Schulen spielen in der Wissenschaft eine wichtige Rolle. Zwar variiert ihr Aufkommen und Einfluss je nach Disziplin und historisch-sozialer Konstellation. Haben sie sich aber einmal in einer Disziplin etabliert, dann entscheidet ihr Spiel um Anerkennung und Ablehnung mit darüber, welche Erkenntnisse, Probleme, Fragen, Methoden, Episteme in einem Fach diskursfähig sind, was jeweils sag-, mess- und darstellbar ist. Wer die führenden Schulen einer Disziplin nicht kennt, wird deshalb kaum Gespür für ihre Fachkultur und ebenso wenig Einblick in die herrschenden personellen Konstellationen und Konflikte gewinnen.
Für die bundesrepublikanische Soziologie verspricht der von Joachim Fischer und Stephan Moebius edierte Band einen solchen Einblick, indem er über die „Denkschulen“ und die fachkulturell prägende „Multiparadigmatizität“ (S. 2) informiert. Wissenschaftsgeschichtlich ist der Band interessant, weil er eine Alternative zu Thomas Kuhns monoparadigmatischem Verlaufsmodell bietet und zugleich ein soziologisches Analyseinstrumentarium vorstellt, das für historisches Arbeiten geeignet ist.1 Schließlich wird in der Geschichtsschreibung der Begriff der Schule – „École des Annales“, „Göttinger Schule der Staatswissenschaften“, Münsteraner „Ritter-Schule“ etc. – häufig gebraucht, blieb bisher aber konzeptionell eher unterbelichtet. Umgekehrt bedürfen die meisten soziologischen Studien eines fachhistorischen Korrektivs, da sie oft von Mitgliedern der Schule selbst verfasst werden. Das gilt auch für diesen Sammelband, dessen seitenstarke Texte durchweg Forschende aus der Soziologie verfasst haben, die sich je einer bestimmten Denkschule dieser Disziplin widmen und ihr zur Hälfte auch selbst entstammen oder verpflichtet sind.
Eröffnet wird der Band mit einem thematischen Überblick der beiden Herausgeber, die auf systematisierende Weise über die verschiedenen Konzepte des soziologischen Theoriemarkts informieren. Hierbei schließen sie zunächst an Rudolf Stichweh an2, der Schule als eine Fortentwicklung der philosophischen Sekte – ein von der Eklektik abgegrenzter philosophischer Lehr und Lernzusammenhang – im späten 18. Jahrhundert verortet. Schulen sind demnach Produkte von Individualisierung und Professionalisierung der Lehre und konservieren zugleich ein vormodernes Moment: Im Unterschied zu Instituten, Fachgesellschaften, Forschungsverbünden etc. bilden Schulen keine Organisation und knüpfen Mitgliedschaft nicht an formale Bedingungen. Sie bilden stattdessen ein quasifamiliales generationsübergreifendes „protektives Sozialsystem“ mit starken emotiven Bindungen. So können in ihrem Binnenraum fragile Wissensnovationen formuliert und vor ätzender externer Kritik geschützt werden. Umgekehrt wirken sich Schulen dadurch oft retardierend auf die Wissensentwicklung aus. Zudem entstünden zwischen Lehrenden und Lernenden enorme Bindekräfte, die in Konflikten münden und bis zu einem „symbolischen Vatermord“ (oder Muttermord?) eskalieren können (S. 4, 6–8).
Wie bei Sammelbänden üblich, sind die hier versammelten Artikel qualitativ und inhaltlich heterogen. Der erste Artikel von Clemens Albrecht gilt der Frankfurter Schule. Der Autor geht davon aus, dass die Existenz von Schulen ein Merkmal „von Disziplinen mit horizontalem“ Erkenntnisfortschritt sei: Alternative Erklärungen würden für allgemein anerkannte Probleme entwickelt, ohne sie „als falsch oder richtig, als veraltet oder gültig“ (S. 15) hierarchisieren zu können. Ferner wiesen Schulen im Vergleich mit anderen „Sozialformen“ wie Großbetrieben, arbeitsteilige Forschungsteams oder Instituten ein höheres „Denkstrukturen fixierende[s] Potential“ (S. 16) auf. Das gelte auch für die Frankfurter Schule, die sich durch eine gelungene Verschränkung von ideell-persönlicher und generationeller Inklusion ausgezeichnet habe.
