Grenzen von Presse- und Wirtschaftsfreiheit in Deutschland und Tschechien seit 1871, Essen 2005, S. 273–289.
28 Philipp Sarasin, Mit Foucault die Pandemie verstehen?, in: Geschichte der Gegenwart, 25.03.2020, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/ (31.03.2023); vgl. die Zusammenstellung „klassischer“ Konzepte bei Andreas Folkers / Thomas Lemke (Hrsg.), Biopolitik. Ein Reader, Frankfurt am Main 2014.
29 Laetitia Lenel, Krise als Dauerzustand. Die Corona-Pandemie in der Geschichte der Gegenwart, in: Neue Politische Literatur 68 (2023), S. 1–16, https://doi.org/10.1007/s42520-022-00466-3 (31.03.2023).
30 Ebd.
31 Vgl. dazu bereits die grundlegenden Überlegungen bei Rüdiger Graf, Zwischen Handlungsmotivation und Ohnmachtserfahrung. Der Wandel des Krisenbegriffs im 20. Jahrhundert, in: Frank Bösch / Nicole Deitelhoff / Stefan Kroll (Hrsg.), Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden 2020, S. 17–38.
32 Vgl. für Deutschland zuletzt die überzeugende Dissertationsschrift von Sebastian Haus-Rybicki, Eine Seuche regieren. AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981–1995, Bielefeld 2022, sowie das Standardwerk von Henning Tümmers, AIDS. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen 2017.
33 Adam Tooze, Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, London 2018; dt.: Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Karsten Petersen und Thorsten Schmidt, München 2018.
34 Zur „europäischen Gesundheitspolitik“ vgl. bereits den konzisen Überblick von Kiran Klaus Patel, COVID-19 und die Europäische Union. Zur Geschichte eines Erwartungshorizonts, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 522–535, sowie jetzt auch Philipp Ther, Die COVID-19-Pandemie als Bewährung für die EU, in: Indes, Heft 3–4/2022, S. 148–159.
35 Tin Fischer / Matthias Schütte, Bayern oder NRW, was ist besser? Ein Ländervergleich aus gegebenem Anlass, in: ZEIT, 25.03.2021; zuvor bereits Holger Dambeck u.a., Zampano gegen Zauderer, in: Spiegel, 17.10.2020, S. 38–40.
36 Vgl. Malte Thießen, Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt am Main 2021, S. 64f.
37 In den letzten beiden Kalenderwochen des Jahres 2022 starben laut Robert-Koch-Institut (RKI) 1.167 Menschen (51. Kalenderwoche) bzw. 1.118 Menschen (52. Kalenderwoche) an COVID-19. Vgl. die laufend aktualisierte Übersicht des RKI zu COVID-19-Todesfällen nach Sterbe 31.03 unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/COVID-19_Todesfaelle.html (31.03.2023).
38 Oliver Nachtwey / Robert Schäfer / Nadine Frei, Politische Soziologie der Corona-Proteste. Grundauswertung 17.12.2020, Basel 2020, https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f (31.03.2023).
39 Thießen, Auf Abstand, S. 134f.
40 Vgl. Johannes Pantenburg / Sven Reichardt / Benedikt Sepp, Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 71 (2021), Heft 3–4, S. 22–27, bes. S. 27, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissen-2021/ (31.03.2023).
41 Vgl. das von Hartmut Berghoff und mir herausgegebene Themenheft „Gesundheitsökonomien“, Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 17 (2020), Heft 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2020 (31.03.2023).
42 Zur Organisation der Impfgegner im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Karl-Heinz Leven, Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2008, S. 83; Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 31–38.
43 Vgl. jetzt die Beiträge in Marcel Bubert / André Krischert (Hrsg.), Zwischen Gottesstrafe und Verschwörungstheorien. Deutungskonkurrenzen bei Epidemien von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2023.
44 Für eine historische Einordnung der deutschsprachigen Impfkritik, der Verschwörungstheorien und Debatten um die Impfpflicht während der Coronapandemie siehe u.a. Malte Thießen, Immunity as Relativity. German Vaccination Campaigns and Debates in Times of COVID-19, in: Historical Social Research 46 (2021), Heft 4, S. 316–338, https://doi.org/10.12759/hsr.46.2021.4.316-338 (31.03.2023).
45 Frank M. Bischoff / Kiran Klaus Patel, Was auf dem Spiel steht. Über den Preis des Schweigens zwischen Geschichtswissenschaft und Archiven im digitalen Zeitalter, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 145–156, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5822 (31.03.2023).
46 Jens Spahn / Olaf Köhne / Peter Käfferlein, Wir werden einander viel verzeihen müssen. Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise, München 2022.
47 Vgl. weiterführende Überlegungen und Literaturbelege bei Malte Thießen, Das Internet archivieren. Digitale Überlieferung als Voraussetzung zeithistorischer Forschungen, in: Archivpflege für Westfalen-Lippe 96 (2022), S. 40–46, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:2-1646179 (31.03.2023).
48 Vgl. die Ankündigung des Österreichischen Zeitgeschichtetags im April 2024 zum Thema „Zeitenwenden – Wendezeiten?“, in: H-Soz-Kult, 17.03.2023, https://www.hsozkult.de/event/id/event-134764 (31.03.2023).
49 Vgl. dazu bereits die theoretischen Überlegungen u.a. bei Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019; Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021.
50 Paul Nolte, Volk und Philosophenkönig. Historische Schatten eines aktuellen Problems. Abendvortrag zur Tagung „Demokratie und Expertise“ an der RWTH Aachen, 08./09.12.2022.
