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Titel
Die Geburt der Metropole. Städtische Räume und soziale Praktiken im mittelalterlichen Paris


Autor(en)
Oberste, Jörg
Reihe
Forum Mittelalter. Studien 12
Erschienen
Regensburg 2018: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Colin Arnaud, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Jörg Oberste ist nicht nur ein Experte für Klostergeschichte, sondern auch durch seine führende Rolle im Forscherverbund „Forum Mittelalter“ und im Graduiertenkolleg „Metropolität der Vormoderne“ ein aktiver Stadthistoriker. In seinem jüngst erschienenen Buch „Die Geburt der Metropole“ versucht er, Synergien zwischen seinen beiden Forschungsinteressen zu erzeugen, indem er die Rolle der (vor-)städtischen Klöster für die Urbanisierung von Paris im Mittelalter untersucht. Dabei nimmt er die gesamte Epoche in den Blick und spricht gleich mehrere Fragestellungen an: er rollt nicht nur die alte Frage der Regierbarkeit des juristisch und herrschaftlich zersplitterten Pariser Stadtraums neu auf („wem gehört Paris?“), sondern er will auch und vor allem die Dynamik der Großstadtwerdung von Paris fassen. Der Fokus auf die zahlreichen geistlichen Institutionen am Stadtrand erlaubt ihm eine Analyse der urbanen Expansion und Verdichtung von Paris, da die geistlichen Grundherrschaften sich vorwiegend im suburbanen Raum befanden und in großen Teilen für die Urbanisierung der Vorstädte verantwortlich waren. Darüber hinaus geht es um die Frage nach der Verwandlung von Paris von einer kleinen Residenzstadt hin zu einer europäischen Metropole. Denn die Entstehung zahlreicher vorstädtischer Klöster und Kirchen erhöhte das Prestige der Stadt und trug dazu bei, den metropolitanen Geltungsanspruch in Konkurrenz zu anderen Städten durchzusetzen. Neben den klassischen stadtgeschichtlichen Fragestellungen zur Urbanisierung stellt Oberste – wie der Titel des Buches bereits deutlich macht – die innovative Frage nach vormodernen Metropolenbildungen. Dabei adaptiert er den modernen Metropolenbegriff und definiert ihn durch „akkumulierte Standortvorteile“ in politischer, ökonomischer, sozialer oder kultureller Hinsicht, die „der betreffenden Stadt in der Wahrnehmung ihrer Bewohner und zeitgenössischer Beobachter im nationalen und internationalen Wettbewerb einen Platz unter den führenden urbanen Zentren ihrer Zeit zuweist“ (S. 28).

Das Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert, die sowohl thematisch wie auch methodisch eher für sich alleinstehen. Das Kapitel „Pariser Räume“ liest sich wie ein Forschungsüberblick zur räumlichen Verfassung und Entwicklung der Stadt Paris von der Antike bis zum 12. Jahrhundert (S. 37–103). Die Entfaltung der Sakraltopographie in der Merowingerzeit, insbesondere der Kirchengürtel um die Stadt, trug schon damals zur Metropolenbildung bei und legte die Grundlage für die Herausbildung von geistlichen Grundherrschaften wie etwa im Fall der Klöster Sainte-Geneviève und Saint-Germain-des-Prés. Obwohl die Normannenangriffe zu einem Rückzug vieler geistlicher Institutionen ins Innere der Stadt und zu einer Neuaufteilung der Grundherrschaft im Pariser Umland zwangen, konnten sich in der frühen Kapetingerzeit um die Stadt herum neue geistliche Institutionen mit grundherrschaftlichen Besitzungen wie Saint-Victor, die Templer oder Saint-Martin-des-Champs bilden. Oberste beschreibt zudem wie im Hochmittelalter neue, immer vielfältigere Räume bzw. Institutionen der Wirtschaft und der Macht seitens des Königs, des Bischofs und des Bürgertums gegründet wurden, und dass diese sowie die „Wissensräume“ der neuen Universität die Vorteile mit sich brachten, die schließlich zu einer Metropolenbildung führten.

