Fachpublikationen, die sich mit der Kulturpolitik des Theaters im Nationalsozialismus beschäftigen beziehungsweise deren Kontinuität davor und danach beschreiben, haben momentan Konjunktur.1 Dabei zeichnet sich seit einigen Jahren ein Generationenwechsel ab: Ausschlaggebend ist nicht mehr die Zeitzeugenschaft, stattdessen hat die quellenbasierte Forschung an Bedeutung gewonnen. Dies geschieht hier, nur um es vorwegzunehmen, durch die Historikerin Sabine Schneller in vorbildlicher Weise. Sie hat nicht nur das eigene Hausarchiv des Friedrichstadt-Palastes und die umfangreichen theatergeschichtlichen Sammlungen des Berliner Stadtmuseums und der Berliner Akademie der Künste genutzt, sondern auch die einschlägigen Quellen des Bundesarchivs, die Akten des Propagandaministeriums und der Reichstheaterkammer mit großem Gewinn ausgewertet. Das Literaturverzeichnis verrät zudem eine akribische Beschäftigung mit der einschlägigen Fachliteratur. Eine Differenzierung in allgemeine und speziell auf den Friedrichstadt-Palast bezogene Publikationen wäre dabei für diejenigen, die sich näher mit dem Thema beschäftigen wollen, hilfreich. Und um gleich bei den Desideraten zu bleiben: Eine solche anspruchsvolle Publikation ohne Register ist im höchsten Maße ärgerlich, zumal der BeBra Verlag kein E-Book anbietet, in dem man notfalls digital recherchieren könnte. Wie soll man bei späteren wissenschaftlichen Publikationen schnell auf den hier gesammelten Wissensschatz zurückgreifen können? Auch ein Inszenierungsverzeichnis des Großen Schauspielhauses, mindestens für diese beinahe zwölf Jahre, wäre als ergänzendes Hilfs- und Orientierungsmittel sinnvoll gewesen.
Positiv hervorzuheben ist aber das Engagement des Friedrichstadt-Palastes, vor allem von dessen Intendanten Bernd Schmidt und seinem Verwaltungsdirektor und Mitherausgeber Guido Herrmann, die zum 100-jährigen Jubiläum des Vorgängerbaus, des Großen Schauspielhauses am 29. November 1919, keine Jubelgeschichte in Auftrag gaben, sondern eine kritische Aufarbeitung der wechselhaften Geschichte dieser Institution wollten – und bekamen. Man darf gespannt sein auf die Folgebände dieser ambitionierten Reihe „Zur Geschichte des Friedrichstadt-Palastes“.
Die Vorgeschichte des Großen Schauspielhauses, das nur wenige Meter von dem Friedrichstadt-Palast, rechts vom Theater am Schiffbauerdamm, dem heutigen Berliner Ensemble, gestanden hat, wird kurz und prägnant geschildert: Der Umbau der ursprünglich nach Pariser Vorbild 1867 errichteten Markthallen in einen Zirkus, der Umbau dieses Gebäudes in einen modernen Ansprüchen genügenden Zirkus und schließlich die architektonische Großtat von Max Reinhardt und Hans Poelzig: die Konversion zur „Tropfsteinhöhle“, wie die Berliner ihr größtes Theater bald nannten.2 Eine umfassende Würdigung der Jahre 1919 bis 1933 wäre geboten und ist hoffentlich im Rahmen der Reihe vorgesehen. Schon die kurze Darstellung der Leistungen Max Reinhardts und dann vor allem Erik Charells am Großen Schauspielhaus machen da neugierig. Dass hier unter den Schöpfern eines „innovativen Theaters“ zwar die revolutionären Autoren Erwin Piscator, Bertolt Brecht, Ernst Toller und Arnolt Bronnen vorkommen, aber mit keinem Wort der gerade in den Anfangsjahren der Weimarer Republik maßgebliche Leopold Jessner genannt wird – lediglich sein Schauspielhaus am Gendarmenmarkt findet Erwähnung (S. 32) – ist sehr bedauerlich.
