A. Ehresmann (Hrsg.): Das Stalag X B Sandbostel

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Titel
Das Stalag X B Sandbostel. Geschichte und Nachgeschichte eines Kriegsgefangenenlagers. Katalog der Dauerausstellung


Herausgeber
Ehresmann, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S., 514 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Otto, Lemgo

In den letzten Jahren haben KZ-Gedenkstätten vermehrt mit neu konzipierten Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht und für deren Besucher umfangreiche und großformatige Kataloge bereitgestellt. Zu nennen sind hier etwa Bergen-Belsen, Flossenbürg und Mauthausen. Völlig anders sieht es dagegen mit Gedenkstätten aus, die an den – zumeist abgelegenen – Orten früherer Kriegsgefangenenlager entstanden sind. Sie fristen oft ein Schattendasein: wenige Besucher, wenig Personal, kaum finanzielle Mittel, das öffentliche Interesse ist vergleichsweise gering. Dabei sind sie ebenso Stätten nationalsozialistischen Unrechts wie die Konzentrationslager, und manche Kriegsgefangenenfriedhöfe übersteigen jegliches Vorstellungsvermögen: Zeithain bei Riesa mit vier Friedhöfen und mehr als 25.000 Toten oder die sogenannten Russenfriedhöfe in der Senne (15.000) oder Bergen-Belsen (20.000). Dass der Bundespräsident zur 70-jährigen Wiederkehr des Kriegsendes die Senne besucht hat, kann immerhin als ein offizielles Zeichen gewertet werden, auch an diesen Orten die Erinnerungskultur aufwerten zu wollen.

Umso bemerkenswerter ist es, dass zum Gedenkjahr 2015 erstmals eine Gedenkstätte an einem früheren Lagerstandort einen nicht nur im Wortsinn gewichtigen Katalog zur Geschichte des Ortes vorlegt: die Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel am Standort des früheren Stammlagers (Stalag) X B. Die dem Katalog zugrunde liegende Ausstellung war schon zwei Jahre zuvor, am 29. April 2013, zur 68-jährigen Wiederkehr des Befreiungstages durch die britische Armee 1945 der Öffentlichkeit präsentiert worden.

In Sandbostel hatte die deutsche Wehrmacht im Spätsommer 1939 ein Lager für zunächst 10.000 Kriegsgefangene eingerichtet, das bis 1945 Gefangene aus vielen Nationen durchliefen, zuerst Polen, dann Westeuropäer, 1941 serbische und sowjetische Kriegsgefangene, später (1943) italienische Militärinternierte und 1944 schließlich Angehörige der Polnischen Heimatarmee, die sich beim Warschauer Aufstand der Wehrmacht ergeben hatten. Vermutlich ab dem 12. April 1945 wurden etwa 9500 KZ-Häftlinge aus dem KZ Neuengamme und dessen Außenlagern nach Sandbostel transportiert und in einem abgetrennten Bereich des Stammlagers untergebracht, den die SS verwaltete, sodass für eine kurze Zeit zwei verschiedene Organisationen das Lager nutzten. Die Todesrate unter diesen Häftlingen war wegen der unsäglichen Lebensbedingungen immens – weitaus höher, als sie je im Kriegsgefangenenlager gelegen hatte; britische Soldaten, die bei der Befreiung mit dem Grauen konfrontiert wurden, bezeichneten den Bereich sehr schnell als „kleines Belsen“.

Die Nachkriegsnutzung war vielfältig: bis 1948 Internierungslager vorwiegend für SS-Angehörige und höhere NS-Funktionäre, danach dienten die noch erhaltenen Baracken als Strafgefängnis (bis 1952) und als Notaufnahmelager für jugendliche männliche DDR-Flüchtlinge (bis 1960). Später nutzte die Bundeswehr die noch vorhandenen Bauten, anschließend entstand dort ein Gewerbegebiet. Seit 1992 bemühte sich der Verein „Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel“ darum, am Ort des ehemaligen Lagers in den noch erhaltenen Baracken eine Gedenkstätte einzurichten. Seine beharrliche Arbeit hatte 2007 Erfolg.

Insoweit ist die Ausgangssituation ähnlich wie an anderen früheren Lagerstandorten, z.B. in der ostwestfälischen Senne oder im nordhessischen Ziegenhain. Dass sich die Gedenkstätte Sandbostel dann anders und vorbildlich entwickelt hat, liegt – neben den vielen noch erhaltenen Gebäuden – in erster Linie an einem übergreifenden politischen Konsens hinsichtlich der Gedenkstättenarbeit, der sich 2004 in der Gründung einer Stiftung manifestierte, durch die unter anderem Bund, Land, Kreis, Kommunen und Kirchen eingebunden wurden. Eigentlich beinahe ein Wunder!

