J. Kibel: Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit

Cover
Titel
Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit. Kollektivierungsdiskurse und ihre Codes der Verräumlichung


Autor(en)
Kibel, Jochen
Reihe
Re-Figuration von Räumen (2)
Anzahl Seiten
378 S., 40 Abb.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Leibniz-Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Jochen Kibel analysiert in Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit raumzeitliche Ordnungsmuster, die den Umgang mit dem Bauerbe in Deutschland seit der Jahrtausendwende prägen. Dazu wählt er zwei Beispiele, die weit über den engeren Kreis von Expert:innen der Denkmalpflege, Architektur und Museumswissenschaften hinaus in den Feuilletons debattiert wurden: die Diskussionen um die „ergänzende Wiederherstellung“ des Neuen Museums in Berlin durch David Chipperfield, die insbesondere zur Sichtbarmachung unterschiedlicher Zeitschichten des 19. und 20. Jahrhunderts geführt hat, und den durch Daniel Libeskind konzipierten Umbau des Dresdner Militärhistorischen Museums, das seither von einem herausragenden Keil geprägt wird, der nicht nur den Bruch mit militärischen Traditionen und Militarismus verkörpern soll, sondern auch Brüche der deutschen Geschichte im Allgemeinen.

Entstanden im Umfeld des interdisziplinären Graduiertenkollegs „Identität und Erbe“ sowie des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“ an der Technischen Universität Berlin, schlägt Kibels Dissertation einen soziologisch informierten Weg ein. Es geht ihm weniger um die Einordnung der Debatten in die Geschichts- und Erinnerungskultur oder in denkmalpflegerische Traditionen, sondern um einen Beitrag zur „Soziologie sozialer Gedächtnisse“ (S. 15), der deutlich machen will, welche kollektiven Selbstbilder in den Debatten um das Bauerbe formuliert werden und welche Vorstellungen von Zeit und Raum ihnen inhärent sind. Ausgehend von raumtheoretischen und zeitdiagnostischen Arbeiten von Zygmunt Bauman und anderen, die auf die Fragmentierung der Lebensverhältnisse und die Fluidität von Selbstentwürfen in der Spätmoderne im Zuge der Globalisierung verwiesen haben, fragt Kibel nach dem sozialintegrativen Potential von Geschichtsvorstellungen in einer Zeit, in der – so von Bauman nahegelegt – zyklische oder auch lineare und fortschrittsgläubige Zeitdeutungen von episodischen und pointilistischen Zeitbezügen abgelöst wurden.1 Gesucht wird damit auch nach Kohärenzangeboten jenseits fluider Identitätskonstruktionen – und zwar durch Geschichte im öffentlichen Raum bzw. durch „Diskursivierung“ von Räumen und Bauerbe.

Aus dem konsequent eingeschlagenen diskursanalytischen Zugriff kann über Raumwirkungen architektonischer Gestaltung allenfalls etwas anhand von Architekturinterpretation und -kritik gesagt werden. Kibel konzentriert sich deshalb auf „Codes der Verräumlichung“, d.h. auf „die Logik der Relationierung, mit der Räume zueinander in Bezug gesetzt werden“ (S. 112). Diskursive Grenzziehungen kommen in den Blick (etwa zwischen der Wertschätzung „originaler“ Baubestände im Gegensatz zu baulichen Transformationen), ebenso wie Formen der durch diese Abgrenzungen vollzogenen „Befremdung“, d.h. dem möglichen Ausschluss von „Fremdem“, von „Fremdheit“, oder als reflexive Form: die Möglichkeit der „iterativen Selbstbefremdung“, die besonders im kritischen Umgang mit Vergangenheit deutlich wird.

Das zentrale Ergebnis der Studie ist die Herausarbeitung drei idealtypischer, raumzeitlich geprägter „Kollektivierungsdiskurse“, die den deutschen Umgang mit dem historischen Bauerbe und die von Kibel betrachtete Re-Konfigurationen von Räumen seit den 2000er-Jahren bestimmen: ein „heroischer Diskurs“, den der Autor besonders in Forderungen „originalgetreuer Rekonstruktion“ erkennt; ein „historizistischer Diskurs“, der sich der dokumentarischen Genauigkeit verpflichtet sieht und ein Faible für die Visualisierung von Zeitschichten hat; und ein „reflexiver Diskurs“, den Kibel anhand des Selbstverständnisses und inszenierten Bruchs des Militärhistorischen Museums ausmacht. Diese drei Diskursformationen werden in einer Matrix weiter differenziert: nach der ihnen eingeschriebenen Reflexivität, ihrem dominanten Zeitverständnis, nach den Modi der Vergangenheitsaneignung bzw. -distanzierung, nach ihrem Identifikationspotential, ihrem Raumverständnis, nach damit verbundenen raumbezogenen Codes und schließlich ihrem Befremdungspotential (S. 338).

Kibel deutet Positionen, die sich gegen die Entwürfe von Chipperfield und Libeskind wandten und eine „originalgetreue Rekonstruktion“ forderten oder sich gegen die Sichtbarmachung von Zeitschichten und Brüchen aussprachen, als Versuche einer (nationalen) „Wiedererweckung“ und Kampf gegen eine „raumzeitliche Verunreinigung“ (S. 157–189). Verfallsdiagnose der Gegenwart, Kritik „moderner“ Architektursprachen, Idealisierung der Vergangenheit – etwa durch „große Architekten“ wie Friedrich August Stüler – und der Ruf nach Konstanz prägen diesen Diskurs. Kibel gelingt es hier, auf Familienähnlichkeiten diskursiver Versatzstücke und Topoi hinzuweisen, die sich sowohl im Diskurs der originalgetreuen Rekonstruktion als auch in rechtskonservativen, populistischen und neu-rechten Diskursen finden.

