K. Rudolph u.a.: Große Politik, kleine Begegnungen

Cover
Titel
Große Politik, kleine Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt


Autor(en)
Rudolph, Karsten; Wüstenhagen, Jana
Erschienen
Berlin 2006: Vorwaerts Buch
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burghard Ciesla

Seit 1165 finden in Leipzig Warenmessen statt. Die Leipziger Messe gilt mit ihrer mehr als 840jährigen Tradition als die älteste internationale Messe überhaupt; sie wird auch als „Mutter aller Messen“ bezeichnet und ist eine Drehscheibe im Ost-West-Handel. Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen widmen sich dem jüngsten Kapitel dieser traditionsreichen Messegeschichte. Sie erzählen von den Leipziger Messen in der Zeit des Ost-West-Konfliktes (1945-1990). Dabei setzen sie aber voraus, dass jeder von Anfang an weiß, was es mit der Leipziger Messe – mit Universal-, Fach- und Mustermessen; Frühjahrs- und Herbstmesse; Messeorganisation und Messeamt, DDR-Außenhandel usw. – auf sich hat. Etwas „mehr“ Messegeschichte oder einige kompakte Erläuterungen des Messegeschäfts gleich im Einführungskapitel oder als Exkurs und nicht verstreut im Buch wären hier hilfreich gewesen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg – im Kalten Krieg, während der deutschen Zweistaatlichkeit und der Systemkonfrontation – ging es bei der Leipziger Messe neben dem Geschäft vor allem auch um Politik, Ideologie, Prestige und Propaganda. In Leipzig trafen nicht nur Geschäftsleute aus Ost und West aufeinander: Die Staats- und Parteiführung der DDR nutzte die Leipziger Messer als Aushängeschild und außenpolitische Ersatzplattform. Die Leistungsschau bot zugleich Raum für private deutsch-deutsche Begegnungen, da es zu den Messen Reiseerleichterungen für Besucher aus dem Westen gab. Es entwickelte sich eine eigentümliche Mischung aus Geschäftsmesse, Staatsspektakel und Familientreffen. Dadurch wurde die Leipziger Messe aber auch schnell zur großen „Spielwiese“ des Ministeriums für Staatssicherheit. Möglichst flächendeckend und umfassend sollte das Messegeschehen kontrolliert werden, was aber trotz eines enormen Aufgebots und immer feinerer Kontrollmethoden bis zum Ende der DDR nicht gelang. Natürlich benutzte auch die Bonner Politik die Leipziger Messe als Plattform. Bis in die 1960er-Jahre hinein gab es bei der Bundesregierung jedoch keine klare Positionierung. Manche bundesdeutschen Unternehmer, die in Krisenzeiten trotz einer Nichtreiseempfehlung aus Bonn an der Leipziger Messe teilnahmen, mussten mit harscher Kritik rechnen, die auch schon einmal im Vorwurf des Landesverrats gipfelte. Wie auch immer, mit der Neuen Ostpolitik änderte sich die Haltung der Bundesregierung; ab den 1970er-Jahren galt die Teilnahme an den jährlichen Leipziger Messen als „politisch korrekt“.

Diese facettenreiche und nicht selten gegenläufige Geschichte haben Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen als politik- und zeithistorische Studie aufschlussreich und interessant dargestellt. Sie zeigen sowohl das Außergewöhnliche als auch das Alltägliche, und sie lassen erkennen, dass es in der DDR neben Berlin noch eine zweite große „Schnittstelle“ im Kalten Krieg gegeben hat – die Leipziger Messe. Ihre Spurensuche nach dieser bislang wenig beleuchteten Ost-West-Geschichte gestattet einige überraschende Einblicke in das Verhalten der bundesdeutschen Wirtschaft und Politik, der SED-Führung und der Staatssicherheit. Methodisch einleuchtend wird die Geschichte der Leipziger Messe in sechs Kapiteln im Kontext der Ereignisse und Zäsuren der deutschen Nachkriegsgeschichte erzählt.

