T. Rüting: Pavlov und der Neue Mensch

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Titel
Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland


Autor(en)
Rüting, Torsten
Reihe
Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 12
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Koenen, Frankfurt am Main

Ziel der Untersuchung von Torsten Rüting ist es, „Erklärungen für den Erfolg Pavlovs und die Vereinnahmung seines Vermächtnisses in der Sowjetunion“ zu finden. Immerhin war der erste russische Nobelpreisträger (1904) nicht nur ein „bürgerlicher Spezialist“ reinsten Wassers, sondern ein erklärter Gegner der Bolschewiki, der kein Blatt vor den Mund nahm. Ungeachtet dessen verfügte Lenin durch ein Staatsdekret 1921 die besondere „Förderung der wissenschaftlichen Arbeit des Akademiemitglieds I.P. Pavlovs und seiner Mitarbeiter“. Und Bucharin, in diesen Jahren der Cheftheoretiker der Partei, erklärte 1924 in einer respektvollen Replik auf eine öffentlich geäußerte Kritik Pavlovs, dessen Reflextheorie gehöre, ob sein Urheber es nun anerkenne oder nicht, zur „Waffe aus dem Eisenarsenal des Materialismus“ – eine Formel, die Bucharin im Nekrolog auf Pavlov 1936 noch einmal wiederholte.

So kam es zu der in der Geschichte der UdSSR einzigartigen Situation, dass ein ausdrücklicher Verächter des Marxismus-Leninismus nicht nur zu einem ideologischen Kronzeugen wider Willen, sondern über die stetig expandierende Förderung seiner fabrikmäßig organisierten Labor- und Institutskomplexe zu einem sowjetischen Wissenschaftsmanager größten Stils wurde. Nach Pavlovs Tod 1936 wurde seine Reflexlehre regelrecht kanonisiert, bis sie auf einer großen „Pavlov-Konferenz“ im Juni 1950, zwei Jahre nach der berüchtigten, von Lyssenko dominierten Tagung zur Lage der biologischen Wissenschaften, vollends dem organizistischen Gesellschaftsmodell des Stalinismus eingepasst wurde. Das entscheidende Vermächtnis Pavlovs, so hieß es nun, sei „die Diktatur des Cortex“ (der Großhirnrinde) über den Gesamtorganismus.

Allein diese (unter direkter Einschaltung Stalins dekretierte) Formel macht schlaglichtartig deutlich, dass es sich kaum noch um einen genuin wissenschaftlichen Streit handelte, sondern um eine direkte Analogisierung des totalitären Gesellschaftsmodells Stalins mit einem drastisch vereinfachten theoretischen Modell Pavlovs. Die uneingeschränkte Diktatur des Großhirns (des Politbüros) über den Gesellschaftskörper entsprach den Gesetzen der Natur selbst.

Diese spätstalinistische Pavlov-Dogmatik sollte im Verbund mit den Lehren Lyssenkos (von der Überführung erworbener Eigenschaften ins Erbgut) zugleich dazu dienen, „dass alle wissenschaftlichen Konzepte, biologische, psychologische, pädagogische oder sogar technische wie die Kybernetik, die eine Entstehung spontaner, autonomer und selbstorganisierter Prozesse annahmen oder wissenschaftlich untersuchten, als gefährliche ausländische Irrlehren verteufelt und verboten wurden“ (S. 285). Hier führt Rütings Untersuchung nahe an den Kern des gesamten bolschewistischen Projekts wie auch an die tieferen Gründe seines historischen Scheiterns heran.

