Pormann präsentiert in diesem Kongressband 17 ausgewählte Beiträge des 2015 von ihm in Manchester mitorganisierten 15. „Colloque International Hippocratique“ (CIH)1 eindrücklich als „cutting-edge scholarship“. Schwerpunkt dieser Tagung war die kontinuierliche Kommentierung der hippokratischen Schriften (Corpus Hippocraticum) in Antike, Mittelalter und Renaissance.
In seiner Einführung (S. 1–18) erläutert der Herausgeber zunächst die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Bedeutung der Erforschung dieser seit der Antike bezeugten vornehmlich ärztlichen Kommentierungen der ursprünglich überwiegend aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. stammenden hippokratischen Schriftensammlung, mit Galen von Pergamon im 2. Jahrhundert als ultimativer „Wasserscheide“ dieser antiken Tradition (fast alle seine Vorgänger sind für die Nachwelt in direkter Form komplett verloren), aber mit Fortsetzung in der spätantiken, vor allem alexandrinischen Schultradition, in der Medizin im Islam (syrisch-arabische Übersetzungen) sowie im europäischen Mittelalter und Renaissance. Die einzelnen Kongressbeiträge erläutert Pormann im Folgenden teilweise recht kritisch; vier Vorträge wurden aus mehreren Gründen nicht in den Band aufgenommen. Pormann empfiehlt die vorliegende Beitragssammlung schließlich als Ergänzung zu seinem eigenen „Companion to Hippocrates“.2
Elizabeth Craik (S. 19–27) diskutiert zunächst kurz mögliche Gründe für die Exegese bestimmter Schriften des Corpus Hippocraticum und liefert einen kursorischen Überblick der Kommentatoren vom Hellenismus bis zur Renaissance. Schließlich definiert sie eine zusätzliche Unterscheidung zwischen einer eigentlich medizinisch-didaktischen Textkommentierung (weiter differenziert in 2 Unterformen: einerseits einführender, informativer oder „synthetischer“ Gattungstyp, andererseits formaler, fortgeschrittener und mehr worterklärend) und der von ihr ab dem 17. Jahrhundert ausgemachten elitären „Quasi-Kommentierung“ (gelehrige zeitgemäße Erklärungsversuche neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse anhand von bestimmten Texten der hippokratischen Schriftensammlung) mit besonderem Augenmerk auf das Werk von Jan Antonides van der Linden (1609–1664).
David Leith (S. 28–50) gibt einen Einblick in die bisher wenig beachtete, allerdings auch nur bruchstückhaft erhaltene, indirekt überlieferte Kommentierungstätigkeit von Asklepiades von Bithynien (um 2. Jh. v.Chr.).
Tommaso Raiola (S. 51–67) bespricht die überlieferten Kommentarfragmente des Arztes Sabinus (1./2. Jh.), dessen Schüler Stratonikos wiederum zeitweise Lehrer von Galen in Alexandria gewesen war. Von Galen zwar teilweise harsch kritisiert, zählten Sabinus‘ Kommentierungen des Corpus Hippocraticum zu seiner Zeit in seinen Kreisen aber zu Standardwerken und wurden selbst von Galen zu den besten ihrer Zeit gezählt.
Galens Kommentare zu den hippokratischen Schriften sind die einzigen fast komplett überlieferten aus der Antike. Jacques Jouanna (S. 68–94) führt in Galens Kommentiertätigkeit ein anhand dessen Kommentare zu den Schriften Epidemien I und III. Hier zeigt sich Galen besonders kritisch bis ins kleinste Textdetail, indes zuweilen auch ironisch und kommentiert zu guter Letzt sogar seine eigenen, früheren Kommentare!
Caroline Magdelaine und Jean-Michel Mouton (S. 95–113) berichten über den Inhalt und Zusammenhang eines 2015 in Istanbul wiederentdeckten, aus dem 9. Jahrhundert stammenden Kommentarfragmentes (12 unvollständig erhaltene Manuskriptblätter) zum sogenannten „Hippokratischen Eid“ aus syrisch-arabischer Übersetzertradition, dessen ursprünglicher Autor unbekannt bleibt.
