M. Wulz u.a. (Hrsg.): Deregulation und Restauration

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Titel
Deregulation und Restauration. Eine politische Wissensgeschichte


Herausgeber
Wulz, Monika; Güttler, Nils; Stadler, Max; Grütter, Fabian
Reihe
Batterien (103)
Erschienen
Berlin 2021: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maurice Cottier, Departement für Zeitgeschichte, Université de Fribourg

Der Aufstieg des Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien hat dazu geführt, dass rechte Gruppierungen und Denktraditionen wieder Eingang in die Forschungsagenda gefunden haben. Eine von Medien und Wissenschaft gleichermaßen gestellte Frage ist, inwiefern der Rechtspopulismus eine Zäsur zur neoliberalen Hegemonie der letzten drei Jahrzehnte darstellt oder ob er vielmehr eine gemeinsame Geschichte mit dem Neoliberalismus teilt und seine Entwicklung antreibt.

Dieser Frage stellen sich auch die Herausgeber:innen des vorliegenden Sammelbands. In der Einleitung wird konstatiert, dass angesichts der Vielfältigkeit an Krisen (Finanzkrise, Klimakrise, Aufstieg des Rechtspopulismus, Corona-Pandemie) die Geschichte der letzten dreißig Jahre nicht mehr sinnvoll als siegreicher Aufstieg von Globalisierung, Finanzkapitalismus, Marktfundamentalismus und unternehmerischem Selbst gedeutet werden kann. Die Geschichte des Neoliberalismus, der diesen Entwicklungen als analytischer Begriff einen Namen gibt und sie gleichzeitig als politisch-intellektuelles Projekt vorantrieb, sei komplexer und nuancierter als bisher angenommen. Denn ihm wohnten neben deregulierenden auch restaurative Tendenzen inne. Letztere werden nun angesichts des Aufstiegs des Rechtspopulismus vermehrt wahrgenommen. Mit dieser Feststellung orientiert sich der Sammelband an aktuellen Beiträgen aus der englischsprachigen Neoliberalismusforschung, welche den politischen Charakter des neoliberalen Projekts betonen. Ziel der Neoliberalen wie Friedrich von Hayek, Wilhelm Röpke oder James Buchanan war demnach nicht nur die Befreiung der Märkte. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand immer auch die (Wieder-)Erschaffung einer für den Kapitalismus vorteilhaften politischen Ordnung und Moral.1 Dieses Doppelspiel von „Deregulation und Restauration“ stellt den analytischen Rahmen dar, in dem sich die Beiträge des Sammelbandes bewegen.

Damit verschiebt sich der Fokus tendenziell von der Wirtschaft auf die Politik – ohne dass erstere vollständig aus dem Blick fallen würde. Der Sammelband versteht sich denn auch als „politische Wissensgeschichte“, wie es im Untertitel heißt. Dieser Ansatz ist höchstinteressant, verspricht er doch die Wissensgeschichte weiterzuentwickeln. Die stark von Foucault und anderen französischen Poststrukturalisten inspirierte Forschungsrichtung analysierte Wissen bisher vornehmlich als strategisches Instrument der Eliten zur Gestaltung der Gesellschaft. Dabei wurde meist nicht systematisch gefragt, mit welchen politischen Positionen bestimmtes Wissen verbandelt und unterfüttert war. Eher implizit wurde von einem Konsens der Eliten ausgegangen. Dieser neutrale Blick auf das Politische scheint heute überholt. Nach Trump, Brexit und der anhaltenden Diskussion um Fake News und den Klimawandel wirkt eine Betrachtungsweise, die akademisches Wissen zwar als machtdurchzogen, aber nicht unbedingt politisch affiliiert untersucht, nicht mehr restlos überzeugend. Die „Rückkehr des Politischen“ (so der Titel der diesjährigen Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) scheint daher auch vor der Wissensgeschichte nicht halt zu machen.2 Das von den Herausgeber:innen vorgeschlagene Konzept der „politischen Wissensgeschichte“ hat das Potential, hier einen Weg aufzuzeigen, indem es dazu auffordert, Wissen gezielt und systematisch nach politischen Implikationen und Zielsetzungen zu befragen.