51 Vgl. etwa die Beiträge in Rüdiger Hachtmann / Franka Maubach / Markus Roth (Hrsg.), Zeitdiagnose im Exil. Zur Deutung des Nationalsozialismus nach 1933, Göttingen 2020.
52 Vgl. Annabel Walz / Andreas Marquet, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Sicher Sichern? Social Media-Archivierung aus rechtlicher Perspektive im Archiv der sozialen Demokratie, Bonn 2022, S. 7–14, hier S. 7, https://library.fes.de/pdf-files/adsd/19590.pdf (31.03.2023).
53 Vgl. Stephan Lessenich, Nicht mehr normal. Gesellschaft am Ende des Nervenzusammenbruchs, München 2022; Jörn Ahrens, Neue Normalität. Über eine Leitkategorie in Zeiten der Pandemie, Weilerswist 2022.
54 Peter Baldwin, Fighting the First Wave. Why the Coronavirus Was Tackled So Differently Across the Globe, Cambridge 2021. Der Band erschien bereits im März 2021.
55 Vgl. die komparativen Überlegungen im Kapitel „Naheliegende, aber falsche Antworten“ bei Christian J. Jäggi, Die Corona-Pandemie und ihre Folgen, Wiesbaden 2021, S. 109–155.
56 Jens Beckert, All Viruses are Created Equal. Corona-Epidemie und soziale Ungleichheit in den USA, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 468–480; Noël van den Heuvel / Ulrike Freitag, Religion und Pandemie. Staat, Religion und Gesellschaft in Saudi-Arabien und Iran in der Coronakrise, in: ebd., S. 494–506; Stefan Rinke, Sozialer Protest in Pandemiezeiten in Lateinamerika. Von der „Spanischen Grippe“ zu Corona, in: ebd., S. 481–493; Martin Löhnig / Maciej Serowaniec / Zbigniew Witkowski (Hrsg.), Pandemic Poland. Impacts of Covid-19 on Polish Law, Wien 2021.
57 Marielle Eudes (Hrsg.), Pandemie. Chronik eines Weltgeschehens, München 2021.
58 Der Verlag bewirbt den Band als „einmalige Dokumentation der Weltgeschichte eines Virus“: https://www.knesebeck-verlag.de/pandemie/t-1/1034 (31.03.2023).
59 Vgl. Malte Thießen, Seuchengeschichte in Echtzeit. Zur Geschichte der Coronapandemie in Nordrhein-Westfalen, in: Geschichte im Westen 37 (2022), S. 195–211.
60 Ivan Krastev, Das Coronavirus in der „geschlossenen Gesellschaft“, in: Tagesspiegel, 03.01.2021, https://www.tagesspiegel.de/politik/aber-wie-lang-wird-die-erinnerung-an-unsere-eigene-seuche-anhalten-6599857.html (31.03.2023). In der Druckausgabe erschien der Artikel unter dem Titel „Plötzlich war ich wieder Bulgare“ (Tagesspiegel, 02.01.2021, S. 6).
61 Vgl. u.a. Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, https://docupedia.de/zg/graf_zeit_und_zeitkonzeptionen_v2_de_2012 (31.03.2023); Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020; Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012; ders., Zeitenwende in der Zeitgeschichte, Göttingen 2023 (angekündigt für Juni).
62 Vgl. die Beiträge von Benno Gammerl, Christoph Kalter und Lyndal Roper zur Frage „Wie bestimmt die Distanz zum Untersuchungsgegenstand den Forschungsprozess?“ im Rahmen der Diskussionsreihe „Geschichtliche Grundfragen“ des ZZF am 06.02.2023: https://zeitgeschichte-online.de/themen/benno-gammerl-teil-6-wie-bestimmt-die-distanz-zum-untersuchungsgegenstand-den, https://zeitgeschichte-online.de/themen/christoph-kalter-teil-6-wie-bestimmt-die-distanz-zum-untersuchungsgegenstand-den, https://zeitgeschichte-online.de/themen/lyndal-roper-teil-6-wie-bestimmt-die-distanz-zum-untersuchungsgegenstand-den (13.04.2023).
63 Die Beiträge der 2021 gestarteten gleichnamigen Diskussionsreihe des ZZF finden sich unter https://zeitgeschichte-online.de/themen/geschichtliche-grundfragen (31.03.2023).
64 Vgl. Frank Böschs Eingangsstatement zum dritten Teil der Diskussionsrunde „Geschichtliche Grundfragen“: Frank Bösch (Teil 3), Wie politisch kann, soll und muss Geschichtsschreibung sein?, in: Zeitgeschichte-online, 06.09.2022, https://zeitgeschichte-online.de/themen/frank-boesch-teil-3-wie-politisch-kann-soll-und-muss-geschichtsschreibung-sein (31.03.2023).
65 Vgl. z.B. die aktuellen Bezüge der für Anfang 2024 geplanten Tagung „Von Aktivismus und Wissen(schaft) – Wissensgeschichte der Neuen Sozialen Bewegungen“ an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/index.php/veranstaltungen/articles/tagung-587.html (31.03.2023).
66 Beide Zitate im Call for Articles von Thomas Etzemüller zur FQS-Debatte: „Von uns selbst sprechen wir! Erkundungen kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeitens“, 26.03.2021, https://www.hsozkult.de/event/id/event-96534 (31.03.2023). Siehe auch die bisher veröffentlichten Beiträge unter https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/sections/deb/explore/texts (31.03.2023).
67 Andreas Hilger, Ein Fach diskutiert über sich selbst. Der russische Krieg gegen die Ukraine und die Osteuropäische Geschichte in Deutschland, in: Merkur 77 (2023), Heft 3, S. 78–85, hier S. 85.

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