Peter N. Singer (S. 114–146) befasst sich sehr langatmig mit Galens strategischer Kommentiertätigkeit der hippokratischen Schriften, insbesondere mit der Schrift De natura hominis, die Galen rhetorisch geschickt in seine eigene Medizintheorie (Elementenlehre) umgedeutet hat und damit Alternativinterpretationen für die Nachwelt erheblich erschweren konnte. R. J. Hankinson (S. 147–166) rekapituliert ähnlich das Thema von Galens speziellem Hippokratismus erneut anhand seines im Detail auch philologisch sehr gelehrigen Kommentares zur Schrift De natura hominis.
Ralph M. Rosen (S. 167–180) versucht Galens Gedankengänge anhand von Textzitaten in seiner psychologischen Abhandlung Quod animi mores corporis temperamenta sequantur (QAM) zu rekonstruieren: Galen benutzt hier in der Form eines „exegetischen Kommentares“ die hippokratische Schrift De aere aquis locis im Diskurs mit verschiedenen Meinungen von Platon und Aristoteles.
Daniela Manetti (S. 181–198) analysiert Galens frühe Kommentiertätigkeit der hippokratischen Schriften anhand seiner Abhandlung De difficultate respirationis (Diff. Resp.). Dieser Traktat wurde bisher als originär medizinisch angesehen, beinhaltet aber unzählige kommentierte Zitate aus verschiedenen hippokratischen Schriften, so dass Manetti ihn am Ende zum „Quasi-Kommentar“ Galens deklariert.
Mathias Witt (S. 199–221) widmet sich einem ausgewählten medizinischen Topos, heute eher ein neurochirurgisches Thema, nämlich der schon relativ detailreichen Schädelfrakturklassifikation, wie sie in der hippokratischen Schrift De capitis vulneribus dargestellt wird. Witt versucht diese anhand des überlieferten Textes, eigener schematischer Zeichnungen sowie unter Zuhilfenahme antiker Interpreten, vor allem Galen, im Lichte der heutigen medizinischen Klassifikation zu deuten und liefert zugleich plausible Schlussfolgerungen für künftige Texteditionen.
Amneris Roselli (S. 222–236) gibt einen zusammenfassenden Überblick zu Galens Kommentiertätigkeit bezüglich der chirurgischen Schriften des Corpus Hippocraticum, im speziellen zu seinen erhaltenen Kommentaren zu den Abhandlungen De fracturis und De articulis, in denen er vergleichsweise nur selektierte, für ihn wichtige Textelemente zitierte, kommentierte und mehr Interesse an der chirurgischen Praxis an sich durchblicken ließ (vom Praktiker für den Praktiker).
Véronique Boudon-Millot (S. 237–253) diskutiert intensiv den überlieferten Text und Interpretation zweier bestimmter Stellen im Corpus Hippocraticum (Epidemien 2,3,2 sowie Aphorismen 4,5) bei Galen und in der, heute nicht mehr Galen zugeschriebenen Schrift De theriaca ad Pisonem. Dabei stellt sie fest, dass Galen und der sogenannte Pseudo-Galen beide Stellen fundamental anders interpretiert haben und wohl auch differierende Textvorlagen hatten.
Sabrina Grimaudo (S. 254–265) versucht zu rekonstruieren, wie und warum Galen die an sich originelle hippokratische Schrift De vetere medicina aus seinem eigenen Schriftenkomplex ausschließen konnte, nämlich hauptsächlich aus ideologischen Gründen (Widerspruch zu seiner eigenen Elementenlehre).
Giulia Ecca (S. 266–285) präsentiert einen bisher unbekannten, anonymen Prolog zu den hippokratischen Aphorismen in einem griechischen Manuskript aus dem 15. Jahrhundert. Dieser sehr kurze Einleitungstext scheint ihrer Einschätzung nach frühestens aus dem 6. oder 7. Jahrhundert zu stammen.
Kamran I. Karimullah (S. 286–318) diskutiert mittels einer sehr intensiven Textanalyse mögliche Autoren einer syrischen Übersetzung der hippokratischen Schrift Prognostikon.