Der Sammelband besteht aus fünfzehn Beiträgen von Autor:innen aus verschiedenen Disziplinen. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus gestandenen und jungen Forscher:innen. Stilistisch sind die Texte unterschiedlich und reichen von eher essayartigen Beiträgen (z.B. Ayn Rands Atlas Shrugged von Adrian Daub oder Hans-Jörg Rheinbergers Experimentalsysteme und epistemische Dinge von Bernhard Böhm) zu quellengesättigten Analysen (z.B. Jean-François Lyotards La condition postmoderne von Michael Hagner oder Stuart Halls The Local and the Global von Kijan Espahangizi). Neben der konzeptuellen Klammer „Deregulation und Restauration“ liegt eine weitere Gemeinsamkeit der Beiträge darin, dass sie alle um jeweils ein bestimmtes Buch herum aufgebaut sind. Ein Sonderfall ist Claus Leggewies Der Geist steht rechts (1987), das von Leggewie selbst präsentiert wird. Die Abfolge der Beiträge ist chronologisch und erfolgt nach dem Publikationsjahr der thematisierten Bücher. Am Anfang steht Karl Mannheims Ideologie und Utopie von 1929 (Patrick Stoffel, Christina Wessely und Christoph Engemann), den Schluss bildet Alan Greenspans Autobiografie The Age of Turbulence von 2008 (Laura Rischbieter).

Bei den Beiträgen handelt es sich nicht um Rezensionen. Die Bücher werden vielmehr in ihre wissenschaftlichen und eben auch politischen Entstehungs- und Rezeptionskontexte gesetzt und mit der (politischen) Biografie und dem Gesamtwerk der Autorin oder des Autors in Verbindung gebracht. Die Bücher werden somit nicht mehr nur als Ausdruck mächtiger Elitendiskurse, sondern als gezielte Interventionen im politisch umkämpften Feld des Wissens, der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung verstanden.

Das Gros der Beiträge fokussiert auf Publikationen von neoliberalen, konservativen oder neurechten Wissenschaftler:innen. Diese Beiträge untersuchen das Zusammenspiel von „Deregulation und Restauration“ im Lager rechts der politischen Mitte. Auf besonders originelle Weise tut dies Janosch Steuwer anhand der konservativen Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann. Ihr Konzept von der „Schweigespirale“ und ihr späteres, gleichnamiges Buch (1974) ging im Kontext des sozialliberalen Aufschwungs der 1970er-Jahre davon aus, dass Menschen aus Furcht vor gesellschaftlicher Isolation darauf verzichten, öffentlich ihre Ansichten zu äußern, wenn diese von der Mehrheitsmeinung abweichen. Dadurch wurde laut Noelle-Neumann eine Dynamik in Gang gesetzt, durch die Minderheitenmeinungen immer mehr aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden sind – die „Schweigespirale“ eben. Luzid zeigt Steuwer die politische Implikation dieser Theorie auf. 1972 nutzte Noelle-Neumann ihr Konzept, um die angeblich tendenziöse Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für die knappe Wahlniederlage der CDU/CSU verantwortlich zu machen. Obwohl dies heftig umstritten war, setzten die gezielten Angriffe eine Diskussion über die Teilprivatisierung des Sendebetriebs in Gang. Hier zeigt sich anschaulich, wie „Restauration und Deregulation“ Hand in Hand gehen konnten.