Im kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick erscheint die Karriere Pavlovs und seiner Theorien im Reich der Bolschewiki schon sehr viel weniger erstaunlich. Pavlov kam aus derselben Generation der „1860er“-Intellektuellen, aus deren Geist und Tradition sich auch die bolschewistische Bewegung in ihren Ursprüngen wesentlich speiste. Nicht nur sollte das rückständige Russland mit den Wundermitteln von Technik und Wissenschaft erleuchtet und in Bewegung gesetzt werden; auch der träge russische Mensch sollte mit naturwissenschaftlichen Methoden zu einem „neuen Menschen“ umgebaut werden. Die Evolutionstheorien Darwins und Lamarcks, die durch den britischen Philosophen Herbert Spencer in ein universales Modell der steten Höherentwicklung des „Social Organism“ überführt worden waren, wurden von der russischen Intelligencija (durch Vermittlung des großen Popularisators Pisarev) in einen forcierten szientistischen Zukunftsglauben überführt. Wie der einzelne Mensch, müsse auch die Gesellschaft im Ganzen alle ihre niederen Triebe und spontanen Gefühle der strikten Herrschaft des Intellekts und einer höheren Moral unterwerfen.

In Tschernyschevskijs einflussreichem Ideenroman „Was tun?“ lieferte der ihm befreundete Physiologe Ivan Setschenov das Vorbild des Arztes Dr. Kirsanov, der als Prototypus eines idealen „neuen Menschen“ alle ästhetischen, erotischen oder sonst wie sinnlichen Reize lediglich als Stimulantien seiner „höheren“ Nervenkräfte gelten ließ, worunter die intellektuelle Tätigkeit gefasst wurde. Setschenov mit seiner Theorie von den „Hemmungen“ der Sinnesreize und muskulären Reflexe als dem Beginn aller menschlichen Denk- und Urteilsfähigkeit war der unmittelbare Inspirator und Lehrer des jungen Pavlov. Aber auch der junge Gorki wie der junge Lenin standen noch ganz im Banne dieser Traditionen der „1860er“-Intelligenz. Man könnte es einen Geist des magischen Szientismus nennen, der mit einem – ebenfalls russisch anverwandelten – Marxismus zu einer starren, vermeintlich universalen sozialökonomischen Evolutionslehre amalgamiert wurde.

Leider gelingt es (oder wagt es) Rüting nicht, Pavlovs Theorie der „bedingten Reflexe“ und seine monströsen Experimente mit „chronisch“ zugerichteten Hunden, die in „Türmen des Schweigens“ (camera silens-artigen Gebäuden) von Scharen ebenfalls dressierter Experimentatoren stimuliert und beobachtet wurden, aus heutiger Sicht wissenschaftsgeschichtlich zu bewerten. Aber auch in der Bewertung der Rolle, die die Adaption der Pavlovschen Konditionierungsmodelle durch die Bolschewiki für die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Sowjetunion hatte, greift die Arbeit, so reichhaltiges und teilweise auch neues Material sie liefert, letztlich zu kurz – gerade dort, wo sie sich nahe am nervus rerum bewegt.

Gut möglich, dass das eine Überfrachtung der Arbeit und Überforderung des Autors gewesen wäre. Aber jedenfalls ist es eine Fragestellung, die sich förmlich aufdrängt, wie sich Pavlovs Physiologie der „höheren Nerventätigkeit“ denn in den gesamten Komplex der sowjetischen Biowissenschaften einordnete; und welche Rolle diese für das Gesamtprojekt der Bolschewiki spielten. Wohl berichtet Rüting über das Schicksal der Genetiker, die zum Hauptobjekt der Attacken durch den radikalen Lamarckismus Lyssenkos und Stalins selbst wurden. Er wirft auch einige kurze, interessante Seitenblicke auf die „Biomechanik“ eines Gastev und anderer sowjetischer Arbeitswissenschaftler, die an einem mit der Maschine verschmolzenen sowjetischen Menschentyp laborierten. Aber die Diskussionen um eine sowjetische Eugenik werden nur gestreift. Und andere, unmittelbar parallele Disziplinen bleiben völlig außer Betracht.