Die Zeit des Nationalsozialismus beginnt im Großen Schauspielhaus erst einmal gar nicht: Es ist und bleibt geschlossen. Das war eine Folge der komplizierten Eigentums- und Pachtverhältnisse: Reinhardt besaß mittels einer von ihm gegründeten und dominierten Nationaltheater AG das Große Schauspielhaus nur nominell – er war verschuldet. Die Pächter wiederum, die Brüder Alfred und Fritz Rotter, fielen kurz vor Hitlers Machtübernahme einer antisemitischen Hasskampagne zum Opfer. Anschaulich wird geschildert, mit welchen halblegalen Tricks sich der nationalsozialistische Machtapparat dieses größte Theater Berlins buchstäblich unter den Nagel riss (S. 50ff.). Die Gewinner waren Joseph Goebbels und Robert Ley: Goebbels als Propagandaminister war der Herr über alle Theater des Deutschen Reiches (mit Ausnahme der preußischen: die unterstanden dem preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring), und Ley als Führer der Nazi-Ersatz-Gewerkschaft Deutsche Arbeitsfront (DAF) stand für die nationalsozialistische Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF). Das Große Schauspielhaus wurde in „Theater des Volkes“ umbenannt und unterstand als Reichstheater direkt dem Propagandaministerium. So wurde es dem Einfluss Görings entzogen. Ley hatte sich die Immobilie angeeignet und versuchte auf den Spielplan einzuwirken: klassische Massenspektakel gegen arisiertes Revue-Theater. Zuletzt gewann Ley, da es schon zu demokratisch-liberalen Zeiten nur die große Ausstattungsrevue war, die hier Abend für Abend mehr als 3.000 Plätze füllen konnte. Dies wird von Sabine Schneller immer wieder klug und nachvollziehbar herausgearbeitet.
Zwei Personen stehen als Leiter im Zentrum der Darstellung: Walther Brügmann, von 1934 bis 1936 Intendant (S. 82ff.), und Rudolf Zindler (S. 181ff.), der dieses Amt von 1939 bis 1944 bekleidete. Beide hatten einiges gemeinsam: Sie waren Regisseure, also keine Dirigenten, sie hatten jeweils vor ihrer Berufung mit erfolgreichen Inszenierungen am Theater des Volkes gezeigt, dass sie ein so großes Haus auch dauerhaft füllen konnten – und beide waren vor 1933 eher dem linken Spektrum zuzuordnen. Nach der Vertreibung ihrer jüdischen Kolleg:innen nutzten sie die Chance aufzusteigen. Brügmann hatte in Frankfurt am Main und in Leipzig mit einem fortschrittlichen Spielplan, der Modernisierung des klassischen Repertoires wie auch mit Uraufführungen wie Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill und Bertolt Brecht nicht nur seine Könnerschaft, sondern auch seine Haltung bewiesen. 1933 wechselte er von Leipzig an das Münchner Staatstheater und inszenierte als Gast am Theater des Volkes mit großem Erfolg Alois Johannes Lippls „Die Pfingstorgel“. Eine Denunziation des ehrgeizigen Verwaltungsdirektors des Theaters brachte seine Abberufung und Inhaftierung. Schließlich verließ er Deutschland, um nach einigen Zwischenstationen in der Schweiz unterzukommen.
Auch Rudolf Zindler galt vor 1933 als linker, ja sogar als kommunistischer Regisseur. Noch 1932 wurde seine Inszenierung von Franz Schrekers „Der Schmied von Gent“ an der von Carl Ebert geführten Städtischen Oper Berlin aufgrund nationalsozialistischer Störungen nach nur fünf Aufführungen vom Spielplan genommen. Zindler trat aber bereits im Mai 1933 in die NSDAP ein und sicherte sich so seine berufliche Zukunft – zuerst an der Hamburger Oper. Wie Brügmann konnte auch Zindler 1938 mit einem Erfolgsstück, seiner Inszenierung der Operette „Das große Rennen“ von Giuseppe Pietri, reüssieren.