Der Katalog orientiert sich an der Chronologie und fasst eigentlich zwei Ausstellungen zusammen. Teil 1, etwa drei Viertel des Buches, hat die Geschichte des Stalag X B bis zum April 1945 zum Gegenstand. In mehreren Kapiteln werden Lageralltag und Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen in vielen Facetten dargestellt, wobei die Autorinnen und Autoren den sowjetischen Kriegsgefangenen und den italienischen Militärinternierten ein eigenes Kapitel widmen, da beide Gruppen in der Kriegsgefangenen-Hierarchie aus rassistischen und politischen Gründen ganz unten angesiedelt waren und die meisten Opfer aus ihren Reihen stammten. Hier wäre es eventuell vorteilhafter gewesen, das den ersten Teil abschließende große Kapitel über die verschiedenen Nationalitäten aus Vergleichsgründen unmittelbar anzuschließen. Ausführlich wird das zwar zeitlich kurze, aber grauenhafteste Kapitel der Lagergeschichte geschildert, das Leben und vor allem der massenhafte Tod der Neuengammer KZ-Häftlinge. Bemerkenswert ist ein eigenes Kapitel über die Wachmannschaften des Kriegsgefangenenlagers.

Teil 2 beginnt mit der Befreiung, eine Einteilung, die sich nur nachvollziehen lässt, wenn man weiß, dass die Ausstellung in zwei unterschiedlichen Gebäuden gezeigt wird. Im Katalog wäre dieser Textteil thematisch als Abschluss von Teil 1 sinnvoller gewesen, zumal es dort schon ein Kapitel „Befreiung und Leben nach dem Krieg“ gibt. Ansonsten stellt jener zweite Teil eigentlich die typische vielfältige Nutzung ehemaliger Lagerstandorte bis heute dar.

In jedem Kapitel findet der Leser zunächst etwa zehn bis zwölf Seiten mit vielen unbekannten Fotos nicht zuletzt aus Privatbesitz, was sicherlich auch als Zeichen für die Akzeptanz der Gedenkstätte innerhalb der Bevölkerung zu werten ist. Hinzu kommen Pläne oder – gelegentlich etwas klein geratene – Aktenreproduktionen, versehen mit kurzen, aber informativen Kommentaren. In Teil 2 nehmen die Fotos überlieferungsbedingt einen breiteren Raum ein. Hervorzuheben ist der häufige Perspektivwechsel: Immer wieder stellen Fotos und Dokumente individuelle Schicksale in den Vordergrund, etwa Privataufnahmen vom Kriegsgefangeneneinsatz in der Landwirtschaft (S. 154f.), Filmstandbilder von der Befreiung (S. 280f.), die Lebensverhältnisse des Gefängnisaufsehers Wanninger Anfang der 1950er-Jahre (S. 316f.) oder Besuche von Angehörigen ehemaliger Häftlinge bzw. Kriegsgefangenen. Das gilt auch für das Kapitel „Arbeitskommandos“, das mit seinem geographischen Bezug für Besucher aus der Region von besonderem Interesse sein dürfte.

Jedem Kapitel folgt eine etwa fünf Seiten umfassende, leicht verständliche Einordnung in den historischen Zusammenhang, die sich nicht nur auf der Höhe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes befindet, sondern auf auch auf Forschungslücken im Themenbereich „Kriegsgefangene“ aufmerksam macht. Forschung zu Sandbostel selbst fand und findet, wie anderenorts auch, freilich nur im Rahmen der regionalen Erinnerungskultur statt. An Universitäten sucht man solche Themen nahezu vergebens.

Schon 1991 hatten Werner Borgsen und Klaus Volland mit ihrer Monographie zum Stalag X B Sandbostel die erste größere Publikation zu einem Kriegsgefangenenlager überhaupt vorlegt1 und damit Maßstäbe gesetzt, vor allem, weil sie sehr stark die mündliche Überlieferung in ihre Darstellung einfließen ließen. Jetzt, 24 Jahre später, setzt dieser Katalog ähnliche Maßstäbe, und soweit in fernerer Zukunft andere Gedenkstätten finanziell dazu in der Lage sein sollten, eine Ausstellung nebst einem vergleichbaren Katalog zusammenzustellen, werden ihre Darstellungen an diesem Buch gemessen werden. Die Latte liegt hoch.

Anmerkung:
1 Werner Borgsen / Klaus Volland, Stalag X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland 1939–1945, Bremen 1991.

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