S. Mecking (Hrsg.): Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland

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Titel
Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland.


Herausgeber
Mecking, Sabine
Reihe
Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung
Erschienen
Heidelberg 2020: Springer VS
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Malte Wenk, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

„Den Polizisten“ gibt es nicht. Uniformierte Polizisten verschiedener Dienstzweige teilen sich kaum mehr als die Dienstbezeichnung. Genauso wenig gibt es in der Bundesrepublik „die Polizei“. Vielmehr müsse man aufgrund der föderalen Organisation in der Bundesrepublik von Polizeien im Plural sprechen. Mit diesen einleuchtenden Gedanken leitet Sabine Mecking den von ihr herausgegebenen Sammelband ein. Der Band ist eine polizeigeschichtliche Darstellung, wobei Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte verstanden wird, da sich politischer und sozialer Wandel in der Polizeiarbeit widerspiegelt. Die sich parallel zur gesellschaftlichen Veränderung entwickelnde Polizeiarbeit soll dabei anhand des Protestes im öffentlichen Raum der Bundesrepublik Deutschland näher beleuchtet werden.

Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil behandelt den Wandel in der Gesellschaft, der Politik und der Polizei von der Ära Adenauer bis in die Gegenwart, der zweite die polizeilichen Handlungen, also die Taktiken, Herangehensweisen, aber auch die Mentalitäten der Polizisten und der Polizeien.

Der erste Beitrag stammt von Wolfgang Kraushaar, der sich mit Protesten in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik auseinandersetzt. Er weist darauf hin, dass Proteste in den 1950er-Jahren als „Störfaktor“ wahrgenommen wurden. Dennoch sei das Bild der „unpolitischen“ 1950er-Jahre ein Mythos, wie der Protest gegen die Wiederbewaffnung und die Streiks für mehr innerbetriebliche Mitbestimmung zeigen. Bundeskanzler Adenauer diffamierte die Zehn- bis Hunderttausenden Protestteilnehmer als „Vertreter der Straße“. Das Protestverhalten der 1950er unterschied sich erheblich von dem der späteren 1960er-Jahre. Anders als die Proteste der späten 1960er-Jahre entsprachen die von DGB und SPD organisierten Demonstrationen in den 1950er-Jahren konventionellen Formen des Straßenprotests. Gewaltsame Zusammenstöße seien deshalb nicht auf die militante Einstellung der Demonstrierenden zurückzuführen, sondern vielmehr auf die obrigkeitsstaatliche Grundeinstellung der Polizei und der politischen Kräfte.

Sabine Mecking spannt in ihrem Beitrag einen Bogen vom Aufbruch der außerparlamentarischen Opposition bis hin zu den Neuen Sozialen Bewegungen. Ende der 1960er-Jahre habe sich ein neuer Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache innerhalb der Bevölkerung durchgesetzt. Damit einher ging auch eine Zunahme des Protestgeschehens – mit regionalen und sektoralen Ungleichzeitigkeiten. Obwohl sich die Proteste der APO tief in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben, wurden sie von einer kleinen und sozial homogenen Gruppe aus der bürgerlichen Mittelschicht initiiert. In den 1970er-Jahren lasse sich im Vergleich dazu eine Zunahme von Bürgerinitiativen verzeichnen. Ein Prozess der „Fundamentaldemokratisierung“ kam in Gang, und die Neuen Sozialen Bewegungen erreichten in den 1980er-Jahren ihren maximalen Mobilisierungsgrad. Durch eine zunehmende Professionalisierung des Protestgeschehens wurden Demonstrationen in der Bevölkerung immer weniger als störend oder als Querulantentum wahrgenommen. Die „Ausnahmesituation“ des Protests wurde zur Selbstverständlichkeit, so Mecking.

Franz Decker diskutiert in seinem Beitrag den Populismus als neue Form des Protestes. Protest, so stellt er gleich zu Beginn fest, ist ein immanenter Bestandteil des Populismus. Dabei geht er im Weiteren auf mögliche Erklärungen für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien ein, wie zum Beispiel Protestwahl oder gesellschaftliche Modernisierungsprozesse. Eine vorhandene politisch rechtsgerichtete Einstellung könne als Protest in die Wahl einer rechten Partei münden. Unzufriedenheit werde so zu einem entscheidenden Faktor, um den wechselhaften Erfolg rechter Parteien in der Bundesrepublik zu erklären. Um Protestphänomene hervorbringen zu können, sei eine Initialzündung notwendig. Bei der AfD sei dies die Finanz- und Eurokrise gewesen, später – nach der Spaltung 2015 – die Migrationsthematik.

Jan-Ulrich Schröders Beitrag ist eine rechtshistorische Abhandlung über die Geschichte des Versammlungsrechts in der Bundesrepublik. Grundsätzlich sei das Versammlungsrecht in Deutschland stets Polizeirecht gewesen. Auch unter dem Grundgesetz habe zunächst die Gefahrenabwehr im Vordergrund gestanden, obwohl Versammlungsrecht auch Versammlungsfreiheit bedeute. Das Versammlungsrecht hatte bis 1949 keine lange Tradition. Vielmehr wurden Versammlungen seit dem 19. Jahrhundert als potenzielle Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betrachtet, die polizeirechtlich beherrscht werden mussten. In der Rechtsprechung wurden die überkommenen Ordnungsvorstellungen erst allmählich überwunden. Gesetzliche Änderungen, die das Versammlungsrecht betrafen, waren in der Geschichte der Bundesrepublik fast ausnahmslos Reaktionen auf konkrete Ereignisse. Sie waren aber keine reinen Sachzwänge, sondern stets politisch-ideologisch motiviert.

