J. Ohlenroth: Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone

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Titel
Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone und die Aufarbeitung von NS-Unrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung für die Fortentwicklung der Strafrechtsdogmatik


Autor(en)
Ohlenroth, Juliane
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 112
Erschienen
Tübingen 2020: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XXII, 398 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edith Raim, München

Die Augsburger Doktorarbeit von Juliane Ohlenroth widmet sich einem kurzlebigen und vielgescholtenen Organ des Rechtswesens: Den Obersten Gerichtshof (OGH) für die Britische Zone gab es lediglich von Ende Mai 1948 bis Ende September 1950. Er diente in dieser Zeit als oberstes Revisionsgericht. Nun könnte schon die geringe Dauer, seine geografische Beschränkung auf den nordwestlichen Teil Deutschlands und die zeitlich begrenzte Anwendung des alliierten Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 10 einen Rückschluss auf einen geringen Einfluss nahelegen, doch zeigt Juliane Ohlenroth dessen nachhaltige Bedeutung für die Strafrechtsdogmatik, indem sie insbesondere dessen Rolle bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen analysiert.

Die Arbeit ist in drei Kapitel gegliedert: Zunächst gibt die Autorin einen Überblick über die Geschichte des Obersten Gerichtshofs vom Zeitpunkt seiner Errichtung bis zu seiner Auflösung. Neben dem zeithistorischen Hintergrund des Kriegsendes und dem durch die Schließung der Gerichte eingetretenen „Stillstand der Rechtspflege“ sowie dem Beginn der Ahndung von NS-Verbrechen durch alliierte und deutsche Gerichte werden kurze Biogramme der OGH-Richter vorgestellt. Als Besonderheit zählt, dass keiner der Richter eine NS-Belastung aufwies. Vom Standpunkt des Historikers hätten die Biogramme durchaus noch etwas vertieft werden können, weil aus Personalakten mehr in Erfahrung gebracht werden kann als durch die Verarbeitung der relevanten Literatur. Dieser Einwand wiegt aber nur gering, weil die Verfasserin als Juristin andere Ziele verfolgt.

Das zweite Kapitel befasst sich mit dem KRG Nr. 10 in der Rechtsprechung des OGH. Wie bekannt, taten sich die deutschen Juristen außerordentlich schwer mit der Anwendung des alliierten KRG Nr. 10. Zu vage schien das Gesetz hinsichtlich der Definition des Straftatbestandes, zu weit gefasst der Strafrahmen, und gänzlich umstritten war die Frage nach der Rückwirkung. Die Mehrheit der deutschen Juristen sah in dem Gesetz eine Verletzung des Rückwirkungsverbots und lehnte es deswegen ab. Viele von ihnen hielten das deutsche Strafrecht bei der Verfolgung von NS-Verbrechen für völlig ausreichend. Gegen diesen „Mainstream“ wandte sich der OGH, der sich als vehementer Verfechter des KRG Nr. 10 erwies, sich damit aber in laufende Auseinandersetzungen mit den Landgerichten begab. Der OGH berief sich einerseits auf das formale Argument, dass die Alliierten als Herrscher auch die Gesetzgebungskompetenz hatten, andererseits sei aufgrund des Naturrechts die rückwirkende Bestrafung ein Anliegen der Gerechtigkeit und für die Wiederherstellung der Rechtssicherheit zwingend nötig.

Im dritten Kapitel und eigentlichem Hauptteil untersucht die Autorin die Rechtsprechung des OGH zu ausgewählten NS-Verbrechen, darunter „Euthanasie“, Justizverbrechen, Denunziationen und den Straftaten während der „Reichspogromnacht“. Die Auswahl der Tatkomplexe ist exemplarisch: „Euthanasie“ wie auch Justizverbrechen wurden in lediglich einer Handvoll Prozesse geahndet. In der britischen Zone befand sich keine der sechs einschlägigen Tötungsanstalten der „Euthanasie“ der ersten Phase (die zwei in den westlichen Zonen gelegenen Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar waren in der französischen bzw. amerikanischen Zone, die anderen drei in der sowjetischen Zone, eine in Österreich), die Ärzte und Pfleger konnten daher lediglich wegen der Verlegung der Kranken in „Zwischenanstalten“ zur Rechenschaft gezogen werden, was Freisprüche begünstigte. Auch die Justizverbrechen waren eine außerordentlich rare Kategorie. Im Gegensatz dazu waren die Tatkomplexe Denunziation und Pogromverbrechen juristische Dutzendware, die in hunderten von Fällen zur Aburteilung kamen.