Während dieser heroische Vergangenheitsdiskurs auf den Ausschluss des Fremden ziele, gelinge es dem historizistischen Kollektivierungsdiskurs, Fremdheit und Andersartigkeit – sei es etwa in der Form „disparate[r] Gebäudeteile“ oder einer ambivalenten modernen Baukultur – „zu einer Einheit zu synthetisieren“ (S. 324). Der historizistische Diskurs zeichne sich insofern durch eine „subtile Homogenisierung“ (ebd.) aus, die sich der Figur der „Harmonie des Unharmonischen“ bediene und Identität im Modus kontinuierlichen Wandels ermögliche. Demgegenüber könne der reflexive, letztlich „postheroische“ Kollektivierungsdiskurs „trotz diskontinuierlicher Abkehr von der Vergangenheit und anhaltender Selbstkritik in der Gegenwart und Zukunft […] durch eine stereotype Autokommunikation, in der gerade ‚Reflexivität‘ einen zentralen Topos darstellt, Identität“ begründen (S. 333).

Eine der zentralen Thesen der Arbeit ist es, dass auch in der Gegenwart zyklische und lineare Zeitvorstellungen existieren. Während zyklische Vorstellungen in den mythischen Heroisierungen populistischer, nationalistischer und reaktionärer Diskurse zu erkennen seien, werde im dokumentarischen „Historizismus“ – will man überhaupt dieser Karl Popper entlehnten Terminologie folgen – Kontinuität und damit „linearer“ Wandel großgeschrieben. Letztlich handle es sich bei allen drei Diskursen um „Retrotopien“ im Sinne von Zygmunt Bauman: Für Kibel artikulieren sie, „egal ob sie im Modus der Konstanz, der Kontinuität oder der Kritik operieren, eine Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit“ (S. 339). Dass nicht nur die entproblematisierend-mythisierenden und die dokumentierend-historisierenden, sondern auch die kritisch-reflexiven Modi der Vergangenheitsaneignung die Vergangenheit „in Wert setzen“ und damit „aufbessern“ wollen, ist eine der diskussionswürdigen, aber etwas versteckten Thesen der Arbeit.

Kibels Buch ist intellektuell äußerst anregend und Kritik herausfordernd. Angereichert um einige Theoriepartikel zu viel, gespickt mit einigen Redundanzen und überzogenen Textinterpretationen, kommt der Autor nicht ganz ohne zeitsoziologischen Jargon aus. Und nicht alles, was in der Matrix idealtypisch konstruiert wird, erschließt sich aus dem überschaubaren empirischen Material. Aus einer zeithistorischen Perspektive mag man die Einordnung der Diskurse in breitere geschichts- und erinnerungspolitische Kontexte vermissen, darunter die Frage, wie die Museumsumbauten und -neukonzeptionen im internationalen Vergleich einzuschätzen sind. Fragwürdig bleibt vor allem, warum Kibel keine Texte zur Historik und zur Geschichtskulturforschung in Augenschein genommen hat, denn insbesondere Jörn Rüsens Arbeiten zur exemplarischen, traditionalen, kritischen und genetischen historischen Sinnbildung bzw. zur reflexiven, politischen und ästhetischen Dimension von Geschichtskultur hätten den Weg zu den drei Kollektivierungsdiskursen wohl etwas abgekürzt.2 Zudem meint man fast, in ihnen Friedrich Nietzsches monumentale, antiquarische und kritische Historie wiederzuerkennen. Weitere Detailfragen ließen sich anschließen: etwa, was überhaupt „zyklische Rückkehr“ im Rahmen eines heroischen Wiederaneignungsversuchs der Vergangenheit bedeuten soll. Und was sind die entscheidenden Faktoren dafür, ob eine nostalgische Sehnsucht nach verlorener Vergangenheit, das Streben nach Aufhebung und Kompensation von Verlust oder aber die Simulation einer besseren Vergangenheit zu dem Wunsch nach Rückkehr zu vergangener Größe, zur Apologie, Entsorgung, Weichzeichnung, Tiefenhistorisierung oder Kritik der Vergangenheit führen? Klarer hätte auch die Gewichtung der drei Teildiskurse sein können: Denn während der dokumentarische Historismus ebenso wie der kritisch-reflexive, postheroische Diskurs sicherlich die beiden dominanten Geschichtsdiskurse im vereinten Deutschland sind, sieht sich der heroische Diskurs im geschichtskulturellen Partisanenkampf. Die damit zusammenhängende grundsätzliche Politisierung und identitätspolitische Aufladung von Rekonstruktionsdebatten, die nicht zuletzt am verwendeten Vokabular deutlich wird (mythoskritisch im Vorwurf des „Attrappenkults“, anthropomorphisierend als „Heilung“ städtischer, baulicher und historischer „Wunden“), hätte noch stärker erklärt werden können. Wie auch immer man diese Fragen beantworten will: Die von Jochen Kibel entworfene idealtypische Matrix ist es wert, rezipiert zu werden. Sie ermöglicht es, geschichts- und erinnerungskulturelle Diskurse und Ausdrucksformen in Bezug auf ihre raumzeitlichen Implikationen neu zu diskutieren.

Anmerkungen:
1 Zygmunt Bauman, Retrotopia, Cambridge, UK 2017; dt.: Retrotopia. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin 2017.
2 Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013; ders., Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994, S. 3–26.