Lothar Peter widmet sich der kapitalismuskritischen, sozialistischen „Marburger Schule“ (1951–ca. 2000)3, der er selbst als Schüler entstammt. Er rekurriert auf das religionssoziologische Instrumentarium Max Webers und Edward Tiryakians, indem er die extraordinären „Leistungen von (manchmal charismatischen) Einzelpersönlichkeiten“ (S. 39) betont, die Schulen und Paradigmen begründen. Die „Marburger Schule“ verdanke sich gar einem „Dreigestirn“: Wolfgang Abendroth, sekundiert durch Werner Hoffmann, ergänzt durch Heinz Maus. Peter betont, dass das Paradigma dieser Schule keine Novation, sondern eine „Aktualisierung“ des Marxismus (S. 42) war, der aus dem „kollektiven Gedächtnis“ der Bundesrepublik verdrängt worden sei. Trotzdem sieht er hier eine Innovation, da sie gegen den „Mainstream“ artikuliert worden sei. Dass Peter diesem manichäischem Selbstbild der Schule folgt, verweist auf die starke Bindung der „quasi sakralen“ Lehre, wie er sie auch selbst als Merkmal von Schulen betont.
Stephan Moebius widmet sich einer weiteren, bis heute prägenden Formation in der Soziologie: der „Kölner Schule“ um René König.4 Da Soziologie im Dritten Reich ihre Autonomie verloren hatte, stand König, der noch im Zürcher Exil den Ruf nach Köln erhalten hatte, vor einem politischen wie disziplinären Neubeginn. Moebius betont die anfänglich breite Kooperationsbereitschaft unter den (männlichen) Inhabern der meist neu eingerichteten Soziologielehrstühlen. Erst Mitte der 1950er-Jahre konstatiert er die üblichen „feldspezifischen“ Kämpfe um „Definitions- und Repräsentationsmacht“ (S. 127). König habe Soziologie als eine „empirische Einzelwissenschaft“ profiliert, die der demokratischen Erneuerung der Nachkriegsgesellschaft dienen sollte. Diese Ausrichtung entsprach nach Moebius dem damaligen soziologischen Konsens – im Gegensatz zu Königs kritisch-positivistischen Fachverständnis, das sich von der Konkurrenz aus Frankfurt und Münster deutlich abhob. Als charismatischer Lehrer mit internationalen Kontakten zog König eine große Schülerschaft an und stieg zu einem der einflussreichsten Vertreter des Fachs auf. Als Leistung betont Moebius, dass König das Fach durch spezielle Soziologien differenziert, professionalisiert und entprovinzialisiert habe. Deshalb sei diese Schule eine „der bedeutendsten […] der deutschsprachigen Soziologie“ (S. 180) gewesen.
Zu einem ebenso emphatischen Urteil kommt Joachim Fischer in seiner Darstellung der „Philosophischen Anthropologie“ als „Theorie- und Forschungsprogramm“ der „deutschen Soziologie“ seit 1945. Der Artikel enthält eine kurze wissenschaftsgeschichtliche Einordnung und biographische Skizzen der Protagonisten dieser Schule inklusive ihrer prekären oder anrüchigen Karrieren nach 1933. Dass Helmut Schelsky, der in diesem Band auch als Kopf der Münsteraner Schule vorgestellt wird, unkommentiert der Philosophischen Anthropologie und diese selbst wiederum der Soziologie zugeschlagen wird, irritiert jedoch und ist begründungsbedürftig. Trotzdem bietet Fischer eine lesenswerte, konzise Zusammenfassung der Schlüsselmotive, -themen und -werke des komplexen Denkstils der Philosophischen Anthropologie von den 1920er- bis in die 1950er-Jahre. Dabei kommen auch die Spannungen zur Sprache, die aus divergierenden biographischen Erfahrungen, politischen und theoretischen Positionen resultierten. Das Motiv der Schulbildung bleibt jedoch etwas blass. Das ist bedauerlich, da die auffällige Agonalität der Protagonisten sicher einen aufschlussreichen Kontrastfall für den Schulbildungsvergleich geboten hätte.
Den „Konturen der Münsteraner Soziologie der 60er Jahre“ um Helmut Schelsky widmet sich Patrick Wöhrle. Gemessen an der Zahl ihrer Promovierenden, Habilitierenden und Berufenen gilt diese Schule als wichtigste des Fachs. Da sie aber sehr disparat war und Schelsky wenig Interesse an einer Schulgründung gezeigt habe, nutzt Wöhrle das Konzept eher zur Befragung seines Materials. Als Kernanliegen der Münsteraner Soziologie markiert Wöhrle die Funktion einer skeptischen Wirklichkeitskontrolle, die die Grenzen der „Verwissenschaftlichung von Praxis“ und nicht-intendierte Folgen sozialplanerischen Handelns reflektieren sollte (S. 264). Alltägliche Vorverständnisse sollten so unterlaufen und unterkomplexe Ordnungserwartungen vermieden werden – ein Denkstil, der in klarer Opposition zur Frankfurter Schule stand.
Einen von den übrigen Artikeln abweichenden Text hat Andrea Maurer zur „Erklärenden Soziologie“ beigesteuert. Auch wenn der Aufsatz ideengeschichtlich bis zur Schottischen Moralphilosophie zurückgeht, bietet er keine historische Reflexion seines Gegenstandes. Es handelt sich stattdessen um den Versuch, die besondere historische Leistungsfähigkeit dieses eigenen Ansatzes herauszustreichen, ohne dabei seine kontingente historisch-epistemologische Entwicklung zu beschreiben.
Robert Seyferts „Streifzüge durch Tausend Milieus“ bieten eine informative „Archäologie poststrukturalistischen Denkens in der westdeutschen Soziologie bis 1989“, die das Konzept der wissenschaftlichen Schule bewusst meidet. Denn unter dem Etikett Poststrukturalismus wird ein Denkstil beschrieben, der sich rhizomatisch in literarisch-akademischen Milieus verbreitet hat. Trotz der anfänglichen Offenheit von Intellektuellen wie Manfred Bierwisch, Helga Gallas, Jakob Taubes, Arnold Gehlen oder Theodor Adorno verhinderten die kritischen Lesarten Wolf Lepenies‘ und Jürgen Habermas‘ lange die akademische Anerkennung des Poststrukturalismus in Deutschland. Dadurch illustriert Seyfert zugleich die Bedeutung des „protektiven Sozialsystems“ (Stichweh) Schule für die Etablierung neuer Denkstile. In diesem Fall sorgte erst das intellektuelle Vakuum des Deutschen Herbstes 1977 für eine größere Rezeptionsbereitschaft.
Zum Abschluss des Bandes vermittelt Tanja Paulitz einen Einblick in „Feministische Soziologie, Gender Studies, Frauen- und Geschlechterforschung als Denkkollektiv“ (S. 373). Auch sie beschreibt einen Denkstil, der sich nicht einer Schule, sondern einer Bewegung verdankt. Paulitz beschreibt die „Frauenbewegung der 1970er Jahre“ und das dort entstehende „feministische politische Denken“ (S. 377) als Nukleus der feministischen Soziologie und der Gender Studies. Das übliche Narrativ, das bei der Frauengeschichte beginnt und den Gender Studies endet, lässt Paulitz nur als grobe Tendenz gelten. Paulitz nennt die Geschlechterforschung aufgrund ihres deessenzialisierenden Blicks einen radikalen Denkstil, der aufgrund seiner politischen und lebensweltlichen Implikationen antiintellektualistische, jüngst auch neurechte Ressentiments auf sich zieht. Deutlich wird, dass sich dieser Ansatz seit den 1990er-Jahren durch das Aufkommen von Queer Studies, von Themen wie Männlichkeit, Körper, Care und Intersektionalität immer weiter differenziert und auch in die Naturwissenschaften Einzug gehalten hat, sodass er Teil des unaufgeregten Forschungsalltags geworden ist.
Unter dem Begriff der Schule bietet der Band ein Theorieangebot, mit dem sich historisch spezifische Strukturen in der Wissenschaft analysieren lassen, die für die Wissensdynamiken bestimmter Disziplinen entscheidend sind. Da der Vergleich dem Konzept Schule inhärent ist, sollte dieses Potenzial für künftige Forschungen genutzt werden. Dabei wäre auch über den nationalen und disziplinären Tellerrand hinauszublicken. Da die hier behandelten soziologischen Schulen und Denkstile für die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik prägend waren, sollten sie auch entsprechend historisch eingelesen werden. Für beide Anliegen bietet der Band wichtige Anregungen.
Anmerkungen:
1 Ein Beispiel bietet der informative Sammelband: Wilhelm Bleek / Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999. Die Artikel rekurrieren, wenn überhaupt, nur zum Schluss auf das Konzept Schule.
2 Rudolf Stichweh, Zur Soziologie wissenschaftlicher Schulen, in: Bleek / Lietzmann, Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, S. 19–32.
3 Lothar Peter, Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte Probleme Akteure, Köln 2014.
4 Stephan Moebius, René König und die „Kölner Schule“. Eine soziologiegeschichtliche Annäherung, Wiesbaden 2015. Siehe dazu Fabian Links Rezension in H-Soz-Kult, 18.07.2016, https://www.hsozkult.de/review/id/reb-24029 (02.07.2021).