Der OGH wurde in nicht weniger als 583 Verfahren (mit 978 Angeklagten) nach KRG Nr. 10 als oberste Instanz angerufen, was einen außerordentlichen Geschäftsanfall bedeutete, wenn man bedenkt, dass auch noch andere Zivil- und Strafsachen zu verhandeln waren.

Verglichen mit dem späteren Justizbetrieb der Bundesrepublik Deutschland blieb der OGH eine Ausnahmeerscheinung: Er verfügte über Richter, die im Gegensatz zum Personal an den Landgerichten politisch unbelastet waren, und bemühte sich um die Wiederherstellung der Rechtseinheit, die aber aufgrund seines eingeschränkten Einflussbereiches unerreichbar bleiben musste. Der Konflikt um das KRG Nr. 10 führte zu einer weiteren Rechtszersplitterung sowohl in der britischen Zone als auch in ganz Deutschland. Die maßgebliche Auslegung des KRG Nr. 10 konnte keine Wirkungsmacht entfalten, da das Gesetz schon 1951 nicht mehr von deutschen Gerichten verwendet wurde. Juristische Fakultäten wie Landgerichte kritisierten die Rechtsprechung des OGH scharf. Juliane Ohlenroth vermag im Gegenzug darzulegen, dass die Schwurgerichte ihrerseits den Unrechtsgehalt der Taten beschönigten, die Täter begünstigten und die Anwendung des KRG Nr. 10 fast durchgehend sabotierten. Die Zeit war allerdings auf der Seite der Schwurgerichte, da der OGH schon bald nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ausgedient hatte. Die vom OGH erarbeiteten Grundsätze und seine Auslegung des Unmenschlichkeitsverbrechens fanden keinen Eingang in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Vielmehr wurde dort die Bearbeitung der diesbezüglichen Verfahren so lange verschleppt, bis Briten und Franzosen die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte aufhoben.

Zwar merkt auch die Verfasserin an, dass die dogmatischen Grundsätze des OGH von Kritikern leicht zu unterminieren waren. Doch der OGH fühlte sich einem Streben nach Gerechtigkeit verpflichtet, bei der die Ahndung von NS-Verbrechen eine zentrale Rolle spielte. Während Zeitgenossen am OGH kein gutes Haar ließen, wird mittlerweile der wegweisende Charakter seiner Rechtsprechung anerkannt. Juliane Ohlenroth hebt insbesondere die Fortentwicklung der Strafrechtsdogmatik als bleibendes Erbe des vielgeschmähten OGH hervor, ebenso seinen Beitrag zur Entwicklung des Völkerstrafrechts.

John Rawls hat in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ dargelegt, dass „Gerechtigkeit […] die erste Tugend sozialer Institutionen“ ist. Ebenso sind „die auf der Gerechtigkeit beruhenden Rechte […] kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessenabwägungen“.1 Der OGH war dieser Vorstellung von Gerechtigkeit sicherlich stärker verbunden als sein Nachfolger, der Bundesgerichtshof, als in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland „politische Verhandlungen“ und „soziale Interessenabwägungen“ zur Integration der Täter den juristischen Umgang mit den NS-Verbrechen bestimmten. Die gut lesbar geschriebene und stringent argumentierende Dissertation von Juliane Ohlenroth verhilft dem OGH zu einer späten Würdigung. Der Arbeit ist eine umfassende Rezeption zu wünschen.

Anmerkung:
1 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 19f.

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