Die zeithistorische Einordnung gerät mitunter aber etwas holzschnittartig und zu kurz, was sowohl bei den Kennern der Materie als auch bei den Lesern mit weniger Hintergrundwissen zu Missverständnissen bzw. Fehlinterpretationen führen kann. Ein Beispiel: Im vierten Kapitel wird die Unterzeichnung des ersten Passierscheinabkommens am 17. Dezember 1963 erwähnt. Im dann folgenden Satz ist zu lesen: „Doch auch danach schloss die DDR mehrere Male die Übergangsstellen.“ (S. 116) So willkürlich der Mauerbau 1961 durch die DDR auch war und die dann mehr als zweijährige Nicht-Regelung von Besuchen im Osten auf den Menschen in West-Berlin lastete, so sollte doch korrekt vermerkt werden, dass es beim ersten Passierscheinabkommen von vornherein klar war, dass die Besuche nur für einen kurzen Zeitraum galten: vom 18. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964. Danach schlossen sich die Übergangsstellen wieder, und weitere Besuchsvereinbarungen mussten erneut ausgehandelt werden. Bis 1966 folgten dann noch drei Passierscheinvereinbarungen, die Besuche zu Weihnachten/Jahreswechsel, Ostern und Pfingsten zwischen 1964 und 1966 ermöglichten. In ihrem Buch weisen Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen zudem darauf hin, dass West-Berliner ihre Familientreffen in dieser Zeit von Leipzig nach Ost-Berlin verlegten, was wiederum den Schluss zulässt, dass nun die Besucherzahlen aus West-Berlin noch weiter absanken (S. 121). Ein Blick in die Besuchsstatistik der Messen im Anhang des Buches (S. 189) zeigt aber, dass sich die Besucherzahlen aus West-Berlin von 1963 zu 1964 – auch die Besuche aus der Bundesrepublik stiegen signifikant – mehr als verdoppelten und sich dieses Niveau bis 1966 hielt. Im Jahre 1967 – als es keine Passierscheinregelung mehr gab – stieg die Besucherzahl gegenüber dem Vorjahr noch einmal an. Im Jahre 1968 sank die Zahl wieder um etwa die Hälfte ab und 1969 war die Besucherzahl etwa auf dem Niveau des Endes der 1950er-Jahre angelangt. Hieraus ergeben sich durchaus interessante Fragen, denen im Buch aber nicht weiter gefolgt wird.

Nach einer Einführung werden im ersten und zweiten Kapitel die erste Nachkriegsmesse (1946) und die frühen Jahre des Kalten Krieges (1947-1951) behandelt. Hier geht es unter anderem um die Kontinuitäten und Brüche in den Biographien des Messepersonals, um das Verhalten der alliierten Sieger im sich zeigenden Systemgegensatz und um die politische Instrumentalisierung durch die SED-Führung. Danach fokussiert das Buch im dritten Kapitel die Auswirkungen des 17. Juni 1953 auf das Messegeschehen (1953/54). Die Leipziger Messe wurde nicht zuletzt dadurch zu einem dauerhaften Betätigungsfeld der Staatssicherheit. Es gab in dieser Zeit aber auch Visionen über die Leipziger Messe. Im Buch wird darauf nicht eingegangen; doch sei an die Zukunftsgeschichte „Messeabenteuer 1999“ von Werner Bender erinnert, die 1956 vom Kinderbuchverlag der DDR veröffentlicht wurde. Bender beschreibt die Leipziger Messe von 1999 als „Weltmesse“ in einem vereinten Deutschland. Zwanzig Jahre später wurde das Buch unter dem Titel „Abenteuer mit Blasius“ von der DEFA in Co-Produktion verfilmt. Natürlich reist einer der Helden des Buches dann nicht mehr mit dem „Fliegenden Leipziger“ aus München in die „Stadt der Weltmesse“, sondern in den 1970er-Jahren kommt er aus Prag. Überhaupt, in einigen DEFA-Filmen bildet die Leipziger Messe den Hintergrund für die Filmhandlung. Zuletzt wohl in der DEFA-Komödie „Zwei schräge Vogel. Der Sozialismus braucht jeden, nur keiner weiß, wo“ (1989). Das Ende des Films spielt auf der Leipziger Frühjahrsmesse, wo einer der Haupthelden fragt, was er denn sagen solle, wenn er von einer „Persönlichkeit“ – beim großen Rundgang der SED-Führung (Filmeinstellung: lauter dunkle Anzüge in Bewegung) – gefragt werden würde. Antwort: „Was sie sagen sollen, steht im Protokoll und sie stehen nicht drin.“

