S. van Dyk u.a. (Hrsg.): „…daß die offizielle Soziologie versagt hat“

Titel
„…daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS


Herausgeber
van Dyk, Silke; Schauer, Alexandra; Deutsche Gesellschaft für Soziologie
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Moebius, Institut für Soziologie, Karl-Franzens-Universität Graz

Noch in den 1960er-Jahren forderte Ralf Dahrendorf eine soziologische Erklärung und Analyse des Nationalsozialismus sowie eine Selbstbetrachtung der Rolle der Soziologie. Bis auf wenige Ausnahmen ist dies für die Fachgeschichte noch nicht geschehen. Umso erfreulicher ist es, dass sich zu den wenigen Ausnahmen – wie etwa Carsten Klingemanns instruktive Analyse der „Soziologie im Dritten Reich“ (1996) – nun auch ein kleiner Band gesellt, der anlässlich einer Ausstellung zum Soziologiekongress 2008 in Jena erschienen ist. Der Band erübrigt zwar nicht eine umfassende Analyse der Thematik und eine Lektüre der bisher geleisteten Forschungen, die sich mit der Geschichte der Soziologie im Nationalsozialismus beschäftigen. Aber er gibt einen ersten, sehr eindrucksvollen Überblick über die wichtigsten Akteure, Institutionen und Entwicklungen der Soziologie von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus und den Kontinuitäten nach 1945.

Der Band ist deshalb so zentral für die Soziologiegeschichte, weil innerhalb der Disziplin bis heute die Konflikte um die Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus anhalten und bisweilen heftige Debatten auslösen. So machen Silke van Dyk und Alexandra Schauer einige Punkte aus, die immer noch für Auseinandersetzungen sorgen: Erstens: Nach 1945 entstand die „Legende“ (so Hans-Georg Soeffner im Vorwort, S. 11), die Soziologie habe im Nationalsozialismus keine Rolle gespielt. Entweder weil die meisten Soziologen vertrieben worden seien oder weil die Soziologie vor 1933 an einem wissenschaftlichen Tiefpunkt angelangt war, sie sich also quasi schon von selbst erledigt hatte, wie Helmut Schelsky annahm. Die „Legende“ von der Vertreibung wurde von Soziologiehistorikern wie Carsten Klingemann, Dirk Kaesler, Ottheim Rammstedt oder Johannes Weyer erfolgreich entmythologisiert. Sie zeigten auf, dass das Fach 1933 weder am Ende gewesen ist noch durch einen Bruch zum Stillstand gebracht wurde; vielmehr – und dies zeigt der Band sehr eindrücklich – gab es etliche Etablierungsversuche einer „völkischen“ Soziologie.

Ein zweiter Konfliktpunkt betrifft die Frage, ob die Soziologie im Nationalsozialismus durch „anti-soziologische Erkenntnisprogramme“ (so M. Rainer Lepsius, S. 155) gekennzeichnet war. War das überhaupt Soziologie, was Soziologieprofessoren wie Hans Freyer in Leipzig, Franz Wilhelm Jerusalem in Jena, Erich Rothacker in Bonn, Gunther Ipsen in Königsberg, Andreas Walther in Hamburg, Max Rumpf in Nürnberg oder Leopold von Wiese in Köln betrieben? Dem gegenüber stehen Analysen, die zeigen, dass die Soziologie im Nationalsozialismus weniger theoretisch als vielmehr empirisch ausgerichtet war. Denn wie die gegenwärtigen Forschungen zeigen, begünstigte der Nationalsozialismus die Professionalisierung und Institutionalisierung der empirischen Soziologie durchaus.

Für Diskussionsstoff sorgen drittens divergierende Einschätzungen über die oft mangelhafte Aufarbeitung der Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus und der institutionellen, personellen und theoretischen Kontinuitäten nach 1945. Der Band von Silke van Dyk und Alexandra Schauer weist sehr deutlich auf diese Kontinuitäten hin: Viele der zentralen Akteure entlasteten sich gegenseitig; manche von ihnen – wie Schelsky, der bereits seit 1932 Mitglied der SA war – waren für die Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie von wesentlicher Bedeutung. Auch institutionell gab es Kontinuitäten. So leitete Schelsky die Sozialforschungsstelle Dortmund, die in den 1950er- und 1960er-Jahren größte und einflussreichste Sozialforschungseinrichtung der Bundesrepublik, die als eine Zusammenführung von Forschungsinstitutionen mit nationalsozialistischer Vergangenheit zu betrachten ist und als die „zentrale ‚Durchgangsschleuse‘ für nationalsozialistisch belastete Wissenschaftler [galt], die nach einem Weg zurück in den universitären Wissenschaftsbetrieb suchten“ (S. 129). Manche Kontinuitäten hätten noch Erwähnung finden können, da nicht ganz uninteressant; etwa Elisabeth Noelle-Neumann und die Rolle der Demoskopie als administrative „Hilfswissenschaft“ für das Goebbelsche Propagandaministerium.1

Insgesamt betrachtet gelingt dem Band aber ein sehr guter Überblick über die Soziologie von der Weimarer Republik bis zur Aufarbeitung und den Diskussionen über ihre Rolle nach 1945. Weder Bruch noch Stillstand, sondern – wie es der später in Marburg zusammen mit Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann lehrende Heinz Mauss ausdrückte – „dass die offizielle Soziologie versagt hat“, so lautet das Fazit des Bandes. Natürlich kann bei 160 Seiten nicht so in die Tiefe gegangen werden, wie man sich das zuweilen wünschte. Aber dafür werden den Leserinnen und Lesern die wichtigsten Entwicklungen der Soziologie sowie die darum kreisenden Kontroversen anschaulich näher gebracht und nach jedem Kapitel zahlreiche Quellen- und Literaturhinweise gegeben, die eine weitere soziologiehistorische Vertiefung leicht ermöglichen.

Anmerkung:
1 Vgl. Michael Neumann / Gerhard Schäfer, „Blick nach vorn“: Ein Gespräch mit René König, in: Heinz-Jürgen Dahme u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990, Opladen 1990, S. 219-238, hier S. 237f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension