M. Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition

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Title
Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die "Gleichschaltung" der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens Hamburg (1933-1937)


Author(s)
Bois, Marcel
Series
Beiträge zur Geschichte der GEW
Published
Weinheim 2020: Beltz Juventa
Extent
217 S.
Price
€ 29,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jörg Berlin, Hamburg

Das Buch wurde in Folge geschichtspolitischer Auseinandersetzungen in der Hamburger Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Nachfolgeorganisation der „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“ (GdF), in Auftrag gegeben. Anschließend an einen Streit über den ehemaligen GEW-Vorsitzenden Max Traeger hatte der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer gemeinsam mit Hamburger Unterstützern gefordert, eine Tafel am Curiohaus, dem traditionsreichen Sitz der Hamburger Lehrerorganisation, zu entfernen. Auf der Tafel steht, die „Gleichschaltung“ der GdF 1933 sei „zwangsweise“ erfolgt. Ortmeyer verbreitete, dies sei eine in Stein gehauene „Geschichtslüge“. Tatsächlich sei die „Gleichschaltung“ freiwillig und unter großem Beifall vollzogen worden.1 Die gegenwärtigen Hamburger GEW-Vorsitzenden exponierten sich – anders als ihre Vorgänger – nicht gegen solche Behauptungen. Sie versuchen den Ausweg über die Formulierung eines – stets möglichen – „differenzierteren“ Tafeltextes.

Für eine entsprechende Untersuchung fiel die Wahl auf Marcel Bois, einen durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen ausgewiesenen Historiker. Er galt als unvoreingenommen, da er sich mit der Geschichte der GdF noch nicht beschäftigt hatte. Das Quellen- und Literaturverzeichnis seines Buches zeigt, wie breit der Autor seine Untersuchung anlegen konnte. Vor allem seine Hinweise auf die Mitgliederkartei des „Nationalsozialistischen Lehrerbundes“ (NSLB) im Berliner Bundesarchiv werden die weitere Forschung befruchten. Dies zeigen die Ergebnisse einer Stichprobe über die Daten des Eintritts Hamburger Lehrer in diese Organisation. Demnach waren trotz wiederholter Androhungen von Entlassungen vor der „Gleichschaltung“ am 27. 4.1933 keine 17 Prozent der Mitglieder der GdF in den NSLB eingetreten (S. 131ff.).

Der Autor gliedert seine Untersuchung im Wesentlichen in drei Teile. Auf die Darstellung des Forschungsstands und geschichtspolitischer Kontroversen der letzten beiden Jahrzehnte (S. 11–33) folgen Beschreibungen der GdF in der Weimarer Republik (S. 34–88) sowie während und nach der „Gleichschaltung“ am 27. April 1933 (S. 89–165). Am Ende des Buches greift Bois die Kontroverse um den GdF-Funktionär und späteren GEW-Vorsitzenden Max Traeger auf. Es geht speziell darum, ob dessen Treffen mit früheren Vorstandsmitgliedern der GdF während der NS-Zeit als Widerstand zu werten seien. Bois formuliert, dass „eine eindeutige Bewertung des vermeintlichen ‚Untergrundvorstands‘ schwer möglich“ sei und die Vorstandsmitglieder ebenso wie die einfachen Mitglieder „keine einheitliche Haltung zum Nationalsozialismus“ eingenommen hätten (S. 175 u. S. 183). Hier geht er auch auf GdF-Mitglieder ein, die sich am kommunistischen und sozialistischen Widerstand beteiligten.

Die rühmliche Geschichte der reformpädagogisch und linksliberal-sozialdemokratisch ausgerichteten GdF während der Weimarer Republik ist bereits gut erforscht,2 trotzdem lohnt die Lektüre der Darstellung durch Bois, da er dem bekannten Bild manche Details hinzufügt. Diese bieten jedoch auch Anlass zum genauen Nachlesen.

Der Autor nimmt beispielsweise (S. 81 f) die Rezension des Buches „Nationalpolitische Erziehung“ von Ernst Krieck am 25 Juni 1932 in der „Hamburger Lehrerzeitung“ (HLZ) durch ein führendes Mitglied der GdF, Ernst Matthewes, als Indiz für eine allgemeine „Sorglosigkeit“, eine Laxheit, gar eine unbewusste Anpassung der Hamburger Lehrer gegenüber dem Nationalsozialismus. Matthewes bezeichnete tatsächlich einige Gedanken Kriecks als begrüßenswert, etwa die Ablehnung der verschiedenen Typen des Gymnasiums und eines Unterrichts, der Stoff an Stoff reihe und es den Schülern überlasse, daraus ein Weltbild zu konstruieren. Zusammenfassend formuliert Matthewes jedoch, das Werk sei „vom Anfang bis zum Ende eine geistige Katastrophe“. Krieck drohe, die Pädagogik „auf die politischen Interessen des Nationalsozialismus“ zurechtzustutzen. In diesem Zusammenhang erscheint Bois´ Kritik an einer von ihm als politisch unheilvoll betrachteten Verwendung von Begriffen wie Nation, „Volk“ und „Gemeinschaft“ in einem Staat, der eben erst von der Monarchie zum „Volksstaat“ umgewandelt worden war, überspitzt. Eine Nähe zum Autoritarismus oder gar eine Anpassung an die NS-Ideologie ergab sich daraus nicht.

Problematischer ist im Zusammenhang mit der behaupteten „Sorglosigkeit“ eine selektive Quellenauswahl. Eine Heranziehung und ebenso ausführliche Behandlung von HLZ-Artikeln mit anderem Inhalt als die ausführliche Darstellung der Krieck-Rezension hätte die GdF in einem positiven Licht gezeigt. Der Lehrer Ludwig Jantzen veröffentlichte am 5. November 1932 in dem HLZ-Artikel „Die Schule im Dritten Reich“ eine grundsätzliche Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Er geißelte Militarismus, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Gewalt und Demokratiefeindlichkeit der Nazis. Um die Bedeutung dieses Artikels voll zu verstehen, ist außerdem zu bedenken, dass am Tag nach dem Erscheinen eine Reichstagswahl stattfand. Mit diesem und zahlreichen ähnlichen Artikeln bezog die GdF klar Stellung gegen den Nationalsozialismus. Der im Buchtitel verwendete Begriff „Anpassung“ passt demnach zumindest bis zu diesem Zeitpunkt nicht für deren politisch-pädagogische Stellungnahmen.

Wesentliche Etappen des Gleichschaltungsprozesses bei der GdF bis hin zur Abstimmung über eine korporative Eingliederung in den NSLB beschreibt Bois zutreffend: die „staatsautoritäre“ Ankündigung eines Zusammenschlusses aller deutschen Lehrerorganisationen durch den NSLB-Vorsitzenden Hans Schemm und den NS-Minister Bernhard Rust bei einer Tagung in Leipzig am 8./9. April 1933, die Einsetzung von „Gleichschaltungskommissaren“ für die einzelnen Organisationen, die Forderung, Vorsitz und Vorstände sowie Zeitungsredaktionen der Lehrervereinigungen mehrheitlich mit Nationalsozialisten zu besetzen. Bei folgenden Treffen von NS-Kommissar und GdF-Vorstand in Hamburg ging es unter den gegebenen Umständen nicht darum, ob die GdF sich gleichschalten lassen würde oder wollte, sondern nur um die Modalitäten der „Gleichschaltung“. Dazu drohten die Nazis im „Tageblatt“ in dem Artikel „Das Potsdam der Deutschen Erziehung“ vom 11. April 1933 öffentlich mit Gewalt: Die „radikale Gleichschaltung“ der Lehrer werde mit „revolutionärer Entschlossenheit“ durchgeführt. Wer sich dem entgegenstelle, werde „abgewürgt“, „überwalzt“ und „totgetreten“. Die ausführliche Darstellung solcher Androhungen und entsprechender Praktiken zeitgleich gegen andere Organisationen fehlt bei Bois. Sie hätte verständlich gemacht, warum Vertreter der GdF sich bereitfanden, mit einem von den Nazis oktroyierten, „staatsautoritär“ eingesetzten „Gleichschaltungskommissar“ die vom NSLB vorgegebenen Bedingungen abzumachen. Gewaltmaßnahmen erwähnt Bois, relativiert sie aber im Hinblick auf die GdF: „SA und SS“ mussten hier nicht „einmarschieren“ (S. 94).

Über die Treffen des GdF-Vorstands mit dem „Gleichschaltungskommissar“ in Hamburg sowie die parallelen internen Diskussionen im Vorstand ist wenig bekannt. Bois versucht diese Lücke durch eine Behandlung der „Gleichschaltung“ des Deutschen Lehrerverbandes (DLV) zu schließen. Er meint womöglich, dass die „Gleichschaltung“ des DLV für den Entscheidungsprozess, der in Hamburg der „Gleichschaltung“ vorherging, wichtiger war als der Terror in der Stadt. Klar gesagt wird dies nicht. Er formuliert: Nach „Gleichschaltung“ des DLV wurde es „für sein Hamburger Pendant schwer, die Unabhängigkeit zu bewahren“ (S. 105). Damit wird indirekt die zentrale Frage aufgeworfen, ob eine Bewahrung der Unabhängigkeit nur „schwer“ gewesen wäre oder als unmöglich anzusehen ist. Wie die GdF sich angesichts des von Bois nur allgemein benannten Terrors in der Stadt und im Reich gegen die oben genannten „staatsautoritären“ Anordnungen mit Aussicht auf Erfolg hätte zur Wehr setzen können, bleibt unklar. Bois schreibt: „Vielmehr spricht einiges dafür, dass der Vorstand von verschiedenen Seiten unter Druck gesetzt wurde.“ (S. 95) Das klingt nicht nach Ausweglosigkeit oder Zwang. Dass angedeutete Handlungsalternativen wie Rücktritt des Vorstands oder Versuch einer Selbstauflösung Probleme gelöst hätten, bleibt Spekulation.

In Hamburg erfolgte die „Gleichschaltung“ am 27. April 1933. Die Mitglieder stimmten einem korporativen Eintritt der GdF in den NSLB und der Umbesetzung der Ämter zu, wobei die Vermögenswerte den gegenwärtigen Mitgliedern verbleiben sollten. Am Vormittag war den Lehrern in Pausenkonferenzen nochmals das repressive NS-Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Erinnerung gerufen worden. Vor allem aber lasen die Hamburger im April 1933 nahezu täglich von Entlassungen und Terror im gesamten Reich und in der Stadt sowie von „Gleichschaltungen“ auf allen Ebenen der Gesellschaft. Leiter widerstrebender Organisationen und Betriebsräte wurden seit Anfang April gegebenenfalls mit brachialer Gewalt und Unterstützung der Polizei aus den Ämtern gejagt. Auf diesen „Anschauungsunterricht“ und die auch von offizieller Seite ständig wiederholten Drohungen, wer nicht Mitglied im NSLB sei und „rückhaltlos“ zum neuen Staat stehe, könne nicht Lehrer sein, hätte der Autor zielgerichteter eingehen können.

Vor einer hinreichend begründeten Entscheidung der Frage, ob die „Gleichschaltung“ der GdF „zwangsweise“ erfolgte oder die eingangs erwähnte Tafel eine „Geschichtslüge“ enthält, sind deshalb ergänzende Informationen über Auswirkungen des NS-Terrors auf die Mitgliedschaft der GdF bekannt zu machen. Dem Autor ist jedoch in seinem lesenswerten Werk insgesamt betrachtet aufgrund umfangreicher Studien eine weiterführende Beschreibung des Wirkens der GdF in der Endphase der Weimarer Republik und während des Gleichschaltungsprozesses im April 1933 gelungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Micha Brumlik / Benjamin Ortmeyer (Hrsg.), Max Traeger – kein Vorbild. Person, Funktion und Handeln im NS-Lehrerbund und in der Geschichte der GEW, Weinheim 2017, S. 28f.
2 Vgl. Hans-Peter de Lorent / Volker Ullrich (Hrsg.), „Der Traum von der freien Schule“. Schule und Schulpolitik in der Weimarer Republik, Hamburg 1988.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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