Deregulation war aber nicht nur ein Ziel von Neoliberalen, Konservativen und Neurechten. In ihrem eigenen Beitrag zu Clifford Geertz Local Knowledge (1983) zeigen die Herausgeber:innen auf, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren auch Rufe nach Deregulation ertönten, die nicht aus dem rechten Spektrum stammten. Geertz ging es dabei um eine „groß angelegte Deregulation der herkömmlich-westlichen Wissensordnung” (S. 164). Im selben Beitrag wird aber gezeigt, dass das Konzept des „lokalen Wissens“ auch im restaurativen Sinn Verwendung fand. So strich der Wegbereiter des „Ethnopluralismus“ (S. 170), der neurechte Historiker und Soziologe Henning Eichberg, ebenfalls die Bedeutung und Validität von lokalem Wissen heraus. Der „Ethnopluralismus“ ist auch Thema in Damir Skenderovics Beitrag zum österreichischen Zoologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt (Wider die Misstrauensgesellschaft, 1994), welcher im Kontext verstärkter globaler Migration auf massenmedialen Kanälen behauptete, dass Xenophobie eine den Menschen angeborene Eigenschaft sei.

Wie porös die neu zu verhandelnden Grenzen zwischen den politischen Lagern nach 1968 sein konnten, verdeutlicht auch der Beitrag von Monika Dommann zum Buch El otro sendero. La revolución informal (1986) des peruanischen Ökonomen Hernando de Soto. Dieser bewegte sich zwar im Dunstkreis der Mont Pèlerin Society und anderen neoliberalen Think Tanks, doch Dommann zeigt, wie de Soto geschickt Narrative, Symbole und Konzepte marxistischer Guerillabewegungen aufgriff. So spielten Titel und Untertitel auf die linke peruanische Guerillabewegung Sendero Luminoso und deren revolutionären Ziele an. De Soto präsentiert die Marktwirtschaft als Zukunftshoffnung für eine gerechte und freie Gesellschaft, die auf die marode und noch immer von Merkantilismus und Paternalismus geprägte Gegenwart folgen würde. Er bot seine Theorie folglich nicht nur als Alternative zur Dependenztheorie und Marxismus an, sondern auch zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung, die noch immer stark von feudalen Strukturen geprägt war. Dem informellen Sektor kam dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Denn dort würden die Menschen bereits als selbstständige Unternehmer handeln. De Soto deutete die Armen in den Slums von Lumpenproletariern in Kleinstunternehmer um. Wie im Marxismus fungierten diese aber auch in seiner Theorie als „revolutionäre Subjekte“ (S. 191).

Das Verdienst des Sammelbandes ist es, dass er den Fokus auf die komplexe Präsenz des Politischen in der Wissensproduktion lenkt. Diese Präsenz ernst zu nehmen, ist für wissenshistorische Studien wichtig, weil Wissen eben nicht nur von Macht durchzogen ist, sondern auch Teil politischer Auseinandersetzungen sein kann. Das von den Herausgeber:innen vorgeschlagene Konzept der „politischen Wissensgeschichte” ließe sich allerdings noch detaillierter ausführen. In der Einleitung wird der Ansatz zwar skizziert, eine fundierte Darstellung fehlt jedoch. Spannend wäre insbesondere eine kritische Diskussion über das Verhältnis der politischen Wissensgeschichte zur Wissensgeschichte, wie sie in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren betrieben wurde. Ein erster Baustein ist aber gelegt. Es wird sich weisen, welche Karriere das Konzept in Zukunft machen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Melinda Cooper, Family Values. Between Neoliberalism and the New Social Conservatism, New York 2017; Quinn Slobodian, Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Berlin 2019. Siehe zuletzt auch: Dieter Plehwe / Quinn Slobodian / Philip Mirowski (Hrsg.), Nine Lives of Neoliberalism, London 2020; William Callison / Zachary Manfredi (Hrsg.), Mutant Neoliberalism. Market Rule and Political Rupture, New York 2020.
2 URL: <https://www.infoclio.ch/en/r%C3%BCckkehr-des-politischen-%E2%80%93-retour-du-politique> (17.06.2022).