Im vierten Kapitel wird die Leipziger Messe im Zusammenhang mit der zweiten Berlin-Krise (1958-1962) und vor allem im Hinblick auf die Wirkungen des Mauerbaus (1961) betrachtet. Wenige Wochen nach dem Mauerbau gab es übrigens auf der Herbstmesse 1961 – das Messeamt war überrascht – kaum Absagen von westlichen Unternehmen. Der Bundesregierung war es nicht gelungen, „eine Boykottfront der westlichen Industrieländer herzustellen“ (S. 110). Der Wandel hin zu einer vorrangigen Handelsmesse („Wirtschaft ist Wirtschaft und Politik ist Politik“) im Rahmen der neuen Ostpolitik steht im fünften Kapitel (1965-1975) im Mittelpunkt. Die „Anerkennungswelle“ der DDR (1973/74) und die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki (1975) führten dazu, dass der handelspolitische Charakter der Leipziger Messe noch stärker in den Vordergrund trat. Ein großes Staatsspektakel mit außenpolitischen Signalen und Gesten blieb die Messe aber – Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen relativieren hier für die Zeit nach 1975 (S. 134-135, 165-166) etwas – bis zuletzt. Immerhin ließ es sich SED-Chef Honecker auch nach 1975 nicht nehmen, die Frühjahrs- und Herbstmesse persönlich Jahr für Jahr mit einem Rundgang zu eröffnen. Die Berichterstattung über diese Eröffnungsrundgänge nahm dann in den 1980er-Jahren kabarettistische Züge an. So füllte z.B. in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ vom 12. März 1984 Honeckers Messerundgang ganze sieben von insgesamt acht Seiten. Bei aller Propagandamechanik, Selbstlobrhetorik und Auslegungsmacht – die genauen Schilderungen des Rundgangs in „Neues Deutschland“, die Nennung von Zahlen, die Platzierung der Gesprächspartner, die Auswahl der Zitate bis hin zu den Veröffentlichungen der Grußtelegramme der US-Präsidenten bieten eine durchaus aufschlussreiche Materialquelle und Vergleichsfolie.

Im sechsten Kapitel (1976-1990) wird das Messegeschehen in der Ära Honecker besonders aus dem Blickwinkel der Staatssicherheit dargelegt. Auf diese Weise zeigt sich, wie sich am Rande der Messe zunehmend Oppositionelle, Bürgerrechtler, Künstler oder eben mit der DDR unzufriedene Menschen sammelten. Sie nutzten die Tatsache, dass die DDR-Behörden einen direkten Zugriff unter den Augen der Öffentlichkeit während der Messen scheuten.

Im Buch gibt es neben dem schon erwähnten Statistikanhang zudem einen kommentierten Bildteil und einige ergänzende Zeitzeugeninterviews. Zur Verfügung steht auch ein nützliches zeithistorisches Sachverzeichnis. Neben Unternehmensarchiven wurden relevante Bestände aus Landes-, Staats- und Bundesarchiven genutzt. Schwerpunkte bilden hierbei das Material des Leipziger Messeamtes aus dem Sächsischen Staatsarchiv und – wie schon deutlich gemacht – verschiedene Bestände des Archivs der BStU.

Kritisch bleibt anzumerken, dass auch eine politik- und zeithistorische Untersuchung der Leipziger Messe mehr Aufmerksamkeit im Hinblick auf die ökonomischen bzw. außenwirtschaftlichen Zusammenhänge erfordert. Inhaltlich und methodisch erscheint es wichtig, dass bei einer solchen Thematik stärker die Rolle des DDR-Außenhandels, der Kommerziellen Koordinierung (KoKo), der Lizenzgeschäfte zur Aufholung des technologischen Rückstands (z.B. Konzeptionen zur Leipziger Herbstmesse 1968) und die Mechanismen des Ost-West-Handels Berücksichtigung finden.

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