Die Stadt wuchs, doch städtische Expansion war nur durch die Urbanisierung des von geistlichen Grundherren verwalteten Stadtrandes möglich. Dieses Phänomen beleuchtet der Autor exemplarisch mit einer umfassenden Studie zum Burgus von Saint-Martin-des-Champs zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert. Das umfangreiche Kapitel (S. 105–273) beruht auf einer akribischen Analyse von Urkunden, Steuerlisten, Besitzungsregistern, Gerichtsakten und Karten. Der Leser erfährt, wie das cluniazensische Priorat im Norden der Stadt ihren städtischen und vorstädtischen Grundbesitz in der Umgebung der Klosterimmunität ausbaute und dort eine Siedlung bzw. einen Burgus mit eigener Verwaltung aufbaute. Das Priorat hatte einen eigenen Justiz- und Polizeiapparat und erfasste seinen Grundbesitz in Zinsregistern (censiers). Die Grundherrschaft des Klosters ging aber weit über die eigene Vorstadt hinaus und beinhaltete zahlreiche Dörfer sowie einige Lehen bzw. Häuser im Pariser Stadtzentrum. Der Burgus selbst hatte für die Strafsachen erster Instanz einen Maire aus der heimischen Bevölkerung (S. 143). Die Konkurrenz zwischen grundherrschaftlicher, königlicher und bischöflicher Gerichtsbarkeit führte zu einer Professionalisierung der Justiz in der Hauptstadt (S. 144-155). Die Zusammenarbeit zwischen den Gerichtsstellen funktionierte erstaunlich effizient, die Überführungen von Fällen von einem Gericht zu einem anderen erfolgten im 14. Jahrhundert binnen weniger Stunden (S. 264). Der Burgus, der zum großen Teil extra muros lag, wurde zunächst größtenteils mit Eigenleuten zu landwirtschaftlichen Zwecken bevölkert. Erst ab dem späten 12. Jahrhundert folgte eine Boomphase der Bebauung: Zuzügler pachteten Baugrundstücke und verpflichteten sich, die neuen Häuser instand zu halten (S. 199). Die Immobilieneigentümer zahlten nur einen geringen, nicht veränderbaren Zins für den Grund und vermieteten meist die Häuser mit Gewinn. Um 1300 wohnte im Burgus von Saint-Martin nur ein Fünftel der Hausbesitzer im eigenen Haus (S. 210). Die Rue Saint-Martin etwa wurde immer dichter bebaut und auch die Pestwellen änderten nichts an dieser Dynamik, vor allem da eine neue Mauer ab 1356 den Großteil des Burgus schützte, was ihn für die städtische Bevölkerung attraktiver machte (S. 209–210). Die Bevölkerung des Burgus, die sich mehrheitlich im Kirchspiel von Saint-Nicolas-des-Champs befand, war genauso vielfältig wie in anderen Stadtteilen. Insbesondere im Bereich innerhalb der Mauer von Phillip II. wohnten Patrizier, Händler, Lombarden und andere Vertreter der städtischen Elite, die das Priorat und andere geistliche und karitative Institutionen reich beschenkten. Im Burgus waren aber ebenso Vertreter der handwerklichen Mittelschicht wie Goldschmiede und die ärmere Bevölkerung sowie – ebenso wie in der ganzen Stadt – viele Migranten anzutreffen.

Anstatt die politische und soziale Fragmentierung der französischen Hauptstadt zu betonen, beschreibt Oberste das Verschmelzen dieser metropolitanen Vielfalt in eine teils effektive, teils imaginierte Einheit. In den entrées royales ab dem 14. Jahrhundert sind die Menschen und Institutionen des Burgus Saint-Martin in der Inszenierung einer einheitlichen königlichen Hauptstadt gut integriert. Im letzten Kapitel wechselt der Autor noch einmal die Perspektive und analysiert in den Traktaten und Plänen die Herausbildung eines metropolitanen Pariser Mythos (S. 275–293). Nach dem Muster Roms (urbi et orbi) wird die Präeminenz der französischen Hauptstadt durch ihre Unvergleichlichkeit (Paris sans pair) oder durch den bildhaften Gedanken hervorgehoben, Paris sei keine Stadt, sondern eine Welt in sich (Lutetia non urbs, sed orbis). Der Pariser Metropolenmythos ist also keine Neubildung der Renaissance, sondern formierte sich bereits im 13. Jahrhundert in Schriften von ehemaligen Pariser Studenten und um 1300 in bürgerlichen, volkssprachlichen Traktaten (dits).

Während dieser letzte Teil die Geburt des Pariser Metropolenmythos überzeugend beleuchtet, ist die Argumentation der ersten zwei Kapitel zur Stadtentwicklung und zu Saint-Martin-des-Champs weniger plausibel, wenn es darum geht, das mittelalterliche Paris als Metropole darzustellen. Denn die Phänomene der (Sub-)Urbanisierung und der wachsenden Vielfalt werden zwar sehr detailliert analysiert, könnten aber ebenso für eine Stadt mit weniger metropolitanen Ansprüchen beobachtet werden. Auch die juristische Fragmentierung kam in kleineren Städten mit zahlreichen Immunitäten vor.1 Um zu verstehen, inwiefern die in Paris beobachteten Dynamiken für eine Metropole spezifisch sind, hätte der Autor als Kontrast mehr Vergleichsstudien zu anderen Städten miteinbeziehen können. Insgesamt geht das Buch sehr viele unterschiedliche Punkte an und ist dadurch an nahezu jede stadtgeschichtliche Forschungsdebatte anschlussfähig. Dies ist zugleich seine Stärke und seine Schwäche. Da der Autor auf ein Fazit verzichtet, formuliert er auch keine abschließende These, was angesichts der Heterogenität der einzelnen Kapitel und der besprochenen Themen nicht verwundert. Die Hauptbotschaft und die Argumentation des Autors bleiben somit vage. Für die vormoderne Metropolenforschung bietet der Band trotz des affirmativen Titels keine endgültigen Ergebnisse, sondern eher anfängliche, dafür aber höchst interessante Denkanstöße. Für die Urbanisierung Paris' und insbesondere der censive von Saint-Martin-des-Champs kann er hingegen als Standardwerk gelten.

Anmerkung:
1 Siehe für Bamberg: Claudia Esch, Zwischen Institution und Individuum. Bürgerliche Handlungsspielräume im mittelalterlichen Bamberg (Stadt und Region in der Vormoderne 4 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 23), Würzburg 2016.

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