Der erste Beitrag des zweiten Teils stammt von Michael Sturm. Er befasst sich mit „Körperlichkeit“ als Kategorie der Polizei im Umgang mit Protesten. Das Selbstbild der Polizei habe dem eines gesunden Arztes entsprochen, der den ihm gegenüberstehenden „kranken“ Körper behandeln muss. Protestierende „Halbstarke“ konterkarierten das Idealbild des gesunden Polizeikörpers. Auch bei den Schwabinger Krawallen spielte dieser Aspekt eine große Rolle. Die Teilnehmer an den Krawallen brachten ihren Protest durch Lachen, Schreien, das Skandieren von Parolen, Singen, Tanzen und Sitzblockaden zum Ausdruck. Dieses für die Polizisten ungewohnte Verhalten wurde durch die Beteiligung von Frauen – die aus ihrem gesellschaftlichen Rollenverhalten ausbrachen – gesteigert und führte zu wütenden Reaktionen. Es sei bei diesen Protesten nicht nur um die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung gegangen, sondern auch um die symbolische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Körper- und Geschlechterbildern, so Sturm.

Lukas W. Petzold behandelt den Umgang der nordrhein-westfälischen Polizei mit den Studierendenprotesten. Bei der Polizei lasse sich eine erstaunliche Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen konstatieren. Dies sei auf einen Abschottungsprozess und Korpsgeist innerhalb der Polizei zurückzuführen. Der wichtigste Berührungspunkt zwischen Demonstranten und Polizei bei Protesten sei deren Anmeldung gewesen. Hierbei lasse sich festhalten, dass die Polizei versuchte, das Demonstrationsrecht der Studierenden so wenig wie möglich einzuschränken, gleichzeitig aber in juristischer Hinsicht Einfluss ausgeübt wurde. So wertete es die Polizei schon als Landesfriedensbruch, wenn sich ein Demonstrant nach polizeilicher Aufforderung nicht vom Demonstrationsort entfernte.

Klaus Weinhauer verbindet in seinem Beitrag Aspekte der beiden vorangegangenen Beiträge. Für das polizeiliche Verhalten sei „Männlichkeit“ eine wichtige Kategorie gewesen. Gegen Beat-Fans hätte die Polizei zwar nicht so hart durchgegriffen wie bei Demonstrationen, dennoch ließe sich auch in diesen Einsätzen ein patriarchalisches Denken feststellen und ein Wunsch der jungen Bereitschaftspolizisten, sich im Einsatz „zu beweisen“. „Forsches Einschreiten“ wurde als „männlicher“ angesehen als das „weibliche“ und „weiche“ Abwarten. Diese Faktoren verstärkten die autoritären und antikommunistischen Ordnungsvorstellungen. Dieses Männlichkeitsideal verband sich mit einem unter den Polizisten gepflegten Korpsgeist, der auch zu einer Abschottung gegenüber Vorgesetzten führte und eine „Einigkeit“ gegen die „feindliche Umwelt“ glorifizierte.

Zum Schluss befasst sich Udo Behrendes mit der Frage, ob man die Polizei – sozusagen als Erkenntnisgewinn aus der 70-jährigen Protestkultur – als „lernende Organisation“ bezeichnen könne. Auch der aktuelle Umgang mit Demonstrationen gründe auf das polizeiliche Erfahrungswissen, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sowie die Rechtsentwicklung von 1960 bis 1990. Nach wie vor sei es wichtig, bei aktuellen Problemlagen Parallelen zu vergangenen Protestereignissen zu ziehen und die daraus entstandenen Erfahrungen zu nutzen. Dies geschehe aber nicht immer. So sei es bedauerlich, wenn zum Beispiel nach gewaltsamen Demonstrationsverläufen wie beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 von „neuen Phänomenen“ gesprochen wird.

Der Sammelband zeigt sowohl den Wandel in der Polizei als auch bei den Protestierenden von Beginn der Bundesrepublik an. Besonders interessant sind die Verknüpfungen zur Körper- und Geschlechtergeschichte im zweiten Teil des Bandes. Sie zeigen, wie überaus fruchtbar eine polizeigeschichtliche Annäherung an zeithistorische Themen sein kann. Sabine Mecking selbst nennt die Beiträge im zweiten Teil „schlaglichtartig“. Das sind sie wohl, was aber vor allem daran liegen mag, dass Polizeigeschichte in der deutschen Geschichtsschreibung leider immer noch ein gern übersehenes Feld ist. Umso lobenswerter ist die Leistung des Sammelbandes, die Protestgeschichte der Bundesrepublik als Polizeigeschichte zu erzählen.

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