Das gilt etwa für die Hirnforschung, die sich in Zusammenarbeit mit dem Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut unter Prof. Vogt mit vollem Ernst und großen, vom ZK bewilligten Mitteln der Erforschung der „physiologischen Grundlagen der Genialität des Genossen Lenin“ und später anderer sowjetischer Führer- und Gelehrtenhirne weihte. Das war keine Episode, sondern Teil einer umfassenden Degenerations- und Genialitätsforschung, die dem offen erklärten Interesse von Auslese und Höherzüchtung folgte. 1 Ähnliches gilt für die ebenfalls in deutsch-sowjetischer Kooperation betriebene medizinische Anthropologie und Rassenforschung 2; oder für die sowjetischen Bevölkerungswissenschaften, die einem Nazi-Ideologen wie Theodor Oberländer als Vorbild eigener Strategien der Züchtung und Zurichtung des eigenen und fremder „Volkskörper“ dienten. 3 Über viele dieser Felder hat es in den letzten 10-15 Jahren immerhin bemerkenswerte Einzelforschungen gegeben, die das Bild hätten vervollständigen können. 4

Diese Ausblendungen haben freilich auch mit dem Programm einer „Diskursanalyse“ nach Foucault zu tun, der die Arbeit Rütings strikt folgt. So wird das ganze reiche Material, das der Autor entfaltet, in das Prokrustesbett der historischen „Diskurse über Disziplinierung“ gesteckt, die vom Sieg des Patriarchats in (vor-)antiker Zeit und die Philosophie Platons über die Theologie des Apostels Paulus bis zu den säkularen Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts reichen, und von dort über Pavlov bis Lenin und Stalin. Alles stünde demnach in der erdrückenden Kontinuität eines geschichtlichen Großdiskurses, der noch stets von der Herrschaft des Geistes über den Körper und der Verinnerlichung von Disziplin und Moral in den Individuen handelte sowie von der Beschreibung von Gemeinwesen und Machtstrukturen in Körpermetaphern. Der Stalinismus mit seiner Pavlovschen „Diktatur des Cortex“ wäre dann nur eine äußerste Steigerungsform einer fast schon überhistorischen Tendenz, jedenfalls im Kontext der christlich-jüdisch-europäischen Kultur.

Es ist, als würde die ganze, breit angelegte Darstellung in eine Hohlform zurückschnurren, bis zu der einigermaßen verblüffenden Schlussfolgerung Rütings: „Überspitzt formuliert bedeutete der Slogan ‚Zurück zu Pavlov!’ damit für den neuen sowjetischen Menschen ein ‚Zurück zu Paulus!’“ (S. 301)

Anmerkungen:
1 Vgl. Koenen, Gerd, Utopie der Säuberung – Was war der Kommunismus, Berlin 1998, S. 138-145; dort auch zitiert der Abschlussbericht der Kommission vom Mai 1936 an Stalin, worin die Hirne von Lenin, Majakovskij, Lunatscharskij, Bogdanov, Mitschurin sowie auch das Pavlovs (!) nach Genialitätskoeffizienten bewertet worden waren (Dossier mit den Dokumenten der Kommission u.d.T. „Materialno oboznovat’ genialnost’ Lenina“, in: Istotschnik, H. 1, 1994).
2 Vgl. etwa Gross Solomon, Susan; Richter, Jochen (Hgg.), Ludwig Aschoff. Vergleichende Völkerpathologie oder Rassenpathologie. Tagebuch einer Reise durch Russland und Transkaukasien, Pfaffenweiler 1998; hier insbesondere die höchst instruktive Einleitung von Gross Solomon, Susanna, Vergleichende Völkerpathologie auf unerforschtem Gebiet, S. 1-48.
3 Heim, Susanne, Bevölkerungsökonomie, Deportation und Vernichtung, in: Dahlmann, Dittmar; Hirschfeld, Gerhard (Hgg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 501-514.
4 Aus der noch immer sporadischen, aber wachsenden Literatur seien nur genannt: Rossijanow, Kirill, Gefährliche Beziehungen. Experimentelle Biologie und ihre Protektoren; in: Beyrau, Dietrich (Hgg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, S. 340-359; sowie: Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene in Deutschland – Eugenik in der Sowjetunion. Ein Vergleich, in: Ebd., S. 360-377; Adams, Mark B., The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil and Russia, Oxford 1989; sowie Gross Solomon, Susan; Hutchinson, John F. (Hgg.), Health and Society in Revolutionary Russia, Bloomington 1990.

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