Immer wieder zieht sich wie ein roter Faden (oder wie ein Basso continuo) die Schwierigkeit durch die Darstellung, dieses Riesenhaus mit Publikum zu füllen. Ein Repertoirebetrieb, wie Brügmann es anfangs versuchte, ließ sich auf Dauer nicht halten: zu aufwändig im Auf- und Abbau der Dekorationen. Der Ensuite-Betrieb barg hingegen die Gefahr, dass man einen Flop nicht so ohne weiteres durch andere Erfolgsstücke ausgleichen konnte – hier musste jede Inszenierung ein Kassenschlager werden, oder das Theater geriet an seine Existenzgrenzen. Anschaulich belegt Schneller, wie mit der Zeit Zugstücke knapp wurden, an denen keine jüdischen Künstler:innen beteiligt waren. Man griff zur „Überschreibung“, in dem man die Texte jüdischer Librettisten durch die Texte nichtjüdischer Autor:innen ersetzte – oder man verschwieg schlicht die Autorschaft.
Ebenso bedrückend wie die Liste der nach 1933 vertriebenen Künstler:innen (S. 56) stellt sich auch die Schilderung der nach 1945 „munter weitermachenden“ Künstler:innen dar (S. 246ff.). Dies leuchtet als Anliegen der Herausgeber:innen eindrücklich durch: welch immensen Verlust die rigorose, menschenverachtende, ja menschenmordende Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten für das deutsche Kulturleben bedeutete und wie ungerührt man anschließend wieder anzuknüpfen versuchte an die große Zeit der Berliner Ausstattungsrevue. Theater als unmittelbar der Gegenwart zugehörige Kunstform ist da unerbittlich. Niemand vom Theater hatte die Chance, ihre oder seine „Werke“ für eine Zeit danach zu schaffen, diese Werke entstehen in der Zeit auf der Bühne. Und sie dienen immer auch der jeweiligen Reputation – die Ausnahmezeiten, während derer man im Theater die Hand auch beißt, die einen füttert (so Claus Peymann), sind sehr selten. Aber, und auch das hat das Theater immer wieder bewiesen: Es hat die Fähigkeit, auf eine bestimmte, theatralische Weise Kritik öffentlich zu artikulieren, der die jeweils Mächtigen hilflos-blind gegenüberstehen. Schneller hat nach solchen rudimentären Ansätzen einer widerständigen Wirkästhetik gesucht, zum Beispiel in der Beschreibung der Inszenierung des „Zigeunerbarons“ – und nichts gefunden (S. 214–217). Das große Unterhaltungstheater konnte vermutlich auch nicht der Ort dafür sein.
Kurz zusammengefasst: Die vorliegende Untersuchung des Großen Schauspielhauses in den Jahren 1933 bis 1945 ist eine Fakten-gesättigte, lohnende und lesenswerte Lektüre. Sie lässt eine Zeit der Bedrohung und Bedrängnis wiederaufstehen und berichtet vor dieser Folie anschaulich und nachvollziehbar von den Produktionsbedingungen des Unterhaltungstheaters, die von den Gesetzen des Unterhaltungsmarktes bestimmt wurden. Interessant, wie hier immer auch der Rechnungshof quasi als „Ersatzdramaturgie“ fungierte – von der Namensgebung (S. 67) bis hin zur Einschätzung des Spielplanes (S. 98). Dass darüber Fragen der Ästhetik, zum Beispiel des Bühnen- und Kostümbildes oder des musikalischen Materials, etwas zu kurz kommen, lässt sich verschmerzen: Dafür gibt es andere, fachwissenschaftliche Untersuchungen.
Anmerkungen:
1 Nur einige Beispiele: Jan Lazardzig, Wissenschaft aus Gefolgschaft. Der „Fall Knudsen“ und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Berlin 2023; Heidy Greco-Kaufmann / Tobias Hoffmann-Allenspach, Theaterpionier aus Leidenschaft. Oskar Eberle (1902–1956), Zürich 2024; Brigitte Dalinger / Veronika Zangl (Hrsg.), Theater unter NS-Herrschaft, Göttingen 2018.
2 Eine faszinierende digitale Rekonstruktion dieser Architekturikone unternahm Franziska Ritter im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft: Theatererbe erlebbar machen, https://digital.dthg.de/projekte/theatererbe-erlebbar-machen/ (15.04.2024).