Die beiden abschließenden Beiträge von María Teresa Santamaría Hernández (S. 318–332) und von Jesús Ángel y Espinós (S. 333–343) befassen sich mit zwei spanischen Kommentatoren der Epidemien aus der Renaissance: einerseits den einzigen zu dieser Zeit verfassten lateinischen Kommentar zu Epidemien II von Pedro Jaime Esteve, andererseits den Kommentar zu allen sieben überlieferten Epidemien des Hofarztes Francisco Vallés. Die Kontexte der jeweiligen Kommentarentstehungen werden zwar sehr breit dargestellt, der medizinische Inhalt an sich wird aber fast gar nicht reflektiert.
Ein Inhalts- und ein Bildverzeichnis (16 Stück, sämtlich aus dem Beitrag und aus der Hand von Mathias Witt), Hinweise zu den einzelnen Autoren, ein Literaturverzeichnis (ohne Unterscheidung von Primär- und Sekundärquellen, S. 345–370), ein Index Locorum (S. 371–377) sowie ein sehr sparsam gehaltener „General Index“ (S. 378–382, wenige ausgewählte englische, altgriechische, arabische und syrische Stichwörter) runden diesen gut edierten und inhaltlich kohärenten Band ab. Die zitierten Werktitel sind leider nicht mit ihren sonst üblichen lateinischen Titeln und Abkürzungen versehen, sondern ausschließlich englisch.3 In diesem, nicht unerwartet sehr Philologie-lastigen Band sind die Beiträge von Witt (Schädelfrakturen)4 und Roselli (chirurgische Kommentare Galens) medizingeschichtlich besonders erwähnenswert. Wer an der aktuellen Forschung in Bezug auf das Corpus Hippocraticum teilnehmen möchte, wird diesen Band in seiner Bibliothek benötigen.
Anmerkungen:
1 Die CIH finden weiterhin alle drei Jahre statt: 2018 in Rom (URL: <http://sapereantico.uniroma2.it/xvi-colloquium-hippocraticum/?lang=en>; der Tagungsband wurde mittlerweile veröffentlicht: Daniela Manetti, Lorenzo Perilli, Amneris Roselli (dir.), Ippocrate e Gli Altri. Collection de l'École française de Rome, 590. L’École française de Rome: Rom 2021; Open Access: URL:<https://books.openedition.org/efr/21665>), 2021 in München (UR: <https://www.egt.med.uni-muenchen.de/veranstaltungen/corpus-hippocraticum/index.html>). Die kommende, 18. Tagung ist 2024 in Madrid geplant. Vorangegangene Tagungsbände: Jacques Jouanna / Michel Zink (Hg.), Hippocrate et les hippocratismes, 2015, H-Soz-Kult 23.11.2015 (URL: <https://www.hsozkult.de/review/id/reb-23216>); Lesley Dean-Jones / Ralph M. Rosen (Hg.), Ancient Concepts of the Hippocratic, 2016, H-Soz-Kult 30.05.2016 (URL: <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24768>).
2 Peter E. Pormann (Hg.), Cambridge Companion to Hippocrates. Cambridge 2018.
3 Schreibfehler finden sich ausgesprochen wenige: Craik, S. 19, Anmerkungen, Zeile 2: „(see below with note 19)“ corr. „note 14“; Manetti, S. 191: „Euriphon“ corr. „Euryphon“; Witt, S. 201: „editiors“, „clasification“, S. 218: „bachylogic style“; Santamaría Hernández, S. 320, Anm. 6: „see Witt (2018)“ corr. „Witt (2018b)“; Bibliography, S. 365, Savino, Ch. (2021): „Warburg Institue Colloquia“. Etwas ärgerlich sind fehlende bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis: z.B. in Singer, S. 115, Anm. 1, „Todd (2015)“; in Manetti, S. 185, Anm. 14, „Minor (1911)“, hier ist wohl Albertus Minor, De Galeni libris Peri dyspnoias, Marburg 1911, gemeint; in Grimaudo, S. 260, Anm. 24, „Jouanna (2006)“, sowie S. 262, Anm. 31, „Helmreich (1914)“; Karimullah, S. 317, Anm. 117, „Bhayro et al. (2013), 132; Afif et al. (2020)“. Es findet sich eine singuläre, alternative Werkbezeichnung: Manetti, S. 182, Anm.6, „in Dispelling Sorrows“, gemeint ist „Avoiding Distress“ (Galen, De indolentia).
4 Ergänzend: Christine F. Salazar, The treatment of war wounds in Graeco-Roman antiquity, Leiden 2000.